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Rede vom 7. Dezember 1925. [1]
Veröffentlicht: Prawda und Iswestija vom 17. Dezember 1925.
Kopiert mit Dank von der Webseite der Sozialistischen Linkspartei (Österreich).
Die Rechtschreibung wurde von dieser Webseite übernommen.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
GenossInnen, eure Konferenz über den Schutz der Mütter und Kinder ist wertvoll, weil sie durch den Inhalt ihrer Aktivitäten zeigt, dass Arbeit auf dem Gebiet des Aufbaus der neuen sozialistischen Kultur von Angelpunkten aus geleistet wird, gleichzeitig und in einer parallelen Weise. Erst gestern hatte ich die Gelegenheit, mich mit den der Konferenz in Broschürenform vorgelegten Thesen zu beschäftigen – obwohl ich nicht Zeit genug hatte, sie gründlich durchzugehen. Und was einem, der mehr oder weniger vom Rande her beobachtet (obwohl letztlich keiner das Recht hat, eurer Arbeit aus dem Weg zu gehen), an den Thesen am meisten auffällt, ist die Tatsache, dass eure Arbeit außerordentliche Korrektheit und Tiefe erlangt hat; von den dunklen Problem, die wir in den Jahren 1918–19 feststellten, sind wir schon dazu übergegangen, korrekt nachzudenken und praktisch diese Probleme auf der Basis unserer gemeinsamen Erfahrungen auszuarbeiten, ohne die notwendigen Perspektiven zu verlieren und ohne in Haarspalterei zu verfallen. Und dies ist eine große Errungenschaft von uns in allen Gebieten unserer Arbeit und wir voll und zusammengefasst in den Thesen über den Schutz der Mütter und Kinder ausgedrückt.
GenossInnen, was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog (wenigstens meine – und ich denke, dies könnte auf jeden Leser der Thesen zutreffen) – was die meiste Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Tafel, die in den These der Genossin Lebedeva über die Kindersterblichkeit aufgenommen war. Sie verblüffte mich. Ihr habt diese Frage hier wahrscheinlich schon konkreter diskutiert, aber auf die Gefahr hin zu wiederholen, muss ich noch bei diesem Punkt verweilen. Wir haben hier eine Tabelle, die die Sterblichkeit der Kinder bis zum ersten Lebensjahr für 1913 und 1923 vergleicht. Ist diese Tabelle wahr? Das ist die erste Frage, die ich mir stelle und die ich anderen stelle. Ist sie wahr? In jedem Fall wird sie öffentlicher Überprüfung ausgesetzt sein. Ich denke, sie sollte aus den Thesen, die nur euch SpezialistInnen auf diesem Gebiet erreichbar sind, herausgenommen werden und zur Waffe unserer Presse – der der Sowjets und der Partei – gemacht werden. Sie muss statistischer Klärung und Überprüfung unterworfen werden, und falls sie wahr ist, dann sollte sie als eine sehr wertvolle Errungenschaft im Bestand unserer sozialistischen Kultur berichtet werden.
Es scheint nach dieser Tabelle, dass im Jahr 1913, als Russland beträchtlich reicher war als wir jetzt – ja, Russland als ein Staat, als eine Nation, oder als eine Ansammlung von Nationen, war beträchtlich reicher als wir es jetzt sind (wir nähern uns dem Jahr 1913 in der Produktion an, aber noch nicht in der Akkumulation, und selbst wenn wir voll den Stand der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion von 1913 erreicht haben, wird es noch eine lange Zeit sein, bevor wir die Akkumulation von nationalem Reichtum haben, den es 1913 gab) – trotzdem, es stellt sich heraus, dass 1913 die Sterblichkeit der Kinder bis zu einem Jahr in der Vladimir-Provinz 29% betrug; heute ist sie 17,5%. Und für die Moskauer Provinz war sie fast 28%, heute ist sie ungefähr 14%.
