Leo Trotzki

 

Der einzige Weg


III. Bündnis oder Kampf zwischen Sozialdemokratie und Faschismus?

Die Beziehungen zwischen den Klassen in Gestalt eines ein für allemal fixierten Schemas zu begreifen, ist verhältnismäßig einfach. Unendlich viel schwieriger ist es, von Fall zu Fall die konkreten Beziehungen der Klassen zu bestimmen.

Die deutsche Großbourgeoisie schwankt gegenwärtig – ein Zustand, den die Großbourgeoisie im allgemeinen selten erlebt. Der eine Teil ist endgültig zur Überzeugung von der Unvermeidlichkeit des faschistischen Weges gelangt und möchte die Operation beschleunigen. Der andere Teil hofft, die Lage mit Hilfe der bonapartistischen, militärisch-polizeilichen Diktatur meistern zu können. Eine Rückkehr zur Weimarer „Demokratie“ wünscht in diesem Lager niemand.

Das Kleinbürgertum ist zerspalten. Der Nationalsozialismus, der die erdrückende Mehrheit der Zwischenklassen unter seiner Flagge vereinigt hat, will die ganze Macht in seine Hände nehmen. Der demokratische Flügel des Kleinbürgertums, der noch immer Millionen Arbeiter hinter sich führt, wünscht die Rückkehr zur Demokratie Ebertschen Stils. Einstweilen ist er bereit, die bonapartistische Diktatur zumindest passiv zu stützen. Die Sozialdemokratie rechnet folgendermaßen: Unter dem Druck der Nazis wird die Papen-Schleicher-Regierung gezwungen sein, durch Verstärkung ihres linken Flügels ein Gleichgewicht herzustellen; unterdessen wird vielleicht eine Milderung der Krise erfolgen, im Kleinbürgertum vielleicht „Ernüchterung“ eintreten; das Kapital wird vielleicht seinen maßlosen Druck gegen die Arbeiterschaft mindern, – und so mit Gottes Hilfe alles wieder in Ordnung kommen.

Die bonapartistische Clique wünscht tatsächlich nicht den vollständigen Sieg des Faschismus. Sie wäre durchaus nicht abgeneigt, in gewissen Grenzen die Unterstützung der Sozialdemokratie auszunützen. Zu diesem Zwecke müsste sie aber die Arbeiterorganisationen „tolerieren“, was nur dann zu verwirklichen wäre, wenn man wenigstens bis zu einem gewissen Grade das legale Bestehen der KPD zuließe. Überdies würde die Unterstützung der Militärdiktatur durch die Sozialdemokratie die Arbeiter unweigerlich in die Reihen des Kommunismus stoßen. Eine Stütze gegen den braunen Teufel suchend, würde die Regierung bald unter die Schläge des roten Beelzebubs geraten.

Die offizielle kommunistische Presse erklärt, die Tolerierung Brünings durch die Sozialdemokratie habe Papen den Weg gebahnt, und die halbe Duldung Papens werde Hitlers Machtantritt beschleunigen. Das ist vollkommen richtig. In dieser Frage gibt es zwischen uns und den Stalinisten keine Meinungsverschiedenheiten. Aber gerade das bedeutet, dass sich in Zeiten der sozialen Krise die Politik des Reformismus nicht mehr gegen die Massen allein, sondern auch gegen ihn selbst richtet. In diesem Prozess ist jetzt der kritische Moment eingetreten.

Hitler toleriert Schleicher. Die Sozialdemokratie widersetzt sich Papen nicht. Ließe sich diese Lage wirklich für lange Zeit sichern, so würde sich die Sozialdemokratie in den linken Flügel des Bonapartismus verwandeln und dem Faschismus die Rolle des rechten Flügels überlassen. Theoretisch ist es natürlich nicht ausgeschlossen, dass diejenige, beispiellos dastehende Krise des deutschen Kapitalismus zu keiner entscheidenden Lösung führt, d.h. weder mit dem Siege des Proletariats endet noch mit dem Triumph der faschistischen Konterrevolution.

Wenn die Kommunistische Partei ihre Politik des stumpfsinnigen Ultimatismus fortsetzt und so die Sozialdemokratie vor dem sonst unvermeidlichen Zerfall rettet; wenn sich Hitler in der nächsten Zeit nicht zum Umsturz entschließt und damit die unausbleibliche Zersetzung der eigenen Reihen provoziert; wenn die Wirtschaftskonjunktur aufwärts geht, ehe Schleicher fällt, – dann könnte die bonapartistische Kombination des Paragraphen 48 der Weimarer Verfassung, der Reichswehr, der halboppositionellen Sozialdemokratie und des halboppositionellen Faschismus sich vielleicht halten (bis zu einem neuen sozialen Anstoß, der jedenfalls bald zu erwarten wäre).

Doch einstweilen sind wir weit entfernt von einer solch glücklichen Fügung der Bedingungen, wie sie Gegenstand der sozialdemokratischen Träumereien ist. Sie ist keineswegs gesichert. An die Widerstandsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des Papen-Schleicher-Regimes glauben auch die Stalinisten kaum. Alles spricht dafür, dass ein Dreieck Wels-Schleicher-Hitler auseinander fiele, ehe es sich recht konstituiert hätte.

