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Nach Schriften zur revolutionären Organisation, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 149–180.
Unsere Einstellung zu den Wahlübereinkommen, wie wir sie verteidigen, schließt per se die Möglichkeit einer, wie auch immer gearteten gemeinsamen Wahlplattform mit anderen Parteien oder entsprechender gemeinsamer, speziell für ein Wahlübereinkommen aufgestellter Wahllosungen aus. Den Versuch des Genossen Plechanow,beiden Parteien als Einigungsformel die Losung einer „omnipotenten Duma“ vorzuschlagen, halten wir für ein totgeborenes Kind. Die erbarmungsloseste Kritik des Plechanowschen Vorschlags allerdings stammt von der Zeitung Retsch – dem Zentralorgan eben jener Partei, für die sich Plechanow mit der Bildung seiner „algebraischen Formel“ bemühte. Die Zeitung schreibt völlig zu Recht: „Können wir – und darin liegt das ganze Problem – mit einem algebraischen Zeichen operieren, hinter dem sich zwei einander ausschließende arithmetische Größen verbergen?“ Retsch verneint diese Frage. Es ist richtig, seinerzeit hatte die „ambivalente“ Losung der Konstituierenden Versammlung einigende Wirkung. Der Kern des Problems jedoch ist, dass ihre Ambivalenz von keiner Seite beabsichtigt war; die ganze weitere Agitation enthüllte jedoch diese Ambivalenz und brachte die Kadetten dazu, sich von der Formel selbst zu distanzieren.
Jetzt schlägt der Genosse Plechanow vor, künstlich und im Bewusstsein ihrer offensichtlichen Ambivalenz die Losung der „omnipotenten Duma“ aufzustellen. Worin würde denn eine Agitation mit dieser Losung inhaltlich bestehen? In dem Versuch, diese Ambivalenz zu verbergen und damit die künstlich aufgestellte Fiktion einer einheitlichen Losung zu stützen? Oder in seinem Gegenteil, nämlich in der Aufdeckung dieser Widersprüchlichkeit, sobald sie im politischen Kampf erscheint? Bislang hatten wir in unserer Agitation die Gewohnheit, Ambivalenzen aufzudecken, nicht jedoch sie zu schaffen. Die Partei hat ganz und gar keinen Grund, mit dieser Gewohnheit zu brechen.
Retsch ist im Grunde nicht gegen die Ambivalenz als solche (was geschähe mit dem liberalen Denken, wenn es sich nicht mehr aus ambivalenten Formeln und Wendungen speisen könnte!), o nein, Retsch ist deshalb gegen besagte Formel, weil ihre innere Widersprüchlichkeit zu durchsichtig und sie durch die Revolution schon zu sehr kompromittiert ist. Die Zeitung schreibt:
„Die „omnipotente Duma“ – diese Losung wurde schon einmal von einer Partei benutzt, und zwar im Widerspruch zu dem Verständnis der Aufgaben der Duma, wie es die Partei der Volksfreiheit besitzt. Und es war obendrein gerade die Propagierung der Idee der omnipotenten Duma, die als Vorwand der Sprengung der Duma einen gewissen äußeren Schein von Berechtigung gab. Wenn daher vom Standpunkt der Partei der Volksfreiheit aus irgendeine Losung existiert, die – weil nicht nur ambivalent, sondern sogar äußerst gefährlich – nicht angewendet werden darf, dann ist das vor allem die Losung der „omnipotenten Duma“.“
Retsch seinerseits schlägt eine Einigungsplattform vor, die einmalig ist in ihrer heiligen Einfalt:
Mit anderen Worten, der gute und gescheite Retsch schlägt uns eine Taktik vor, bei der nur noch zu fragen bliebe: Wie würden wir denn handeln, wenn wir einfach Kadetten würden? Gerade so, wie es Retsch empfiehlt: Wir würden alle aufrufen, für die Kadetten zu stimmen, und wir würden ein kadettisches Ministerium fordern. Da wir jedoch das neue Russland nicht aus dem Portefeuille des Herrn Miljukow zu ziehen hoffen, da unserer Meinung nach für die Säuberung des autokratischen Augiasstalls, dessen Insassen noch nicht entfernt worden sind, etwas mehr nötig sein wird als fünf oder sechs zur Macht „berufene“ liberale Biedermänner, und da wir darüber hinaus noch einige Verpflichtungen gegenüber dem Proletariat haben, die niemand für uns erfüllen kann – deshalb sind wir gezwungen, mit aller Ehrerbietung die uns vorgeschlagene Verwandlung in einen Arbeiterchor hinter kadettischen Solisten auszuschlagen.
