Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


Vorwort

Der Niedergang des Kapitalismus verspricht, noch stürmischer, dramatischer und blutiger zu werden als sein Aufstieg. Der deutsche Kapitalismus wird darin jedenfalls keine Ausnahme bilden. Wenn sich seine Agonie gar zu sehr hinzieht, so liegt – man muss die Wahrheit sagen – die Schuld daran bei den Parteien des Proletariats.

Der deutsche Kapitalismus kam verspätet und sah sich der Vorrechte der Erstgeburt bar. Russlands Entwicklung gab ihm einen Platz irgendwo in der Mitte zwischen England und Indien; Deutschland hätte in diesem Schema den Platz zwischen England und Russland einnehmen müssen, – doch ohne die gewaltigen Überseekolonien Großbritanniens und ohne die inneren Kolonien des zaristischen Russlands. Das ins Herz Europas eingezwängte Deutschland stand – zu einer Zeit, da die ganze Welt bereits aufgeteilt war – vor der Notwendigkeit, fremde Märkte zu erobern und bereits verteilte Kolonien neu aufzuteilen.

Dem deutschen Kapitalismus war es nicht beschieden, mit dem Strome zu schwimmen, dem freien Spiel der Kräfte hingegeben. Diesen Luxus hatte sich nur Großbritannien leisten können und auch das nur während einer beschränkten geschichtlichen Periode, deren Abschluss sich kürzlich vor unseren Augen vollzogen hat. Der deutsche Kapitalismus konnte sich auch nicht jenen „Sinn für Mäßigkeit“ leisten, der den französischen Kapitalismus kennzeichnet, der in seiner Beschränkung gefestigt und überdies mit reichem Kolonialbesitz als Reserve ausgerüstet ist.

Die auf dem Gebiete der inneren Politik durch und durch opportunistische deutsche Bourgeoisie musste sich auf dem Gebiete der Wirtschaft und der Weltpolitik zur Verwegenheit versteigen, vorauseilen, die Produktion maßlos erweitern, um die alten Nationen einzuholen, musste mit dem Säbel rasseln und sich in den Krieg stürzen. Die aufs äußerste gesteigerte Rationalisierung der deutschen Nachkriegsindustrie ergab sich aus der Notwendigkeit, die ungünstigen Bedingungen der historischen Verspätung, der geographischen Lage und der Kriegsniederlage zu überwinden.

Sind die wirtschaftlichen Übel unserer Epoche letzten Endes ein Ergebnis der Tatsache, dass die Produktivkräfte der Menschheit unvereinbar mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln wie mit den nationalen Grenzen sind, so unterliegt der deutsche Kapitalismus den heftigsten Konvulsionen gerade darum, weil er der modernste, fortgeschrittenste, dynamischste Kapitalismus auf dem europäischen Kontinent ist.

Die Ärzte des deutschen Kapitalismus scheiden sich in drei Schulen: Liberalismus, Planwirtschaft und Autarkie.

Der Liberalismus möchte „Natur“gesetze des Marktes wiederherstellen. Aber das klägliche politische Los des Liberalismus spiegelt nur das Faktum wider, dass der deutsche Kapitalismus niemals auf dem Manchestertum fußte: durch Protektionismus kam er zu Trusts und Monopolen. Man kann die deutsche Wirtschaft nicht zurückführen zu einer „gesunden“ Vergangenheit, die es nie gegeben hat.

Der „Nationalsozialismus“ verspricht, das Werk von Versailles auf seine Art zu revidieren, d.h. faktisch die Offensive des Hohenzollernschen Imperialismus weiterzuführen. Gleichzeitig will er Deutschland zur Autarkie führen, d.h. auf den Weg des Provinzialismus und der Selbstbeschränkung. Das Löwengebrüll verdeckt hier die Psychologie des verprügelten Hundes. Den deutschen Kapitalismus seinen nationalen Grenzen anpassen zu wollen, ist ungefähr das gleiche, als würde man einen Menschen kurieren, indem man ihm die rechte Hand, den linken Fuß und einen Teil des Schädels absägt.

Den Kapitalismus mit Hilfe der Planwirtschaft zu kurieren hieße: die Konkurrenz beseitigen. Beginnen müsste man in diesem Falle mit der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Die bürokratisch-professoralen Reformer wagen nicht einmal daran zu denken. Die deutsche Wirtschaft ist am allerwenigsten eine rein deutsche; sie ist ein integrierender Bestandteil der Weltwirtschaft. Ein deutscher Plan ist denkbar einzig in der Perspektive eines internationalen Wirtschaftsplanes. Eine national abgeriegelte Planung würde den Verzicht auf die Weltwirtschaft bedeuten, d.h. den Versuch eines Rückzugs auf das System der Autarkie.

Die drei einander befehdenden Schulen ähneln sich in Wirklichkeit darin, dass sie im Zauberkreis des reaktionären Utopismus eingeschlossen sind. Zu retten gilt es nicht den deutschen Kapitalismus, sondern Deutschland – vor seinem Kapitalismus.

In den Krisenjahren haben sich die deutschen Bourgeois, zumindest ihre Theoretiker, in Bußreden ergangen: sie hätten eine gar zu riskante Politik betrieben, allzu leicht ausländische Kredite in Anspruch genommen, die industrielle Ausrüstung maßlos überentwickelt usw. Künftig werde man vorsichtiger sein müssen! In Wirklichkeit neigen – wie das Papen-Programm und das Verhalten des Finanzkapitals dazu beweist – die Spitzen der deutschen Bourgeoisie heute mehr denn je zu Wirtschaftsabenteuern.

