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Leo Trotzki

Auf dem Weg zur zweiten Duma


Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.


V

Wie weiter oben gesagt, würden wir mit der ersten Argumentationsweise als Verteidiger der Kadetten auftreten, mit der zweiten – als ihr Entlarver. Natürlich will ich dem Genossen Plechanow damit keineswegs die Empfehlung unterschieben, wir sollten uns mit den Kadetten identifizieren oder auch nur ihre Fehler alle verschweigen. Wird doch auch der Verteidiger nicht mit dem Angeklagten identifiziert und leugnet nicht dessen Verbrechen; er verteidigt ihn nur und hebt grundsätzlich seine guten Seiten und die mildernden Umstände hervor.

Auf eine kurze Formel gebracht, könnte die Agitation in der ersten Argumentationsweise folgendermaßen vor sich gehen: Obwohl der Kandidat NN als Kadett tausend Fehler aufweist, hat er mit all diesen Fehlern sowohl als oppositioneller Politiker wie auch als Streiter für „Land und Freiheit“ die Qualitäten, das Volk in der Reichsduma zu vertreten.

Die zweite Formel wäre: Obwohl der Kandidat NN als Kadett tausend Qualitäten hat, ist er trotz all dieser Qualitäten völlig unbrauchbar für den Kampf um „Land und Freiheit“ – und um euch das zu beweisen, helfen wir euch, ihn in die Reichsduma zu entsenden.

In diesem Unterschied liegt eine ganze Welt politischer Agitation.

Man kann hier einwenden, dass man die „Tauglichkeit“ bzw. „Untauglichkeit“ eines Kadetten zur Erfüllung revolutionärer Aufgaben nicht absolut erfassen könne; heute noch untauglich, würden sie morgen tauglich sein unter dem Einfluss von Verpflichtungen, denen sie unwissentlich entgegengingen. Das ist ganz richtig. Ich denke jedoch, dass gerade die Agitation des zweiten Typs in höchstem Maße der revolutionären Umformung der entwicklungsfähigen Elemente in der konstitutionell-demokratischen Partei förderlich sein wird.

Ich möchte hier noch einmal wiederholen, worauf zu beharren ich nie müde werde: Man darf nicht die marxistische Analyse mit der sozialdemokratischen Agitation gleichsetzen. Es kann zwischen ihnen kein Widerspruch bestehen – sie sind jedoch nicht ein und dasselbe; sie verhalten sich zueinander wie die Naturwissenschaft zu ihrer technischen Anwendung, wie die Theorie zur Praxis. Die objektive Analyse der gesellschaftlich-historischen Verhältnisse mag uns vielleicht sogar zu der Schlussfolgerung zwingen, dass der Sieg der demokratischen Nation die Diktatur der Kadetten bedeute; als Sozialdemokraten jedoch werden wir zur Beschleunigung des Prozesses einer künftigen bürgerlich-demokratischen Diktatur und zur Vertiefung ihres sozialen Inhalts am meisten beitragen, wenn wir jetzt erbarmungslos die völlige Untauglichkeit der kadettischen Partei für die Rolle des politischen Führers der revolutionären Nation aufdecken. Das ist die Dialektik der Politik!

Die bürgerliche Revolution unterstützen heißt, sie auf den Weg der Revolution stoßen ...

Retsch antwortet darauf folgendermaßen:

„Uns zu unterstützen, erlauben wir euch gerne; eurer Doktrin zuliebe erlauben wir euch sogar, uns bürgerliche Demokratie zu nennen. Aber uns zu stoßen – das, ihr müsst schon entschuldigen, erlauben wir euch keinesfalls!“

In der Nummer vom 15. November steht buchstäblich das Folgende geschrieben:

„Dieses Bestreben der Sozialdemokratie („die ganze bürgerliche Demokratie auf den Weg der Revolution zu stoßen und aus der Duma in ihrer Gesamtheit ein Werkzeug der Revolution zu machen“) muss auf den schärfsten und entschlossensten Widerstand dieser „bürgerlichen Demokratie“ treffen, sogar auch jenes Teils der „bürgerlichen Demokratie“, der für ein Abkommen eintritt. ... Es ist unbedingt notwendig, ein für allemal festzustellen, dass es der Sozialdemokratie nicht gelingen wird, die „bürgerliche Demokratie“ und die Duma, wohin auch immer, zu treiben. Die „bürgerliche Demokratie“ geht in die Duma, um legislativ tätig zu sein.“ [D]

Trotz der ganzen Komik dieses Tons der adeligen Dame aus der Provinz, die um eines „Übereinkommens“ mit dem Proletariat willen dritter Klasse fährt, aber beständig fordert, dass man sie, bitte, nicht stoßen möge, trotz aller kindlichen Naivität des kadettischen Denkens, wie sie sich hier zeigt, sind die angeführten Zeilen ungemein lehrreich und veranlassen sozusagen zu tiefem Nachdenken.

