kolumne winfried wolf

Europa wählt – die Krise

Schwelbrand in allen Stockwerken – mit brandgefährlichen politischen Folgen

(20. März 2014)


Quelle: Lunapark21, Heft 25, 20. März 2014.
Kopiert mit Dank aus der LunaPark21-Webseite.
Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Noch nie gab es in Europa eine Wirtschaftsperiode, die offiziell als Konjunkturaufschwung definiert wird, in deren Verlauf es jedoch zu einer Intensivierung der Krisenerscheinungen kommt. Einmalig dürfte auch der Umstand sein, dass diese verallgemeinerte Krisensituation von der großen Mehrheit der EU-Bevölkerung durchaus wahrgenommen wird, dass jedoch in den europäischen Kernregionen Deutschland, Österreich, Niederlande, Skandinavien und, abgeschwächt bereits, in Frankreich ein höchst trügerisches Bild relativer Stabilität herrscht. Diese Konstellation wiederum trägt dazu bei, dass die verhängnisvolle Sparpolitik im Inneren (Stichwort: Schäuble feiert die schwarze Null) und die zerstörerische Expansionspolitik nach außen (Stichwort: die Rest-Ukraine wird zum extrem teuren Sanierungsfall der EU) fortgesetzt wird. Unter diesen Bedingungen droht die Katastrophe, die die Peripherieländer längst erleben, sich zu einer europaweiten zu verallgemeinern.

Nach dem Ende der tiefen Krise 2008 begann im Herbst 2009 ein neuer weltweiter Konjunkturzyklus. In seinem bisherigem Verlauf gab es in der EU nur 2010 und 2011 ein Mini-Wirtschaftswachstum und ansonsten leichten Rückgang oder Stagnation. Die zwanghafte Politik des Sparens und die Zwangsjacke des Euro haben ruinöse Folgen; im Frühjahr 2014 ist die Situation in der Eurozone durch vier Krisenfaktoren gekennzeichnet.

Deindustrialisierung und wirtschaftliche Auszehrung: Der produktive Sektor, die Industrie in der EU, leistet inzwischen weniger als 2007, als vor der Krise. Gleichzeitig sank der Anteil des produzierenden Gewerbes am EU-BIP deutlich. In den Peripherieländern wütet insbesondere bei den kleinen und mittleren Unternehmen eine Pleiteepidemie. So verschwanden im Zeitraum 2007 bis 2013 allein in Spanien 235.000 Unternehmen.

Die Peripherie rückt ins Zentrum: Als Griechenland 2010 in die Depression rutschte, wurde dies in der Öffentlichkeit als Sonderfall präsentiert. Als Irland, Portugal, Spanien und Zypern auf denselben Weg in den Abgrund getrieben wurden, sollte der Begriff „Peripherie“ beruhigen. Die neuen EU-Länder Rumänien, Bulgarien und Kroatien wurden bereits bei ihrem EU-Beitritt als Peripherie verortet; so blieben sie strukturell bis heute. 2014 geraten Italien, Finnland, Belgien und die Niederlande in eine vergleichbare Krisensituation. Noch ohne Frankreich als Krisenland im Wartestatus sind damit die Hälfte der EU-Bevölkerung und 60 Prozent der Menschen in der Eurozone von der offenen Krise betroffen.

Massenarbeitslosigkeit, Verelendung und Jugend ohne Zukunft: Im Verlauf des neuen Zyklus stieg in der EU die Arbeitslosenquote kontinuierlich; im Euroraum von 9 Prozent 2009 auf 12,2 Prozent 2013. Und dies ist der offizielle und der Durchschnittswert. In den Peripherieländern verdoppelte sie sich von 8 auf 15,5 Prozent. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit kletterte von 16 auf 25 Prozent. In Portugal und Italien sind 40, in Spanien 55 und in Griechenland 65 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit. Laut EU-Statistik leben in der EU inzwischen 125 Millionen Menschen in Armut – gut ein Viertel mehr als 2008. Dies trifft längst auch auf das angeblich stabile Zentrum zu: In Deutschland gibt es 13 Millionen Arme; 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Armut (allein in Berlin 136.000). Die Krise führte in den Peripherieländern zu einer drastischen Senkung der Arbeitseinkommen, sodass Apple in Athen für Software-Entwickler nur 800 Euro im Monat zahlen muss. In jedem Jahr verlassen Zehntausende gut ausgebildete Fachkräfte die Peripherieländer, um sich in den noch relativ stabilen Zentren zu verdingen (siehe S. 27).

Die Verschuldung steigt – trotz und wegen der Austeritätspolitik: Gerechtfertigt wird die Rosskur seitens der Bundeskanzlerin, der EU-Kommission, der Troika und den von Staatsgeldern ausgehaltenen wissenschaftlichen Instituten mit dem Verweis auf die „öffentlichen Schulden“; man dürfe „der späteren Generation“ nicht „unsere Schulden“ hinterlassen. Eingetreten ist das Gegenteil – und zwar gleich auf zwei Ebenen: Zum einen stieg die Staatsschuldenquote im Euroraum kontinuierlich an; der Anteil aller öffentlichen Schulden am BIP der Eurozone lag 2008 bei 70 Prozent; 2014 übersteigt diese Schuldenquote – im Euroraum-Durchschnitt – erstmals die 100-Prozent-Marke. Natürlich spielt dabei die desaströse Situation in der sogenannten Peripherie eine große Rolle; doch auch im angeblich stabilen Zentrum erreichen diese Werte Dimensionen, die unter normalen Bedingungen einen Staatsbankrott nahelegen. In Frankreich lag diese Quote 2007 bei 64 Prozent; 2013 wurden 96 Prozent erreicht. Mindestens vergleichbar wichtig ist inzwischen die private Verschuldung, die in Europa drastisch anwächst. Die privaten Schulden als Anteil am jeweiligen BIP stiegen z. B. in den Niederlanden von 227 Prozent im Jahr 2002 auf 255 Prozent 2012; in Dänemark und Spanien von 203 auf 260 bzw. 266. In Schweden von 241 auf 300 Prozent. Und in Irland von 208 auf 418 Prozent. Diese fast flächendeckende hohe private Verschuldung ist inzwischen der wesentliche Faktor zur Einengung der Binnennachfrage. Einigermaßen spät, aber überzeugend bilanzierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: „Eine hohe Privatverschuldung ist nicht ungefährlicher als eine hohe Staatsverschuldung.“ (30.11.2013).

