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1. Auf Grund offizieller Quellen ist mit Sicherheit festgestellt, dass die Vorbereitung des Attentates auf Kirow mit Wissen der GPU organisiert war. Der Chef der Leningrader GPU-Abteilung, Medwjed, wurde gemeinsam mit elf anderen Agenten der GPU verurteilt, weil er „im Besitze von Mitteilungen über ein sich vorbereitendes Attentat auf S.M. Kirow ..., die notwendigen Maßnahmen nicht ergriffen hatte“. Polizeiagenten, die „gewusst haben“, müssten doch, sollte es scheinen, in allen darauffolgenden Prozessen als Zeugen figurieren. Jedoch ist von Medwjed und seinen Mitarbeitern in den späteren Prozessen nicht mehr die Rede: sie haben zu viel „gewusst“. Die Ermordung Kirows bildet die Basis aller weiteren Prozesse. Indes bildet die Basis für die Ermordung Kirows eine gigantische Provokation der GPU, die durch das Verdikt des Militärtribunals vom 29. Dezember 1934 bestätigt ist. Die Aufgabe der Organisatoren der Provokation war, in den terroristischen Akt die Opposition insbesondere mich zu verwickeln (vermittels des lettischen Konsuls Bissineks, eines Agent provocateurs im Dienste der GPU, der seit dieser Zeit ebenfalls spurlos verschwunden ist). Nikolajews Schuss war im Programm wohl nicht vorgesehen, er war eher eine Mehrausgabe des Amalgams.
Diese Frage ist in meiner Broschüre Kirows Ermordung und die stalinsche Bürokratie, geschrieben Anfang 1935, untersucht worden. Weder die Sowjetbehörden noch ihre ausländischen Agenturen haben es auch nur versucht, auf meine Argumente, die ausschließlich auf Moskauer Dokumenten beruhen, zu antworten.
2. Wie wir während der Untersuchung feststellten, haben sich in der UdSSR sieben Prozesse abgespielt, deren Ausgangspunkt die Ermordung Kirows bildet:
Diese Prozesse sind sieben Varianten auf das gleiche Thema. Die verschiedenen Varianten sind kaum miteinander verbunden. Sie widersprechen einander im Kern und in den Details. In jedem Prozess organisieren die Ermordung Kirows immer andere Menschen, mit immer anderen Methoden und zu anderen politischen Zwecken. Schon allein ein Vergleichen der offiziellen Sowjetdokumente miteinander beweist, dass mindestens sechs von den sieben Prozessen Betrug sind. In Wirklichkeit sind alle sieben Betrug.
3. Der Prozess Sinowjew-Kamenew (August 1936) hat bereits eine ganze Literatur hervorgerufen, die eine Reihe äußerst wichtiger Argumente, Zeugnisse und Erwägungen zugunsten des Gedankens enthält, dass der Prozess ein böswilliger Betrug seitens der GPU ist. Ich nenne hier folgende Bücher:
Keine einzige dieser Arbeiten, die Ergebnisse ernster und gründlicher Untersuchungen sind, hat bisher eine kritische Beurteilung gefunden, sieht man von den Pöbeleien der Kominternpresse ab, die längst kein Mensch mit Selbstachtung ernst nimmt. Die grundlegenden Beweisführungen dieser Bücher sind auch meine Beweisführungen.
4. Schon seit dem Jahre 1926 macht die Gruppe Stalin Versuche, die einzelnen Gruppen der Opposition zu beschuldigen: der „Antisowjet“-Propaganda, der Verbindung mit „Weißgardisten, kapitalistischer Tendenzen, der Spionage, terroristischer Absichten und schließlich der Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. Alle diese Versuche, die Rohentwürfen ähneln, haben in offiziellen Akten, Zeitungsartikeln und Dokumenten der Opposition Spuren hinterlassen. Wenn man alle diese Entwürfe und Versuche der Fälschung in chronologischer Reihe ordnet, entsteht so etwas wie eine geometrische Progression falscher Beschuldigungen, deren Endglieder die Anklageschriften der letzten Prozesse sind. Auf diese Weise entdecken wir „das Gesetz der Fälschung“ und das Geheimnisvolle der angeblichen trotzkistischen Verschwörung verweht wie Rauch.
5. Genau so verhält es sich mit den ungeheuerlichen, auf den ersten Blick allen Gesetzen der menschlichen Psychologie widersprechenden Aussagen der Angeklagten. Die rituellen Reuebekenntnisse der Oppositionellen beginnen im Jahre 1924, hauptsächlich seit Ende 1927. Stellt man die Texte dieser Reuebekenntnisse nach der führenden Sowjetpresse zusammen – häufig aufeinanderfolgende Reuebekenntnisse der gleichen Personen –, dann erhält man die zweite geometrische Progression, deren Endglieder die einem Alpdruck gleichenden Geständnisse Sinowjews, Kamenews, Pjatakows, Radeks und der anderen in den Gerichtsverhandlungen bilden. Die politische und psychologische Analyse dieses allgemein zugänglichen und unbestrittenen Materials deckt restlos die inquisitorische Mechanik der Reuebekenntnisse auf.