Die Sozialdemokratie hat sich entschlossen, bei den Wahlen in bestimmten Fällen kadettische Kandidaturen zu unterstützen. Das Organ der kadettischen Partei wendet sich daraufhin an uns und sagt: „Ihr wollt für die Konstituierende Versammlung kämpfen? Das ist reine Utopie. Wir verzichten ein für alle Mal auf diese Losung.“ [E] Ihr wollt die Duma in ein Organ des revolutionären Kampfes verwandeln? Rechnet nicht auf unsere Hilfe; wir werden legislativ tätig sein.

Die Zeitung des Herrn Miljukow ereifert sich ganz besonders, auf dass kein „Missverständnis“ entstehe, sie gerät in große innere Unruhe und besteht darauf, dass man das den Sozialdemokraten sehr klar und kategorisch zu verstehen gebe. Beinahe in jeder Nummer bringt die verehrungswürdige Zeitung die dornenreiche Frage erneut aufs Tapet: Auf der einen Seite die Vorteile eines „Übereinkommens“, auf der anderen die Perspektive unhöflicher Püffe. Wenn man jedoch auf ein Übereinkommen verzichtete, würde dann die Sozialdemokratie auch auf ihre revolutionären Absichten verzichten? „Aber wir werden es ihnen beharrlich und entschieden zu verstehen geben“, ermutigen sich die Kadetten gegenseitig. „Ach, werden sie verstehen wollen?“ ertönt als wehmütiges Echo die Stimme der Frau Kuskowa im Towarischtsch.

Dieser gute und uneigennützige Towarischtsch zweier Parteien – er zerreißt sich beinahe in Stücke, um den Block auf einem Silbertablett zu präsentieren. Die Frage sei im Grunde ganz einfach, versichert die Zeitung: Wer für die Konstitution sei, der komme auf die linke Seite in den großen Koalitionssack, wer für die Wasserklosettfabrik Lidwal sei, nach rechts. Natürlich würden alle dabei im großen Sack des Blocks ihre volle Selbständigkeit bewahren. Es sei wahr, die Sozialdemokraten drohten mit Stößen; betrachte man diese Frage jedoch im Lichte realistischer Politik, so seien die Sozialdemokraten im Grund doch deshalb mit in den Sack aufgenommen worden, dass sie die Stöße selbst nicht allzu bequem austeilen könnten. Sie würden das schließlich auch selbst verstehen müssen. – „Ach, ob sie das wirklich verstehen werden?“ härmt sich Frau Kuskowa auf ihrem Zweiglein.

Wir wollen diesen Herrschaften nach Kräften offene und beruhigende Aufklärung geben. Die Sozialdemokratie wäre höchst naiv, wollte sie ihre Perspektiven auf den offiziellen Erklärungen anderer Parteien aufbauen. Wir bewahren die klassischen Worte unseres alten Marx sehr wohl im Gedächtnis, dass man das Wesen einer Partei so wenig nach ihren Deklarationen beurteilen könne wie den Charakter eines Menschen danach, was er sich selbst dünkt. [a] Die Erklärungen der Kadetten mögen standfest, kategorisch und völlig offenherzig sein, sie können jedoch in keiner Weise als objektives Material zur Bestimmung ihrer Taktik dienen. Im Oktober 1905 forderten die Kadetten die Konstituierende Versammlung und schworen, all ihr Gewicht in die Waagschale der Revolution zu werfen. Vor den Wahlen verpflichteten sie sich, keine „systemkonforme“ Arbeit zu leisten. Nach ihrem Eintritt in die Duma entschlossen sie sich, verharrend auf streng „konstitutionellem“ Rechtsboden, allein „legislativ tätig zu sein“. Nach der Sprengung der Duma veröffentlichten sie den Wyborger Aufruf, der gleichwohl die Paragraphen des oktroyierten „konstitutionellen“ Rechts in keiner Weise in Frage stellte. Danach distanzierten sie sich wieder von dem Wyborger Aufruf, ohne allerdings die oben genannten Paragraphen abzulehnen. Jetzt verzichten sie auf die Konstituierende Versammlung und schieben die Waagschale der Revolution von sich: Sie wollen erneut legislativ tätig sein.