Ist das wahr oder nicht wahr? (Stimme: wahr!) Ich möchte das nicht zu bezweifeln wagen. Ich sage nur: Ihr wisst es; das ganze Land sollte es erfahren. Der Gegensatz zwischen diesen Zahlen muss sorgfältig vor allen Augen aufgezeigt werden. Es ist überraschend – so ein Fall in der Sterblichkeitsrate mit solch einem niedrigen Stand der Produktivkräfte und der Akkumulation im Land. Wenn dies eine Tatsache ist, dann ist es die unbezweifelbarste Großtat unserer neuen Kultur des Alltagslebens und vor allem eurer Anstrengung als eine Organisation. Wenn dies eine Tatsache ist, dann sollte sie nicht nur innerhalb der Union bekanntgegeben werden, sondern auch auf der Weltebene. Und wenn nach einer Überprüfung diese Tatsache unbezweifelbar wird für die gesamte öffentliche Meinung, dann müsst ihr feierlich erklären, dass von nun an wir aufhören werden, Vergleiche mit dem Vorkriegsstand anzustellen. Die Tabelle zeigt, dass in der Moskauer Provinz nur halb so viele Kinder bis zu einem Lebensjahr sterben wie vor dem Krieg. Aber unsere kulturellen und alltäglichen Bedingungen vor dem Krieg waren Bedingungen von Herrschaft und Knechtschaft, d. h. die verachtenswertesten Bedingungen, die erschreckendsten Bedingungen. Der Erfolg im Vergleich zu diesen Bedingungen ist sehr befriedigend, aber Vorkriegsbedingungen können nicht länger unser Kriterium sein. Wir haben andere Kriterien zu suchen, und im Augenblick müssen wir dieses Kriterium noch in der zivilisierten kapitalistischen Welt suchen – in welcher Anzahl sterben Kinder im kapitalistischen Deutschland, Frankreich, England und Amerika?
Und hier findet sich eine vollständige Parallele der Methoden und eine Ähnlichkeit des Herangehens an die Frage wieder – in eurer Arbeit von jedem. Wenn ihr die Arbeit unserer Industrie und unserer Landwirtschaft verfolgt, können dieselben Prozesse beobachtet werden: Bis gestern, bis heute arbeiteten wir und arbeiten wir mit dem Blick auf den Vorkriegsstand. Wir sagen: Unsere Industrie erreichte im vergangenen Jahr 75% des Vorjahresstandes; diese Jahr beginnend mit dem 1. Oktober, wird sie, sagen wir mal 95% erreichen, und wenn die Dinge gut gehen, sogar die vollen 100%. Aber in Wirklichkeit hören wir auf, unseren Erfolg mit dem Vorkriegsstand zu vergleichen. Wir dürfen nicht zu einem Vorkriegsstand kommen, der Teil der Geschichte unserer Barbarei ist, sondern wir haben den Druck – ökonomisch, militärisch und kulturell – auszugleichen, der auf uns vom Ausland her lastet. Die kapitalistischen Feinde sind gebildeter als wir, mächtiger als wir; ihre Industrie ist unserer überlegen, und es ist möglich, dass trotz der kapitalistischen Struktur, die dort vorherrscht, die Kindersterblichkeit in einigen von ihnen noch niedriger ist als hier. Es scheint mir deshalb, dass diese Tabelle ein Grenzstein werden sollte, der einen Wendepunkt in eurer Arbeit markiert. Indem wir diese Tabelle überprüfen, indem wir sie dem allgemeinen Bewusstsein einprägen, sagen wir:
Vom jetzt an werden wir nicht mit dem Vorkriegsstand vergleichen, sondern mit den Staaten mit dem höchsten kulturellen Stand.
Das Schicksal von Mutter und Kind, schematisch gesprochen, d. h., in den Grundzügen, hängt an erster Stelle von der Entwicklung der Produktivkräfte einer gegebenen Gesellschaft ab, von der Größe ihres Reichtums, und zweitens von der Verteilung dieses Reichtums unter die Mitglieder dieser Gesellschaft, d. h. von der gesellschaftlichen Struktur. Dieser Staat kann seinen Strukturen nach kapitalistisch sein d. h. auf einer geringeren gesellschaftlichen Stufe als der sozialistische, aber trotzdem reicher. Das ist genau der Fall, den die Geschichte uns zeigt: Die führenden kapitalistischen Länder sind unvergleichlich reicher als wir, aber das System der Verteilung und Konsumption dieses Reichtums gehört zu der vorhergehenden Periode der Geschichte, d. h. zum Kapitalismus. Unsere gesellschaftliche Struktur muss durch die Möglichkeiten, die in ihr enthalten sind, für sich unvergleichlich höhere Kriterien, Modelle; Ziele und Aufgaben suchen, als sie der Kapitalismus hat. Aber da der Kapitalismus unvergleichlich reicher an Produktivkräften ist als wir, müssen wir als unsere unmittelbare Aufgabe nehmen, ihn einzuholen, so dass wir ihn später überholen. Das heißt, dass, nachdem wir eine Barriere überwunden haben – den Vorkriegsstand – wir uns eine zweite Aufgabe stellen müssen – so schnell wie möglich mit den fortgeschrittenen Ländern gleichkommen, wo die Frage der Mütter und Kinder der Ausgebeuteten die Aufmerksamkeit der Bourgeoisie auf sich, die von ihren Klasseninteressen bestimmt wird.