Vielleicht aber würde es durch die Kombination Hitler-Wels ersetzt? Nach Stalin sind sie „Zwillinge, nicht Antipoden“. Nehmen wir an, die Sozialdemokratie würde, ohne sich vor den sozialdemokratischen Arbeitern zu scheuen, von Hitler die Duldung der Sozialdemokratie erkaufen wollen. Aber – der Faschismus braucht diese Ware nicht; er braucht nicht Duldung, sondern Abschaffung der Sozialdemokratie. Die Hitlerregierung kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie den Widerstand des Proletariats gebrochen und alle potentiellen Organe eines solchen Widerstandes ausgeschaltet hat. Darin besteht eben die geschichtliche Rolle des Faschismus.

Die Stalinisten beschränken sich auf eine rein psychologische, genauer gesagt moralische Einschätzung jener feigen und habsüchtigen Kleinbürger, die die Sozialdemokratie leiten: Kann man denn wirklich annehmen, diese geeichten Verräter würden sich von der Bourgeoisie trennen und ihr entgegentreten? Eine solche idealistische Methode hat wenig mit dem Marxismus gemein, der nicht davon ausgeht, was die Menschen über sich denken und was sie wünschen, sondern vor allem davon, unter welche Bedingungen sie gestellt sind und wie sich diese Bedingungen verändern werden.

Die Sozialdemokratie unterstützt das bürgerliche Regime nicht wegen der Gewinne der Kohlen-, Stahl- etc. Magnaten, sondern um jener Gewinne willen, die sie selbst als Partei in Gestalt ihres vielköpfigen und mächtigen Apparats bezieht. Gewiss, der Faschismus bedroht in keiner Weise das bürgerliche Regime, für dessen Verteidigung die Sozialdemokratie da ist. Aber der Faschismus gefährdet die Rolle, die die Sozialdemokratie im bürgerlichen Regime spielt, und die Einkünfte, die die Sozialdemokratie für diese ihre Rolle bezieht. Wenn die Stalinisten diese Seite der Sache vergessen, so verliert die Sozialdemokratie selbst diese tödliche Gefahr für keinen Moment aus dem Auge, die ihr – nicht der Bourgeoisie, sondern gerade ihr, der Sozialdemokratie – durch den Sieg des Faschismus droht.

Als wir vor ungefähr drei Jahren darauf verwiesen, dass der Ausgangspunkt der kommenden politischen Krise in Österreich und in Deutschland aller Wahrscheinlichkeit nach die Unvereinbarkeit von Sozialdemokratie und Faschismus sein werde, als wir, darauf gestützt, die Theorie des „Sozialfaschismus“ verwarfen, die den nahenden Konflikt nicht aufdeckte, sondern vertuschte; als wir auf die Möglichkeit aufmerksam machten, dass ein bedeutender Teil des sozialdemokratischen Apparats durch den Gang der Ereignisse in einen Kampf mit dem Faschismus hineingezogen werde, was für die Kommunistische Partei einen günstigen Ausgangspunkt für den weiteren Angriff abgeben werde, beschuldigten uns sehr viele Kommunisten – nicht nur bezahlte Bürokraten, sondern auch ganz ehrliche Revolutionäre – der ... „Idealisierung“ der Sozialdemokratie. Man konnte nur mit den Achseln zucken. Schwer ist es, mit Leuten zu streiten, deren Gedanke dort Halt macht, wo für den Marxisten das Problem erst beginnt.

In Gesprächen brachte ich manchmal folgendes Beispiel: Die jüdische Bourgeoisie des zaristischen Russlands war ein äußerst eingeschüchterter und demoralisierter Teil der gesamten russischen Bourgeoisie. Und dennoch war sie gezwungen, soweit die Schwarzhundert-Pogrome, die sich hauptsächlich gegen die jüdische Armut richteten, auch die Bourgeoisie trafen, zur Selbstverteidigung zu greifen. Gewiss, sie bewies auch auf diesem Gebiet keine bemerkenswerte Tapferkeit. Doch angesichts der über ihren Köpfen hängenden Gefahr sammelten die liberalen jüdischen Bourgeois zum Beispiel beträchtliche Summen für die Bewaffnung revolutionärer Arbeiter und Studenten. Auf diese Weise kam eine zeitweilige praktische Verständigung zustande zwischen den revolutionärsten Arbeitern, die bereit waren, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen, und der erschrockensten Bourgeoisgruppe, die ins Gedränge geraten war.