Offensichtlich sind all diese Manöver und Manipulationen, die unserem vulgären Blick wie das Umherirren politischer Schildbürger zwischen drei Kiefern erscheinen, in Wirklichkeit von hohen staatsmännischen Überlegungen diktiert. Da wir diese hohen staatsmännischen Überlegungen, wie Frau Kuskowa ganz richtig ahnt, jedoch niemals verstehen werden, können wir unsere Politik nicht darauf abstimmen. Sind aber in solchen Fällen Übereinkommen möglich? Gewiss – denn wir ziehen nur jene revolutionäre Situation in Betracht, die sich aus der Existenz der Duma selbst ergeben wird, nicht jedoch die subjektiven Pläne kadettischer Deputierter. Das soll keineswegs heißen, dass die augenblicklichen Pläne der Kadetten für uns uninteressant wären: Wenn auch die Meinung eines Menschen von sich selbst seinen Charakter nicht bestimmt, so bildet sie doch einen wichtigen Bestandteil gerade dieses Charakters. Ebenso verhält es sich auch mit den Deklarationen einer Partei; wir müssen grundsätzlich immer die Worte der Kadetten ihren Taten gegenüberstellen – in den Fällen, in denen sie mehr versprechen, als sie erfüllen, und in den Fällen, in denen sie gezwungen sind, weiter zu gehen, als sie eigentlich wollten. Wir werden während der Wahlen von den Kadetten fordern, deutlich und klar auszuweisen, was sie zu tun beabsichtigen und auf welche Weise sie zu handeln gedenken, und wir werden ihre Antworten im Gedächtnis der Wähler festhalten. Zum notwendigen Zeitpunkt werden wir alle Widersprüche aufzudecken und alle Konsequenzen zu ziehen wissen.

Sind jedoch Wahlübereinkommen mit den Kadetten für uns überhaupt möglich, wenn sie von vornherein durch die Federn ihrer Publizisten erklären, das Ziel solcher Übereinkommen, nämlich die bürgerliche Demokratie auf den Weg des revolutionären Kampfes zu treiben, werde auf ihrer Seite entschiedenem Widerstand begegnen?

Sie sind nicht nur möglich, sie sind sogar obligatorisch. Glauben wir denn, auf dem Weg über das Bewusstsein der bürgerlichen Publizisten Einfluss auf die Politik der Demokratie nehmen zu können? Oder stellen wir uns die Aufgabe, die kadettischen Deputierten in der Duma von einer anderen Meinung zu überzeugen und sie mit Logik, Überredungskunst, Takt und tausend anderen Fähigkeiten in das Lager der Revolution zu ziehen?

Hoffnungen und Pläne dieser Art wären lachhaft. Wir würden dann unsererseits gegenüber den Kadetten jene klägliche Taktik anwenden, mit der sie selbst so viele Male versucht haben, die Regierung auf den Weg des Liberalismus zu ziehen.

Nein, wir gründen unsere Taktik auf die objektive Logik der Ereignisse. Der naive und doch – in seiner Spontaneität und Massenhaftigkeit – gewaltige proletarische Aufstand vom 9. Januar, nicht jedoch unsere Überzeugungskraft veranlasste die bürgerliche Demokratie, die Losung der Konstituierenden Versammlung und des allgemeinen Wahlrechts aufzunehmen. Es war der Oktoberstreik, der die damals im Entstehungsprozess befindliche konstitutionell-demokratische Partei zum Treueschwur auf die Revolution veranlasste, und es war die Sprengung der Duma, nicht jedoch unsere Überredungskunst, die die Kadetten dazu veranlasste, den Wyborger Aufruf zu verfassen und zu unterzeichnen.

Aber später distanzierten sie sich doch von all diesen Losungen, Schwüren und Aufrufen! Trugen sie doch das ganze Gepäck ihres politischen Philistertums ohne einen Kratzer durch alle Prüfungen! Wo ist da Grund zu hoffen, dass ein neuer Zusammenbruch sie kurieren würde?

Und wen unter ihnen? Die Herren Miljukow, Petrunkewitsch oder Roditschew? Besteht unsere Arbeit etwa in der Umerziehung liberaler Politiker? Nein, sie beschränkt sich darauf, die von den Kadetten mobilisierten gesellschaftlichen Gruppen vorwärts zu stoßen, indem man sich auf die kadettischen Eroberungen in den rückständigen Schichten des Kleinbürgertums stützt, und die liberalen Führer damit auf andere, noch rückständigere und konservativere Schichten zurückzudrängen. Die Miljukows und Petrunkewitschs ändern sich nicht – aber erhalten sie vielleicht ihre Armee in unverändertem Bestand? Spielte der Wyborger Aufruf – seine Anerkennung wie die Lossage von ihm – etwa nicht die Rolle eines antikadettischen Impfstoffs, den die Kadetten selbst zubereitet hatten? Welche Bedeutung kann denn die Tatsache für uns haben, dass die Kadetten sich gegen die Verwandlung der Duma in eine Waffe der Revolution zu stellen drohen? Es genügt der Hinweis, dass bestimmte soziale Elemente, auf die die Revolution allen Anspruch hat, noch unter kadettischem Einfluss stehen. Wir müssen ihr helfen, diese Ansprüche zu realisieren. Wo den Kadetten reaktionäre Kandidaten gegenüberstehen werden und wo die Entscheidung von uns abhängt, da werden wir unsere Stimmzettel in die kadettischen Urnen werfen und die Kadetten mit ruhigem sozialistischem Gewissen ihrem Schicksal entgegenschicken.

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Anmerkungen

D. Kursiv von der Zeitung selbst, da sie sich anschickt, legislativ tätig zu sein.

E. Im gleichen Artikel.

a. K. Marx, Vorwort, Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859).


Zuletzt aktualiziert am 13. November 2024