Es könnte gesagt werden, dass, wenn die Lage der Mutter und des Kindes an erster Stelle von der Entwicklung der Produktivkräfte, von dem allgemeinen Stand der Ökonomie eines gegebenen Landes abhängt, welche Bedeutung hat dann die Arbeit eurer besonderen Organisation? Ich stelle diese Frage rhetorisch. Jede soziale Struktur, eine sozialistische miteingeschlossen, kann sich mit dem Phänomen konfrontiert sehen, dass die materiellen Möglichkeiten für eine gegebene Verbesserung und Änderung des Lebens gegenwärtig vorhanden sind, aber Faulheit, träge Denkgewohnheiten, sklavische Traditionen, konservative Dummheit können selbst in der sozialistischen Struktur angetroffen werden als ein Relikt aus der Vergangenheit, als Fehlen von Initiative und Kühnheit in der Zerstörung alter Lebensformen. Und die Aufgabe unserer Partei und der von ihr geführten gesellschaftlichen Organisationen, wie eurer, besteht darin, Sitten, Alltagsgewohnheiten und die Psychologie vorwärts zu bringen und zu verhindern, dass die Bedingungen des täglichen Lebens hinter die sozioökonomischen Möglichkeiten zurückfallen.
Was die Technologie anbelangt, existiert eine Herausforderung: der Druck vom Westen. Wir sind jetzt auf dem europäischen Markt; wir kaufen und verkaufen. Als Geschäftsleute sind wir, d. h. der Staat, daran interessiert, teuer zu verkaufen und billig zu kaufen, aber um gut zu kaufen und zu verkaufen muss man billig produzieren, muss man eine gute Technologie, einen hohen Stand der Organisation der Produktion haben. Das heißt, um auf den Weltmarkt zu kommen, haben wir uns unter das Joch der amerikanischen Technologie begeben. Hier, ob wir es wollen oder nicht, müssen wir vorwärts gehen. All die Probleme unserer sozialen Struktur, und das heißt auch das Schicksal der Mütter und Kinder, hängt von Erfolg ab, wieweit wir diesen weltweiten Wettbewerb gewachsen sind. Dass wir mit der Bourgeoisie in unserem Land abgerechnet haben, dass auf der Basis der NEP unsere staatliche Industrie floriert und sich entwickelt, dass es keine Gefahr gibt, dass die Privatkapitalisten die Staatsindustrie auf dem Markt schlagen – unbezweifelbare Zahlen bestätigen das – ist jetzt allen klar. Aber sobald wir auf dem Internationalen Markt sind, ist der Konkurrent stärker, mächtiger, gebildeter. Hier haben wir einen neuen Standard auf dem ökonomischen Gebiet – die europäische und amerikanische Technologie – einzuholen, um sie später zu überholen.
Gestern haben wir eine Elektrizitätsstation 130 Kilometer von Moskau entfernt eröffnet – die Schatura Station. Dies ist eine große technische Errungenschaft. Die Schatura Station ist auf Torf, auf einem Sumpf gebaut es gibt eine beträchtliche Anzahl von Sümpfen in unserem Land, und wenn wir lernen, die latente Energie unsrer Sümpfe in die bewegende Energie der Elektrizität zu verwandeln, wird dies eine wohltuende Auswirkung sowohl auf die Mütter wie auch auf die Kinder haben. (Applaus) Die Feier zu Ehren der Erbauer dieser Station gab uns zur selben Zeit ein klares Bild von unserer ganzen Kultur mit all ihren Widersprüchen. Wir brachen von Moskau aus auf. Was ist Moskau? Delegierte, die zum ersten Mal in Moskau sind, können sehen, dass Moskau das Zentrum unserer Sowjetunion ist, ein Weltzentrum der Ideen, die die ArbeiterInnenklasse führen. Schatura (etwas mehr als 100 Werst von Moskau) ist eine große technische Errungenschaft; es ist in der Größe und in der Konstruktion die einzige Torf-Station auf der Welt.