Im vorigen Jahre schrieb ich, die Kommunisten seien im Kampf mit dem Faschismus verpflichtet, ein praktisches Abkommen nicht nur mit dem Teufel und seiner Großmutter, sondern sogar mit Grzesinski abzuschließen. Dieser Satz ging durch die ganze stalinistische Weltpresse – gab es einen besseren Beweis für den „Sozialfaschismus“ der Linken Opposition? Manche Genossen hatten mich im voraus gewarnt: „Sie werden sich an diesen Satz klammern“. Ich antwortete ihnen: „Er ist auch dazu geschrieben, dass sie sich an ihn klammern. Mögen sie sich nur ans heiße Eisen klammern und sich die Finger verbrennen. Das wird den Dummköpfen eine Lehre sein.“

Der Verlauf des Kampfes hat dazu geführt, dass von Papen Grzesinski mit dem Gefängnis bekannt machte. Ergab sich diese Episode aus der Theorie des Sozialfaschismus und aus den Voraussagen der stalinistischen Bürokratie? Nein, sie widersprach ihnen vollständig. Unsere Einschätzung der Lage hatte indes eine solche Möglichkeit ins Auge gefasst und ihr einen bestimmten Platz zugewiesen.

Aber die Sozialdemokratie ist ja auch diesmal wieder dem Kampf ausgewichen, wird ein Stalinist einwenden. Ja, sie ist ausgewichen. Wer erwartet hatte, die Sozialdemokratie werde auf Betreiben ihrer Führer selbständig den Kampf aufnehmen, noch dazu unter Bedingungen, wo sich die Kommunistische Partei selbst als kampfunfähig erwies, der musste natürlich eine Enttäuschung erleben. Wir haben solche Wunder nicht erhofft. Deshalb können wir auch keiner „Enttäuschung“ über die Sozialdemokratie ausgesetzt sein.

Grzesinski hat sich nicht in einen revolutionären Tiger verwandelt, das glauben wir gerne. Aber immerhin ist doch ein Unterschied zwischen der Situation, wo Grzesinski, in seiner Festung sitzend, Polizeiabteilungen zur Beschirmung der „Demokratie“ gegen revolutionäre Arbeiter aussandte, und jener Situation, wo der bonapartistische Retter des Kapitalismus Herrn Grzesinski selbst ins Gefängnis setzte. Und müssen wir nicht diesem Unterschied politisch Rechnung tragen und ihn ausnützen?

Kehren wir zu dem oben angeführten Beispiel zurück: Es ist nicht schwer, den Unterschied zu erfassen zwischen einem jüdischen Fabrikanten, der den zaristischen Schutzleuten für die Niederschlagung der Streikenden in seiner Fabrik ein Trinkgeld gibt, und dem gleichen Fabrikanten, der den gestrigen Streikenden Geld gibt für die Beschaffung von Waffen gegen Pogromisten. Der Bourgeois bleibt derselbe. Aber aus der Verschiedenheit der Lage ergibt sich eine Verschiedenheit des Verhaltens. Die Bolschewiki führten den Streik gegen den Fabrikanten. Später nahmen sie vom gleichen Fabrikanten Geld für den Kampf gegen Pogrome. Das hinderte natürlich die Arbeiter nicht, als die Stunde dazu gekommen war, ihre Waffen gegen die Bourgeoisie zu richten.

Bedeutet all das Gesagte, dass die Sozialdemokratie als Ganzes gegen den Faschismus kämpfen wird? Darauf antworten wir: ein Teil der sozialdemokratischen Funktionäre wird zweifellos zu den Faschisten überlaufen, ein beträchtlicher Teil wird sich in der Stunde der Gefahr unters Bett verkriechen. Auch die Arbeitermassen werden sich nicht in ihrer Gesamtheit schlagen. Im voraus zu erraten, welcher Teil der sozialdemokratischen Arbeiter in den Kampf hineingezogen werden wird und wann, welchen Teil des Apparats er mit sich reißen wird, ist vollkommen unmöglich. Das hängt von vielen Faktoren ab, auch von der Haltung der Kommunistischen Partei. Die Einheitsfrontpolitik hat zur Aufgabe, die, die kämpfen wollen, von denen, die es nicht wollen, abzusondern, die Schwankenden vorwärtszustoßen, schließlich: die kapitulantenhaften Führer vor den Augen der Arbeiter zu kompromittieren und so die Kampffähigkeit der Arbeiter zu stärken.

Wie viel Zeit hat man versäumt – zwecklos, sinnlos, schändlich! Wie viel wäre allein in den letzten zwei Jahren zu erreichen gewesen! War es doch von vornherein völlig klar, dass das Monopolkapital und seine faschistische Armee die Sozialdemokratie mit Fäusten und Knüppeln auf den Weg der Opposition und der Selbstverteidigung treiben würden. Man hätte diese Perspektive vor der gesamten Arbeiterklasse entwickeln müssen, selbst die Initiative zur Einheitsfront ergreifen und diese Initiative in jeder neuen Etappe fest durchhalten müssen. Man brauchte weder zu schreien noch zu kreischen, hätte ruhig ein offenes Spiel führen können. Es hätte genügt, klipp und klar die Unvermeidlichkeit des jeweils nächsten Schrittes des Feindes auszusprechen und ein praktisches Programm der Einheitsfront, ohne Übertreibungen und Gefeilsche, aber auch ohne Schwäche und Nachgiebigkeit aufzustellen. Wie stünde jetzt die Kommunistische Partei da, hätte sie sich das Abc der leninistischen Politik angeeignet und es mit der nötigen Beharrlichkeit angewandt!


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008