Veröffentlichungsort unbekannt; September 2017.
Kopiert mit Dank aus Winfried Wolf – Homepage.
Transkription & HTML-Markierung:
Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wurde in den letzten 15 Jahren seines Lebens in den Mainstream-Medien als ein aufgeklärter, demokratischer und für die Bedürfnisse der Armen und Schwachen aufgeschlossener Mensch dargestellt. Das war spätestens so, als er 2007 der globalisierungskritischen Bewegung Attac beitrat. WW zeichnet in diesem Nachruf – Geißler starb im September 2017 – ein anderes Bild. Er sieht eine Kontinuität in dem Wirken dieses Mannes – ein Engagement ausschließlich im Interesse der Herrschenden, wenn auch auf eine ausgesprochen raffinierte, wenn nicht durchtriebene Art und Weise. |
Egal, ob nun das Lateinische „De mortuis nil nisi bene [dicendum (est)]“ falsch als „Über-Tote-nur-Gutes-reden“ oder richtig mit „Über-Tote-fair-urteilen“ übersetzt wird: über den toten Geißler muss jeder schlecht reden, der sachlich argumentiert. Geißler war Zeit seines politisch aktiven Lebens „Generalsekretär“, jemand, der ausschließlich für die Interessen der führenden prokapitalistischen BRD-Partei kämpfte, gegebenenfalls für die Interessen des ideellen Gesamtunionisten. Dies auf Biegen und Brechen. Mit Lüge und Intrige. Mit Ironie und Demagogie. Die „SPD ist ein Verbrecher“. So Geißler zum innenpolitisch-parlamentarischen Gegner Nr. 1. Er begründete dies schlitzohrig mit Bezug auf Bertolt Brechts Diktum, wonach der ein Verbrecher sei, der die Wahrheit weiß und sie Lüge nennt. „Der Pazifismus der 30er Jahre [...] hat Auschwitz erst möglich gemacht.“ So Geißler in der Nachrüstungsdebatte 1983 zum außerparlamentarischen Gegner. Noch in seinem (posthum veröffentlichten) letzten Interview (SZ vom 13.9.2017) untermauerte der Ewiggeneralsekretär diese Behauptung mit der faustdicken Lüge, die Friedensbewegung habe „gegen [US-]Raketen demonstriert, die es damals noch gar nicht gab.“
Heute kaum mehr bekannt dürfte Geißlers fatale Aussage sein, US-Präsident Ronald Reagan habe 1985 „Charakter gezeigt“, als er sich weigerte, den damaligen SPD-Vorsitzenden Willy Brandt im Rahmen seines Deutschland-Besuchs zu empfangen. Er machte diese Feststellung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Geißlers Langzeit-Chef, Helmut Kohl, in Bitburg Reagan zum Shakehands an die Gräber von Waffen-SS-Schergen dirigierte. Willy Brandt bezeichnete ihn damals zu Recht als „seit Goebbels schlimmste(n) Hetzer in diesem Land.“
In allen Nachrufen auf Geißler wird positiv auf die Stuttgart-21-Schlichtung Bezug genommen. Beispielhaft dafür ist die Äußerung des Grünen-Spitzen-Duetts Katrin Göring-Eckard und Cem Özdemir: „Sein Engagement als Schlichter – etwa beim Konflikt um Stuttgart 21 – war ein Geschenk für unsere Demokratie.“ Richtig ist: Das war sein Meisterstück – jedoch ein Meisterstück in jesuitischer Dialektik und teuflischer Demagogie. Ein Geschenk an die Grünen, um diesen erstmals den Weg zu öffnen, als führende Partei einer Landesregierung an die Fleischtröge zu gelangen. Geißler war es gelungen, buchstäblich alle Parteien für seine Intervention in den Konflikt, der kurz zuvor, am „Schwarzen Donnerstag“, dem 30. September 2010, in eine blutige Polizeiaggression gemündet war, zu gewinnen. In seiner Rede zum Abschluss der Schlichtung hob er hervor, dass er von einem Allparteienbündnis getragen sei: „Am Mittwoch, dem 6. Oktober 2010, wurde ich im Landtag von Ministerpräsident Mappus als Schlichter (...] vorgeschlagen [...], vom Fraktionsvorsitzenden Kretschmann in derselben Sitzung bestätigt. [...] Dem schlossen sich alle Landtagsfraktionen an.“ Und obgleich es bei der Veranstaltung nach klarer Verabredung gar keinen abschließenden Schlichter-Spruch am Ende geben sollte, gelang Geißler am letzten Tag des „Faktenchecks“, am 30. November 2010, der Giga-Clou. Um 12.06 Uhr verkündete Heiner Geißler seinen schlichten Spruch: „Ich möchte Ihnen jetzt mein Votum, das Ergebnis der Schlichtung, bekannt geben [...] (Ich) halte ich die Entscheidung, Stuttgart 21 fortzuführen, für richtig.“ Geißler schloss scheinbar messerscharf: „Für Stuttgart 21 [...] gibt es eine Baugenehmigung. [...] Die rechtliche Situation erscheint mir eindeutig. Der Bau von Stuttgart 21 käme nur dann nicht, wenn die Deutsche Bahn AG freiwillig darauf verzichten würde.“ Das war natürlich alles auch am Beginn der „Schlichtung“ bekannt. Und der Faktencheck hatte eigentlich ergeben, dass so gut wie alle harten Fakten – Geld, Geologie, Kapazität – gegen den S21-Weiterbau sprachen. Doch die Inszenierung der Schlichtung, die Autorität, die Geißler als angeblich Überparteilicher zugeschrieben erhielt und die mediale Vermarktung der Veranstaltung vor einem Millionen-TV-Publikum hatten die Situation gewendet: Aus einer Zweidrittelmehrheit gegen S21 wurde ein Patt, das dann ein Jahr später in der Volksabstimmung nochmals zuungunsten der S21-Gegner gedreht werden konnte.
Ja, der Geißler Einsatz bei S21 – und seine Einsätze bei vielen anderen Themen – waren „ein Geschenk“. Aber kein solches an die Demokratie. Es war vor allem ein Geschenk zur Aufrechterhaltung der freiheitlich demokratischen Grund-, Boden- und Spekulationsordnung.
Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2023