Zwischen Schatura und Moskau schauten wir aus den Fenstern des Zuges. Wald, schlummernd und unpassierbar, wie er im siebzehnten Jahrhundert war. Und Dörfer, hier und da verstreut, fast dieselben wie im siebzehnten Jahrhundert. Natürlich hat die Revolution die Kultur in diesen Dörfern gehoben, besonders bei Moskau, aber wie viele Zeichen des Mittelalters, der erschreckenden Rückständigkeit, vor allem in der Frage der Mütter und Kinder gibt es noch.
Ja, ihr habt große Siege zum ersten Mal in den Dörfern gewonnen, für die jedeR bewusste BürgerIn unserer Union euch beglückwünschen kann. Aber eure Thesen verbergen auf keinen Fall, wieviel jahrhundertalte Dunkelheit es noch in jedem Dorf gibt – sogar auf der Strecke zwischen Moskau und Schatura. Die Dörfer müssen dazu gebracht werden, Moskau und Schatura einzuholen, denn Schatura ist technisch fortgeschritten. Hier können wir uns wieder der Worte V.I. Lenins erinnern, dass der Sozialismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung ist.
Das Leben weiterzubringen, so dass es nicht hinter der technischen Entwicklung hinterherhinkt, ist eine sehr wichtige Aufgabe für euch, denn das tägliche Leben ist gefährlich konservativ, unvergleichlich konservativer als die Technologie. Für die Bäuerin und den Bauern, die Arbeiterin und den Arbeiter gibt es keine Modelle aus erster Hand des Neuen, die sie durch die Kraft des Beispiels anziehen würde, und es gibt keine zwingende Notwendigkeit für sie, solchen Modellen zu folgen. Was die Technologie betrifft, sagt Amerika zu uns: „Baut Schatura, oder wir werden euren Sozialismus vernichten, mit Knochen und allem, und keine Spur hinterlassen“. Aber das Alltagsleben scheint von einer Wand geschützt worden zu sein; es spürt diese Schläge nicht direkt, und deshalb ist hier die Initiative der Sozialarbeit besonders nötig.
Ich habe schon erwähnt, dass ich aus den Thesen herausgefunden habe, was für ein großer Beginn von euch in der Durchdringung des Landes gemacht worden ist. Hier in den Thesen von E.A. Feder gibt es ein Anzeichen nicht nur des kolossalen Bedürfnisses für Kindergärten, sondern auch der enormen Antwort aus der Bauernschaft, d. h., ein bewusstes Streben, diese Kindergärten auf dem Land zu haben. Aber vor nicht langer Zeit – 1918–19 – gab es großes Misstrauen gegen sie sogar in den Städten. Auch dies ist ohne Zweifel ein großer Sieg, wenn die neue gesellschaftliche Ordnung schon die Bauernfamilie in dieser Frage erreicht hat. Denn auch die Bauernfamilie wird langsam umgestaltet. Ich würde mich gern länger darüber auslassen, denn sogar hier können in der Presse Stimmen gehört werden, die vorschlagen, dass wir in Fragen der Familie die schlimmsten bäuerlichen Vorurteile nachahmen sollten, und dass dies aus der „smytschka“ folgt. In der Tat besteht unsere Aufgabe, auszugehen von dem, was in den Dörfern existiert – und es existieren Rückständigkeit und Vorurteile und Dunkelheit, die nicht mit einem Federstrich ausgeräumt werden können – um die „smytschka“ zu finden, um den Ausgangspunkt zu finden, an den wir anknüpfen können und von dem aus wir die Bauernfamilie geschickt vorwärts auf den Weg zu den ersten Stadien des Sozialismus stoßen zu können, aber bestimmt nicht, um die existierenden Konzeptionen und Traditionen passiv nachzuahmen, die auf Sklaverei aufgebaut sind.