Bei den ersten Anzeichen der industriellen Wiederbelebung wird sich der deutsche Kapitalismus so zeigen, wie die historische Vergangenheit ihn geschaffen hat, und nicht so, wie die liberalen Moralisten ihn schaffen möchten. Die nach Profiten hungernden Unternehmer werden abermals den Dampfdruck steigern, ohne auf das Manometer zu achten. Die Jagd nach ausländischen Krediten wird wieder fieberhaften Charakter annehmen. Die Expansionsmöglichkeiten sind gering? Um so notwendiger, sie für sich zu monopolisieren. Die erschrockene Welt wird das Bild der vergangenen Periode sehen, nur in Form noch heftigerer Konvulsionen. Gleichzeitig damit wird die Wiederherstellung des deutschen Militarismus vonstatten gehen. Als hätte es die Jahre 1914-1918 nicht gegeben. Die deutsche Bourgeoisie stellt an die Spitze der Nation wieder ostelbische Barone. Im Zeichen des Bonapartismus sind diese noch geneigter, den Kopf der Nation zu riskieren, als im Zeichen der legitimen Monarchie.

In ihren klaren Minuten müssen sich die Führer der deutschen Sozialdemokratie selbst fragen: kraft welchen Wunders führt ihre Partei, nach allem, was sie angerichtet hat, weiterhin Millionen Arbeiter hinter sich? Von großer Bedeutung ist gewiss der jeder Massenorganisation innewohnende Konservatismus. Mehrere Generationen des Proletariats sind durch die Sozialdemokratie als durch eine politische Schule gegangen – das hat eine große Tradition geschaffen. Dennoch liegt die Hauptursache der Lebensfähigkeit des Reformismus nicht darin. Die Arbeiter können die Sozialdemokratie nicht einfach verlassen, trotz aller Verbrechen dieser Partei: sie müssen sie durch eine andere Partei ersetzen können. Indes tut die deutsche Kommunistische Partei in Gestalt ihrer Führung seit neun Jahren entschieden alles, was in ihren Kräften liegt, um die Massen von sich abzustoßen oder sie wenigstens daran zu hindern, sich um die Kommunistische Partei zu scharen.

Die Kapitulationspolitik Stalin-Brandlers im Jahre 1923; der ultralinke Zickzack Maslow-Ruth Fischer-Thälmann von 1924 bis 25; die opportunistische Kriecherei vor der Sozialdemokratie von 1926-28; die Abenteuer der „dritten Periode“ von 1928 bis 30; die Theorie und Praxis des „Sozialfaschismus“ und der „nationalen Befreiung“ von 1930-32 – das sind die Posten der Rechnung. Ihre Summe lautet: Hindenburg-Papen-Schleicher & Co.

Auf kapitalistischem Wege gibt es keinen Ausweg für das deutsche Volk. Darin liegt die wichtigste Kraftquelle der Kommunistischen Partei.

Das Beispiel der Sowjetunion zeigt, dass ein Ausweg auf sozialistischem Wege möglich ist. Darin liegt die zweite Kraftquelle der Kommunistischen Partei.

Als Folge der Entwicklungsbedingungen des isolierten proletarischen Staates aber gelangte an die Spitze der Sowjetunion eine national-opportunistische Bürokratie, die an die Weltrevolution nicht glaubt, ihre Unabhängigkeit von dieser verficht und gleichzeitig eine unbeschränkte Herrschaft über die Kommunistische Internationale aufrechterhält. Darin besteht gegenwärtig das größte Unglück für das deutsche und internationale Proletariat.

Die Lage in Deutschland ist wie eigens dazu geschaffen, es der Kommunistischen Partei zu ermöglichen, in kurzer Zeit die Mehrheit der Arbeiter zu erobern. Nur müsste die Kommunistische Partei begreifen, dass sie heute noch die Minderheit des Proletariats darstellt, und festen Schrittes den Weg der Einheitsfronttaktik betreten. Statt dessen hat sich die Kommunistische Partei eine Taktik zu eigen gemacht, die man in folgenden Worten ausdrücken könnte: den deutschen Arbeitern weder die Möglichkeit geben, Wirtschaftskämpfe zu führen, noch dem Faschismus Widerstand leisten, noch zur Waffe des Generalstreiks greifen, noch Sowjets schaffen – ehe nicht das gesamte Proletariat von vornherein die Führerschaft der Kommunistischen Partei anerkennt. Die politische Aufgabe wird so in ein Ultimatum verwandelt.

Wo kommt diese verderbliche Methode her? Die Antwort gibt die Politik der Stalinschen Fraktion in der Sowjetunion. Dort hat der Apparat die politische Führung in administratives Kommandieren verwandelt. Indem sie den Arbeitern weder zu diskutieren, noch zu kritisieren, noch zu wählen gestattet, redet die Stalinsche Bürokratie mit ihnen nicht anders als in der Sprache von Ultimatums. Die Thälmannsche Politik ist ein Versuch der Übersetzung des Stalinismus in schlechtes Deutsch. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Bürokratie der UdSSR für ihre Kommandopolitik über die Staatsmacht verfügt, die sie aus den Händen der Oktoberrevolution erhalten hat. Thälmann hingegen besitzt zur Bekräftigung seiner Ultimatums lediglich die formale Autorität der Sowjetunion. Das ist eine große moralische Hilfsquelle, doch genügt sie unter den gegebenen Bedingungen nur dazu, den kommunistischen Arbeitern den Mund zu verschließen, nicht dazu, die sozialdemokratischen Arbeiter zu erobern. Von der Lösung dieser letzteren Aufgabe hängt jetzt aber das Schicksal der deutschen Revolution ab.

An die früheren, der Politik des deutschen Proletariats gewidmeten Arbeiten des Autors anknüpfend, wird in der vorliegenden Broschüre versucht, die Fragen der deutschen revolutionären Politik in einer neuen Phase zu untersuchen.

Prinkipo, den 13. September 1932


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008