Bislang konnten vor allem die deutschen Konzerne die stagnierende und teilweise rückläufige innereuropäische Binnennachfrage durch einen aggressiven Expansionskurs außerhalb der EU ausgleichen. Die Märkte in Nordamerika, in den Schwellenländern im Allgemeinen und in China im Besonderen schienen unerschöpflich (zu den deutschen Autokonzernen in den USA siehe S. 36 ff). Deutschland erzielte im vergangenen Jahr einen Leistungsbilanzüberschuss von schwindelerregenden 200 Milliarden Euro und lag damit weit vor China (147 Milliarden Euro). Für die östlichen Grenzen der EU wurde das Modell der „Ost-Partnerschaften“ entwickelt, mit denen diese Märkte so erschlossen werden sollten, dass diese zwar mit Waren und Kapital aus dem deutsch dominierten EU-Zentrum überrollt, die sozialen Folgekosten jedoch dort eingedämmt bleiben sollten.[1] Ende Februar erzielten die Putsch-Strategen aus EU und USA in Kiew einen regelrechten Pyrrhus-Sieg. Es dürfte nicht nur zur Abspaltung der Krim, sondern zur Ost-West-Spaltung der Ukraine kommen. In jedem Fall schafft sich die EU damit eine äußerst kostspielige und politisch explosive Sonderzone.

Ökonomie ist immer politisch. Die wirtschaftliche Entwicklung, die es in der Europäischen Union seit der großen Krise gab, demonstriert dies deutlich. Indem 2008/2009 der faktisch bankrotte Bankensektor mit öffentlichen Geldern saniert, aber in privater Kontrolle verblieb, kam es zu einem enormen Anstieg der politischen Macht des Finanzsektors und zu einer umfassenden Entdemokratisierung in den Mitgliedsländern und auf EU-Ebene, wie sich dies in den Bankenrettungsgesetzen, mit den Euro-Rettungsfonds und der Etablierung der Troika als Stoßtrupp der finstersten Mächte der Austeritätspolitik manifestiert (siehe die Meldungen zu Griechenland S. 14). [2] Die steigende Massenerwerbslosigkeit, die Verelendungstendenzen und die private Verschuldung sind gleichbedeutend mit der Schaffung eines zunehmend verzweifelten Subproletariat und einer neuen, verarmten oder auch nur sich existenziell bedroht fühlenden Mittelschicht. Dies wiederum ist der Nährboden für Rassismus, rechten Populismus und Faschismus. Wobei es immer die enge Verbindung zwischen Mob und Eliten gibt. So demonstrierten die EU-Oberen bereits im Jahr 2011 in Griechenland und sie demonstrieren seit Ende Februar 2014 in der Ukraine, dass aus ihrer Sicht zur Durchsetzung der EU-Politik faschistische oder rechtsextreme Gruppierungen akzeptabel sind. [3]

Der Schwelbrand im Haus Europa droht auch politisch brandgefährlich zu werden.

* * *

Anmerkungen

1. Siehe Hannes Hofbauer, Ostpartnerschaft endet am Dnjestr, in: Lunapark21, Heft 24, S. 32.

2. Interessanterweise gibt es mehr als drei Jahre nach Einrichtung der Troika im Europäischen Parlament eine Diskussion darüber, wer, bitteschön, wann beschlossen habe, dass die EZB Teil der Troika sei. Ergebnis: Es gab nie einen solchen Beschluss. Die EZB hat sich selbst legitimiert. Ihre Antworten gegenüber dem Europäischen Parlament sind dann von entsprechender Qualität: Kühl, nichtssagend und arrogant – den realen Kräfteverhältnissen entsprechend. Siehe Handelsblatt, 15.1.2014.

3. Ende 2011 wurde in Griechenland eine neue Regierung unter Loukas Papadimos weitgehend unter Troika-Diktat installiert. Ihr gehörte Makis Voridis als Infrastrukturminister an; er vertrat dabei die Partei Völkischer Orthodoxer Alarm (LAOS), eine antisemitische, rassistische Gruppierung. Damit wurde der Wahlerfolg, den bei den folgenden Wahlen im Februar 2012 die offen faschistische Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) erzielte, durch die EU begünstigt. In der Ende Februar 2014 in Kiew gebildeten Regierung nehmen Vertreter der Parteien Swoboda und Rechter Sektor (Prawy Sektor) entscheidende Positionen ein. Beide Parteien werden inzwischen auch in Deutschland in bürgerlichen Medien als „rechtsextrem“, „faschistisch“ und „antisemitistisch“ charakterisiert. Zumindest Prawy Sektor arbeitet u. a. eng mit der NPD zusammen. Vgl. z. B. Berliner Zeitung, 9.3.2014.


Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2023