Was ist unsere alte Kultur im Bereich der Familie und des täglichen Lebens? Adel, der – auf der Grundlage von Finsternis und fehlender Kultur – allem gesellschaftlichen Leben den Stempel der Vulgarität aufprägte. Und wenn unser Proletariat, das aus der Bauernschaft entstand, in einem einzigen Sprung von etwa 30 bis 50 Jahren das europäische Proletariat einholte und dann auf dem Feld des Klassenkampfes und der revolutionären Politik überholte, dann gibt es noch, auch in dem Proletariat, mehr als genug von den verfaulten alten Überbleibseln der Knechtschaft auf dem Gebiet der persönlichen Moral, der Familie und des Alltagslebens. Und in der intellektuellen oder in der kleinbürgerlichen Familie kann man soviel, wie man will, von der echten gegenwärtigen Knechtschaft finden. Ihr solltet euch nicht die utopische Aufgabe setzen, die alte Familie durch eine Art von rechtlichen Maßnahmen zu überwinden – ihr würdet auf euer Gesicht fallen und euch im Angesicht der Bauernschaft kompromittieren –, sondern handelt innerhalb der materiellen Möglichkeiten, innerhalb der schon gesicherten Bedingungen der gesellschaftlichen Entwicklung, entlang der gesetzlichen Linie, um so die Familie der Zukunft zu führen. Ich beabsichtige nicht, im Augenblick über das beabsichtigte Ehegesetz zu sprechen, das gerade diskutiert wird, und über das ich mir das Recht zu sprechen vorbehalte. Ich nehme an, dass eure Organisation auch den angemessenen Platz im Kampf für ein richtiges Ehegesetz einnehmen wird.
Ich möchte nur ein Argument, das mich bedrückt, erwähnen. Das Argument lautet etwa folgendermaßen: Wie kann man der „unverheirateten“ Mutter, d. h., der Mutter, die nicht registriert ist, dieselben Rechte geben wie einer „verheirateten“ Mutter? Sicher bedeutet das, einer Frau die Art von Beziehungen aufzuzwingen, die sie nicht angenommen haben würde, wenn ihr das Gesetz diese Rechte verweigerte?
GenossInnen, dies ist so monströs, dass es einen wundert: Sind wir wirklich in einer Gesellschaft, die sich in eine sozialistische verwandelt, d. h. in Moskau oder Schatura, und nicht irgendwo zwischen Moskau oder Schatura, im schlummernden Wald? Hier ist das Verhältnis zur Frau nicht nur nicht kommunistisch, sondern reaktionär und philisterhaft in der schlimmsten Bedeutung dieses Wortes. Wer könnte denken, dass die Rechte der Frau, die die Konsequenzen jeder Heirat zu tragen hat, wie vorrübergehend sie auch sei, zu eifrig in unserem Lande geschützt würden? Ich denke, es ist nicht nötig, die ganze Ungeheuerlichkeit dieser Art, die Frage zu stellen, zu demonstrieren. Aber es ist symptomatisch und legt Zeugnis davon ab, dass es in unseren traditionellen Ansichten, Vorstellungen und Gewohnheiten viel gibt, das e wirklich dumm ist und das mit einem Sturmblock zerstört werden muss.
Für Mütter und Kinder zu kämpfen, heißt bei unseren gegenwärtigen Bedingungen, besonders gegen den Alkoholismus zu kämpfen. Ich habe unglücklicherweise hier keine Thesen über den Alkoholismus bemerkt. (Stimme: Es gibt keine.) Entschuldigt mich, ich kam zu spät und kann nicht vorschlagen, dass dieser Punkt auf die Tagesordnung gesetzt wird und, was wichtiger ist, in eure gegenwärtige Arbeit eingefügt wird.
Man kann nicht für eine verbesserte Lage von Mutter und Kind kämpfen, ohne auf breiter Front den Alkoholismus zu bekämpfen. In den Thesen wird ganz richtig gesagt, dass unregelmäßige sexuelle Beziehungen nicht willkürlich durch papierene Bestimmungen beizukommen ist und dass eine einflussreiche gesellschaftliche Meinung gegen häufiges Scheiden nötig ist, usw. Das ist richtig. Aber, GenossInnen, in der Einschätzung sexueller Beziehungen als frivol muss in vielen Fällen gesagt werden: Es gibt keine größere Drohung als solche sexuellen Beziehungen, die unter dem Einfluss des Alkoholismus, der Trunkenheit geformt werden und die sehr oft in einer wenig gebildeten Umgebung auftreten. Es ist eure Organisation, die meiner Meinung nach Initiative übernehmen sollte im Kampf gegen Trunkenheit.