Aus den Überlegungen des Retsch ergeben sich in jedem Falle zwei Konsequenzen. Die erste haben wir aus anderem Anlass bereits weiter oben formuliert: Die Sozialdemokratie entlarvt die Liberalen anhand der Inkonsequenz ihres Liberalismus, anhand der Inkongruenz ihrer Taktik und ihres eigenen demokratischen oder halb demokratischen Programms. Die Liberalen werfen uns unentwegt vor, dass wir mit unserer Taktik auf dem Boden des Klassenkampfes stünden, dass wir revolutionäre Sozialisten seien, dass wir keine Liberalen bzw. dass wir nicht schlechte Liberale seien, dass wir nicht das Ebenbild unserer Kritiker und Gegner darstellen. Wir fordern von den Liberalen, sie sollten sich selbst gegenüber aufrichtig sein; die Liberalen verlangen von uns, dass wir uns in unser Gegenteil verwandeln. Deshalb erhält die sozialistische Kritik moralische Unterstützung und ist praktisch wirksam, während die vom Liberalismus geübte Kritik in gegenstandslose Jeremiaden zerfließt, und deshalb zieht die sozialistische Kritik dem Liberalismus überall, bei jedem Schritt, den Boden unter den Füßen weg.
Die zweite Konsequenz steht mit der ersten in engem Zusammenhang: Angesichts des verschärften vielgestaltigen und komplizierten Kampfes zwischen sozialer Demokratie und bürgerlicher Demokratie wäre der Traum von der Errichtung eines „paradiesischen Friedens“ zwischen ihnen während der Periode der Wahlen naiv, und es wäre noch naiver zu glauben, man könne diesen Frieden über ambivalente Formeln und verbale Umgehungsmanöver erreichen. Der Liberalismus hält sich wie die Quecksilbersäule des Barometers lediglich unter äußerem Druck auf einer bestimmten Höhe – unter dem Druck der revolutionären Massen. Wir können auf den Liberalismus nur insoweit Einfluss nehmen, als wir die Massen beeinflussen können. Wenn wir damit anfangen, zwischen revolutionären und liberalen Losungen hin und her zu lavieren und temporären Stimmungen der bürgerlichen Demokratie entsprechend die einen mit den anderen zu vertauschen, wenn wir in jene pseudorealistische Politik eintreten, die in Wahrheit nichts anderes ist denn kläglicher Impressionismus, dann tragen wir lediglich Verwirrung in das Bewusstsein der Massen und unterstützen den eitlen Snobismus und die Sterilität des Liberalismus – Sterilität gegenüber dem Absolutismus, anspruchsvollen Snobismus uns gegenüber. Gehen wir morgen einen Schritt in Richtung Liberalismus, so wird der Liberalismus unvermeidlich zwei Schritte auf die Reaktion zu machen, und zu guter Letzt ist er weiter von uns entfernt als gestern. Noch vor ganz kurzer Zeit träumten die Liberalen von einem Übereinkommen ohne alle Bedingungen und Einschränkungen, jetzt, nachdem die Frage eines Übereinkommens mit den Kadetten einen unverhältnismäßig großen Stellenwert in unserer aktuellen Parteipolitik bekommen hat, nachdem begonnen wurde, aus unserer Mitte heraus Einigungsformeln zu entwickeln, die die rein technischen Übereinkommen tendenziell in einen politischen Block verwandeln könnten, gehen uns die Kadetten nicht nur nicht entgegen und begrüßen diese Entwicklung in keiner Weise, sie schrauben im Gegenteil ihre Ansprüche in solche Höhen, dass sogar Frau Kuskowa all ihre Geduld verlor: Wie es scheint, nährt unser übergroßes „Feingefühl“ die Taktlosigkeit der Kadetten. Sie sagen uns: Ihr wollt ein Übereinkommen? Ausgezeichnet! Hier habt ihr eure Losung: eine kadettische Duma und kadettische Minister mit schriftlicher Berufung aus Zarskoje Selo; Was darüber hinaus geht, ist von Übel!
Erlauben Sie, verehrte Herren, Sie vergessen ein wenig den Umstand, dass wir Sie absolut nicht um Ihre Losungen gebeten haben – behalten Sie sie gefälligst bei sich, solange die Massen, auf die wir uns stützen, Sie nicht zwingen, sie zu verändern, oder Sie gar zusammen mit Ihren Losungen vor die Tür setzen. Alles, was wir wollen, sind Wahlabkommen in jenen konkreten Fällen, in denen die Notwendigkeit, die Wahl schwarzer Kandidaten zu verhindern, eine Vereinigung der Stimmen erforderlich macht. Diese Übereinkommen sind möglich, sobald Sie es auch nur persönlich für vorteilhafter halten, in der Duma links von Ihnen Sozialdemokraten sitzen zu haben als rechts Schwarzhundertleute. Um Ihnen jedoch diese Einsicht uns betreffend zu vermitteln, werden wir kein Haar auf unserem Kopf von der Stelle bewegen.
Nicht doktrinäre Haltung, sondern tiefste realistische Einschätzung verbietet es uns, zwischen der Partei und der Masse im Namen einer angeblichen Vereinheitlichung den schützenden Vorhang ambivalenter Losungen aufzuhängen. „A force de se cacher aux autres, on finit par ne plus se retrouver soi-même“, heißt es in einem Drama von Maeterlinck: Wenn du deine Seele vor anderen versteckst, wirst du sie einmal selbst nicht wiederfinden. Das bezieht sich nicht nur auf die Seele von Einzelindividuen, sondern auch auf die Kollektivseele politischer Parteien.>
Zuletzt aktualiziert am 13. November 2024