6. Der mathematischen Reihe der Fälschungen und der mathematischen Reihe der Reuebekenntnisse entspricht die dritte mathematische Reihe: der Warnungen und Voraussagen. Der Autor dieser Zeilen und seine nächsten Gesinnungsgenossen haben aufmerksam die Intrigen und Provokationen der GPU verfolgt und auf Grund von einzelnen Tatsachen und Anzeichen viele Dutzende Male im Voraus vor provokatorischen Plänen Stalins und vor den sich vorbereitenden Amalgamen gewarnt, in Briefen wie in der Presse. Schon der Ausdruck Stalinsches „Amalgam“ wurde von uns acht Jahre vor Kirows Ermordung und den darauffolgenden Monsterprozessen in Anwendung gebracht. Entsprechende dokumentarische Beweise sind der New Yorker Untersuchungskommission zur Verfügung gestellt worden. Sie zeigen mit absoluter Unanfechtbarkeit, dass es sich nicht um eine illegale Verschwörung der Trotzkisten handelte, die im Jahre 1936 angeblich plötzlich entdeckt wurde, sondern um die systematische Verschwörung der GPU gegen die Opposition, mit der Absicht, ihr Sabotage, Spionage, Attentate und Vorbereitung eines Aufstandes in die Schuhe zu schieben.
7. Alle seit 1924 Tausenden und Abertausenden Oppositionellen abgerungenen „Reuebekenntnisse“ waren mit ihrer Spitze gegen mich gerichtet. Von allen, die in die Partei zurückkehren wollen – schreiben im Bulletin der Opposition (Nr. 7, November–Dezember 1929) Verbannte –, verlangt man: „Liefere Trotzkis Kopf!“ Entsprechend dem uns bereits bekannten Gesetz der mathematischen Reihe, führen alle Fäden der Verbrechen, des Terrors, des Verrats und der Sabotage in den Prozessen von 1936/37 beständig zu mir und zu meinem Sohn. Aber unsere ganze Tätigkeit in den letzten acht Jahren hat sich bekanntlich im Auslande abgespielt. In dieser Beziehung ist die Untersuchungskommission, wie wir bereits gesehen haben, in vorteilhafterer Lage. Die GPU hatte im Auslande zu mir keinen Zutritt, da ich stets von einem Ring treuer Freunde umgeben war. Am 7. November 1936 stahl die GPU in Paris einen Teil meiner Archive, konnte aber von ihm bis jetzt keinen Gebrauch machen. Der Untersuchungskommission stehen mein gesamtes Archiv, Zeugnisse meiner Freunde und Bekannten zur Verfügung, von meinen eigenen Aussagen abgesehen. Sie kann meine Privatkorrespondenz mit meinen Artikeln und Büchern vergleichen und somit nachprüfen, ob in meiner Tätigkeit irgendein Element von Dualismus enthalten ist.
8. Aber mehr noch. Die Direktiven der Verschwörung kamen angeblich aus dem Auslande (aus Frankreich, Kopenhagen und Norwegen). Dank einem besonders günstigen Zusammentreffen der Umstände, besitzt die Untersuchungskommission die volle Möglichkeit, nachzuprüfen, ob mich in den angegebenen Zeiten und an den angegebenen Orten alle die angeblichen Verschwörer besucht haben: Golzmann, Berman-Jurin, Fritz David, Wladimir Romm und Pjatakow. Wenn das Moskauer Gericht keinen Finger gerührt hat, um nachzuweisen, dass die Zusammenkünfte und Gespräche tatsächlich stattgefunden haben (Passfragen, Visa, Hotels etc.), so sind wir in der Lage, hier eine viel schwierigere Aufgabe zu lösen: mit Hilfe von Dokumenten, Zeugenaussagen, Zeit- und Ortsangaben zu beweisen, dass weder diese Besuche noch diese Gespräche stattgefunden haben und dass sie nicht stattfinden konnten. Juristisch gesprochen: ich bin in der Lage, in allen wichtigen Fällen, wo Daten angeführt sind, mit unerschütterlicher Bestimmtheit mein Alibi nachzuweisen.
9. Wenn der Verbrecher kein psychopathischer Kranker, sondern ein zurechnungsfähiges Subjekt und gar ein alter und erfahrener Politiker ist, so muss sein Verbrechen, so ungeheuerlich es auch sein mag, bestimmten Zwecken des Verbrechers entsprechen. Indes fehlt das entsprechende Verhältnis zwischen Zweck und Mittel in den Moskauer Prozessen völlig. Die Staatsanwaltschaft mutet denselben Angeklagten in verschiedenen Prozessen verschiedene Zwecke (bald nackten „Kampf um die Macht“ unter dem Sowjetregime, bald „Restauration des Kapitalismus“) zu. Die Angeklagten folgen in dieser Frage gehorsam der Staatsanwaltschaft. Die von den Angeklagten angewandten Mittel sind vom Standpunkt der vermeintlichen Ziele völlig absurd, dafür aber wie geschaffen der Bürokratie den besten Anlass zur Ausrottung jeglicher Opposition zu geben.
Die Schlussfolgerungen, die sich aus den ersten Schritten der Untersuchung ergeben, sind meiner Ansicht nach folgende:
1. Edition de Lee. Antwerpen, Onderwijsstr. 33.
Zuletzt aktualiziert am 10. Juni 2018