Wenn wir die Frage des Schicksals der Mutter und des Kindes in Eine Reihe Von Fragen aufteilen, und besonders den Kampf gegen Trunkenheit aussuchen, dann werden wir klar erkennen, dass die Hauptform des Kampfes für größere Stabilität und Rationalität in Familienverbindungen und -beziehungen darin besteht, dass Niveau der menschlichen Persönlichkeit zu heben. Abstrakte Propaganda und Predigten werden nichts helfen. Gesetzgebung im Sinne des Schutzes der Mutter in den schwierigsten Perioden ihres Lebens und des Schutzes des Kindes sind Absolut notwendig, und wenn wir bis zum äußersten in der Gesetzgebung gehen, dann wird es natürlich nicht zugunsten des Vaters, sondern zugunsten der Mutter und des Kindes sein, denn die Rechte der Mutter, wie sie auch juristisch festgelegt sein mögen, werden in der Wirklichkeit – durch die Kraft der Moral, Gewohnheiten und durch die Rolle der Mutter selbst – unzulänglich geschützt, bis wir den entwickelten Sozialismus erreichen, und noch weiter bis zum Kommunismus. Es ist deshalb nötig, so viel wie möglich juristische Unterstützung Mutter und Kind zu geben, den Kampf verschiedene Wege entlang zu führen, eingeschlossen gegen Alkoholismus. In der nächsten Zukunft wird dies nicht der kleinste Teil unserer Arbeit sein.
Aber die Hauptaufgabe, ich wiederhole, ist die Hebung der menschlichen Persönlichkeit. Je höher ein Mensch geistig steht, gemessen an der Natur seiner Interessen, desto mehr wird er von sich und seinen Freunden verlangen: Je wechselseitiger die Forderungen sind, desto stärker ist die Verbindung, desto schwieriger ist es, sie zu brechen. d. h., dass die Hauptaufgabe gelöst wird in allen Gebieten unserer sozialen Arbeit durch die Entwicklung der Industrie, der Landwirtschaft, Wohlfahrt, Kultur, Aufklärung. All dies führt nicht zu chaotischen Beziehungen, sondern im Gegenteil zu stabileren, die schließlich keine gesetzliche Regulierung brauchen werden.
Um zur Arbeit auf dem Land zurückzukommen. Ich denke, dass hier die landwirtschaftlichen Kommunen nicht bemerkt werden. (Stimme: Sie werden erwähnt.) Entschuldigt mich, ich habe sie übersehen. Vor kurzem besichtigte ich zwei große landwirtschaftliche Kommunen, eine in der Saporosch-Region in der Ukraine, die andere in der Tersk-Region im nördlichen Kaukasus. Natürlich ist das nicht das „Schatura“ unseres Alltagslebens, d. h., man kann nicht sagen, dass sie für die neue Art zu leben stehe, wie Schatura für die Technologie steht, aber es gibt Spuren hier, besonders, wenn man sie vergleicht mit dem, was alles um sie herum auf dem Land liegt. In der Kommune gibt es Kindertagesstätten als eine reguläre Institution, die auf der gemeinsamen Arbeit beruht, als eine konstituierender Teil der Großfamilie. Es gibt einen Raum für Mädchen und einen für Jungen. In Saporosch, wo ein Künstler Mitglied der Kommune war, sind die Wände der Räume der Kindermit Malereien geschmückt. Es gibt eine gemeinsame Küche, einen gemeinsamen Speiseraum und eine Bücherei. Dies ist ein großer Schritt vorwärts im Vergleich zu der Bauernfamilie. Eine Frau in der Kommune kann sich wirklich als menschliches Wesen fühlen.
Natürlich, GenossInnen, ich merke, dass erstens dies eine kleine Oase ist und es zweitens noch nicht bewiesen ist, dass diese Oase ihre eigene Ausdehnung verwirklicht, denn die Arbeitsproduktivität in diesen Kommunen ist nicht längst nicht gesichert. Aber allgemein gesprochen, jede gesellschaftliche Form, jede Zelle wird lebensfähig sein, wenn die Arbeitsproduktivität in ihr wächst und nicht auf demselben Stand bleibt oder fällt. Den Sozialismus aufzubauen, das Schicksal von Mutter und Kind zu sichern, ist nur auf der Basis des Wachstums und der Wirtschaft möglich – auf der Basis des Verfalls und der Armut ist es nur möglich, zur mittelalterlichen Barbarei zurückzukehren. Aber die neuen Möglichkeiten haben sich unzweifelhaft bei den landwirtschaftlichen Kommunen gezeigt, und sie sind besonders wertvoll jetzt, wo die Entwicklung der Warenproduktion auf dem Lande im gewissen Grade zu Formen kapitalistischer Schichtung zwischen Kulaken und armen Bauern führt.
Wie viel lieber sind uns alle Formen der Kooperation auf dem Land, alle kollektiven Formen der Lösung ökonomischer, häuslicher, kultureller oder familiärer Probleme. Die Tatsache, dass das Land, wie in den Thesen gesagt wird, für die Kindertagesstätten Unterstützung von den Familien der armen Bauern ausging und auf die Familien der mittleren Bauern überging, ist eine Tatsache von außerordentlicher Bedeutung, wenn wir zusammen damit kleine „Schaturas“ der Produktion und des familiären und häuslichen Lebens haben, d. h., landwirtschaftliche Kommunen, die, wie mir scheint, in eure besondere Fürsorge aufgenommen werden müssen, vom Standpunkt ihrer Familien und der häuslichen Strukturen und der Stellung der Mütter und Kinder in ihnen.
Ich war sehr interessiert am Verhalten der Bauernschaft gegenüber der Kommune „kommunistischer Leuchtturm“. Leuchtturm ist ein sehr bezeichnendes Wort. Ein Leuchtturm ist etwas, was den Weg zeigt, was für alle aus der Ferne scheint. Wir gaben 1918 einer ganzen Anzahl solche Namen, aber bei wie vielen von ihnen stellte sich heraus, dass sie zufällige, unbegründete, manchmal leichtsinnige „Leuchttürme“ waren, viele von ihnen sind ausgegangen! Und deshalb war es sehr wichtig, diesen Namen zu untersuchen und zu sehen, in welchem Ausmaße er gerechtfertigt war. Und es muss gesagt werden, dass, obwohl dieser „Leuchtturm“ in einer Region scheint, die hauptsächlich aus Kosaken und teilweise aus religiösen Sekten, Baptisten usw. besteht – und das sind alles sehr konservative Elemente – die alte Feindschaft zu den Kommunen sich nicht zeigte. Das heißt, sie existiert unzweifelhaft unter den Kulaken, aber da diese Kommune drei Traktoren hat, die unter günstigen Bedingungen der ganze Distrikt genauso benutzt, gewöhnt sie durch diese „smytschka“ sogar die umwohnenden Kosaken an die neuen Formen der Familie und des Hauslebens, und die alte Feindschaft ist verschwunden. Dies ist ein wirklicher Gewinn.
Einige GenossInnen haben mir gesagt, dass in einigen Sowjetkreisen die Auffassung auftaucht, dass die landwirtschaftliche Kommune fehl am Platz sei, ihrer Zeit voraus sein,; dass sie eine Vorwegnahme der Zukunft sei. Das ist nicht wahr. Die Kommune ist eine der Keimzellen der Zukunft. Natürlich wird die Hauptarbeit der Vorbereitung der grundlegenderen Punkten ausgeführt: die Entwicklung der Industrie, die dem Lande die technische Basis für die industrialisierte Landwirtschaft liefert; und eine kooperative Form der Verteilung der ökonomischen Güter, ohne die es unmöglich ist, die mittleren Bauern zum Sozialismus zu führen. Aber zusammen damit gibt es, lebende Modelle der neuen ökonomischen Formen und der neuen Familien und des häuslichen Verhaltens auf dem Lande zu haben, solche Familien„schaturas“ zu haben, auch den Morgen von unten vorzubereiten, indem man ein neues Verhalten gegenüber der Frau und dem Kind entwickelt.
Wir MarxistInnen sagen, dass der Wert einer gesellschaftlichen Struktur durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt wird. Die ist unbezweifelbar. Aber es ist auch möglich, an das Problem vom anderen Ende heranzukommen. Die Entwicklung der Produktivkräfte wird nicht für ihren eigenen Zweck gebraucht. In der letzten Analyse wird die Entwicklung der Produktivkräfte gebraucht, weil sie die Basis für eine neue menschliche Persönlichkeit schafft, bewusst, ohne einen Herren über sich auf der Erde, ohne imaginären Herren, aus der Furcht geboren, im Himmel zu fürchten – eine menschliche Persönlichkeit, die in sich das beste, was von dem Denken und der Schaffenskraft vergangener Jahrhunderte geschaffen wurde, aufnimmt, die in der Solidarität mit allen anderen voranschreitet, die neue kulturelle Werte, ein neues persönliches und kulturelles Verhalten schafft, höher und vornehmer als jene , die auf der Basis der Klassensklaverei geboren wurden. Die Entwicklung der Produktivkräfte ist wertvoll für uns als die materielle Voraussetzung einer höheren menschlichen Persönlichkeit, nicht in sich zurückgezogen, sondern kooperativ, assoziativ.
Von diesem Standpunkt aus kann gesagt werden dass es wahrscheinlich für viele Jahrzehnte möglich ist, eine menschliche Gesellschaft durch das Verhalten gegenüber der Frau, gegenüber der Mutter und gegenüber dem Kind einzuschätzen – und dies ist nicht nur für die Einschätzung der Gesellschaft, sondern auch für die der einzelnen Personen wahr. Die menschliche Psyche entwickelt sich nicht gleichzeitig in all ihren Teilen. Wir leben in einem politischen Zeitalter, einem revolutionären Zeitalter, in dem Arbeiterinnen und Arbeiter sich selbst im Kampf entwickeln, und sich vor allem auf revolutionärem politischem Wege entwickeln. Und jene Zellen des Bewusstseins, in denen Anschauungen über die Familie und die Traditionen sitzen, und das Verhalten eines Menschen zu einem anderen, zur Frau, zum Kinde usw. – diese Zellen bleiben oft in der alten Form. Die Revolution hat sie noch nicht verändert. Die Zellen im Gehirn, in denen politische und gesellschaftliche Anschauungen sitzen, werden in unserer Zeit viele schneller und schärfer bearbeitet, dank der ganzen Struktur der Gesellschaft und dank der Epoche, in der wir leben. (Natürlich ist dies nur eine Analogie – im Gehirn arbeitet der Prozess anders.) Und deshalb werden wir für eine lange Zeit beobachten können, dass wir eine neue Industrie, eine neue Gesellschaft aufbauen, aber auf dem Feld der persönlichen Beziehungen verbleibt noch vieles aus dem Mittelalter. Und deshalb ist eins der Kriterien für die Einschätzung unserer Kultur, und ein Standard für die einzelnen Proletarier und Proletarierinnen, für die fortschrittlichen BäuerInnen, das Verhalten gegenüber der Frau und das Verhalten gegenüber dem Kind.
Vladimir Illjitsch lehrte uns, die ArbeiterInnenparteien nach ihrem Verhalten, im allgemeinen und im besonderen, zu den unterdrückten Nationen, zu den Kolonien einzuschätzen. Warum? Weil, wenn man beispielsweise den/die englischeN ArbeiterIn nimmt, es viel leichter ist, in ihm/r das Gefühl der Solidarität mit seiner/ihrer ganzen Klasse zu wecken – er/sie wird an Streiks teilnehmen und wird sogar zur Revolution kommen – als ihn zur Solidarität mit einem gelbhäutigen chinesischen Kuli zu bringen, als ihn/sie dazu zu bringen, ihn als einen Klassengenossen zu behandeln; das ist schwieriger, denn hier ist es nötig, durch eine Wand von Chauvinismus durchzubrechen, die in Jahrhunderten errichtet wurde.
Und genau so, GenossInnen, ist diese Wand von Familienvorurteilen, im Verhalten des Familienoberhauptes gegenüber der Frau und dem Kind – und die Frau ist der Kuli der Familie -; diese Wand ist über Jahrtausende, nicht Jahrhunderte aufgebaut worden. Und so seid Ihr – müsst Ihr sein – der moralische Rammbock, mit dem diese Wand des Konservativismus, die in unserer alten asiatischen Natur, in der Sklaverei, in der Knechtschaft, in bürgerlichen Vorurteilen und den Vorurteilen selbst der ArbeiterInnen, wurzelt, die aus den schlimmsten Seiten der bäuerlichen Traditionen hervorgekommen sind, durchbrochen wird. Insoweit Ihr diese Wand zerstören werdet, wie ein Rammbock in der Hand der sozialistischen Gesellschaft, die aufgebaut wird, ist jedeR bewusste RevolutionärIn, jedeR KommunistIn, jedeR fortschrittliche Bauer/Bäuerin und ArbeiterIn, verpflichtet, Euch mit aller Kraft zu unterstützen. Ich wünsche Euch großen Erfolg, GenossInnen, und vor allem wünsche ich Euch mehr Aufmerksamkeit unserer öffentlichen Meinung. Eure Arbeit, die wirklich reinigend ist, wirklich gesund ist, muss in das Zentrum der Aufmerksamkeit unserer Presse gestellt werden, so dass sie unterstützt werden kann von allen progressiven Elementen im Land, und Euch kann geholfen werden, Erfolge im Aufbau unseres Lebens und unserer Kultur zu erzielen (Heftiger Applaus)
1. Trotzki sprach vor der Dritten All-Unions Konferenz zum Schutz der Mütter und Kinder am 7. Dezember 1925. Die Rede wurde sowohl in der Prawda wie auch in der Iswestija vom 17. Dezember 1925 veröffentlicht.
Zuletzt aktualisiert am 3. September 2014