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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu Berlin vom 14. bis 21. November 1892, S. 275–278.
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Sie werden vielleicht sagen, dass wir mit unseren Anträgen offene Türen einrennen, dass niemand die Notwendigkeit bestritten habe, die Frauen auch zur Anteilnahme am Klassenkampf heranzuziehen. Die Mehrzahl der Genossinnen aller Städte ist jedoch der Ansicht, dass in dieser Beziehung noch nicht alles geschehen ist, was geschehen könnte. Es wird gesagt, es gibt kein besonderes Vereins- und Koalitionsrecht für die Arbeiterinnen. Ganz recht. Aber ich finde, in der Auslegung und Anwendung des Vereins- und Koalitionsgesetzes gehen die Behörden den Frauen gegenüber mit einer Weisheit vor, gegen die Salomon der reine Waisenknabe war (Heiterkeit), in einer Weise die – ich will mich parlamentarisch ausdrücken – der – Pflichttreue, zumal des preußischen Beamtentums, zur allerhöchsten Ehre gereicht (Heiterkeit.) Vielfach hat gerade der Umstand, dass dem weiblichen Geschlecht die politischen Rechte versagt sind, dazu herhalten müssen, den Frauen auch auf wirtschaftlichem Gebiete das Leben zu erschweren. In vielen Gewerkschaften, in denen sich die Frauen mit den Männern organisiert haben, heißt es bei irgendeinem Thema, dass dasselbe die Politik streife. Es ist deshalb bei dem heutigen Stande der Entwicklung sehr notwendig, die Grenze zu finden, wo eine Frage aufhört, eine wirtschaftliche, und anfängt, eine politische zu werden. Es muss aber auch weiter mit aller Kraft dahin gewirkt werden, dass dem weiblichen Geschlecht das Recht zugestanden wird, sich in Vereinen und Versammlungen auch mit politischen Fragen zu beschäftigen. Sie wissen, dass die politische Rechtlosigkeit des weiblichen Geschlechts nur als Vorwand genommen wird, um die Organisation der Arbeiterinnen zu hintertreiben, um es ihnen unmöglich zu machen, gegen den Stachel der kapitalistischen Ausbeutung zu löcken. Das weibliche Geschlecht schlägt man, aber das Proletariat meint man. Was unseren dritten Antrag anlangt, so liegt es uns sehr fern, in den Versammlungen gegen die Vorrechte der Männer zu hetzen. Die Arbeiterinnen wissen sehr wohl, dass der Krieg gegen das männliche Geschlecht nur eine Zersplitterung der Kräfte bedeuten würde, nur eine Ablenkung von dem eigentlichen Ziele. Die Frau des Arbeiters leidet heute weniger unter den Knechtschaft des Mannes als von der Abhängigkeit von den Kapitalisten. Wenn sie früher von dem Manne mit Peitschen gezüchtigt wurde, so wird sie heutzutage vom Kapitalismus mit Skorpionen gezüchtigt. Wir wollen in unseren Versammlungen den Frauen des Proletariats zeigen, dass die sozialdemokratische Partei die einzige ist, welche in praktischer Hinsicht, in der Frage des sozialpolitischen Lebens die Interessen der gesamten Arbeiterklasse und dabei auch die der Arbeiterinnen auf das wirksamste und entschiedenste vertritt. Sie werden vielleicht sagen, dass wir den Männern wahrhaftig nicht zumuten können, in Zeiten der Wahlagitation auch noch für uns Versammlungen abzuhalten. Ich bin aber der Ansicht, wenn die Genossen es einmal für Wert halten, 99 Versammlungen abzuhalten, dann haben sie auch die Zeit, die hundertste Versammlung abzuhalten. Es kommt nicht auf das Opfer an, sondern ob das Opfer auch aufgewogen werde durch den Nutzen, den man daraus ziehen kann. Wir sind der Ansicht, dass die Sozialdemokratie nur Nutzen davon ziehen kann, wenn die Frau des Proletariers auch in politischer Hinsicht aufgeklärt wird. Die Erfolge der sozialistischen Wahlkämpfe in Frankreich sind in hervorragender Weise dem Anteil zuzuschreiben, welchen die Arbeiterinnen an dem politischen Kampf gewinnen und dem Einfluss, welchen sie während der Wahlagitation zu Gunsten der sozialistischen Kandidaten ausgeübt haben. Dasselbe trifft auch auf den letzten Wahlkampf in England zu. Wir sehen auch bereits in Deutschland, dass im gegnerischen Lager überall Stimmen laut werden, welche befürchten, dass die Sozialdemokratie unter der Frauenwelt der Arbeiterklasse mehr und mehr an Einfluss gewinnt. Die Kölnische Zeitung hat in einem Artikel einen Schmerzensschrei erhoben, dass so viele unreife weibliche Elemente durch die neuen Bestimmungen der Gewerbe[ordnungs]novelle jetzt mehr freie Zeit zur Verfügung hätten und dass man sich angelegen sein lassen müsse, diese unreifen Elemente vor schädigenden Einflüssen zu bewahren. (Der Vorsitzende gibt mit der Glocke das Zeichen, dass die Redezeit der Rednerin abgelaufen ist.) Die Männer haben so lange geredet, da können wir Frauen auch einmal reden. (Große Heiterkeit.) Die gesamte Bourgeoisie weiß sehr gut, dass, wenn es einmal zur Entscheidung kommt, die Agitatorinnen und Agitatoren der Schwarzen nicht so zu fürchten sind wie die Agitatoren und Agitatorinnen des Zukunftsstaats, der Roten. Man spricht mit Unrecht von einer sozialdemokratischen Frauenbewegung, weil die sozialdemokratische Frau gar keine besondere Bewegung bildet, nicht ein Staat im Staate ist, sondern sich ganz einfach der sozialdemokratischen Bewegung einfügt. (Bravo!) Wenn ich mich verpflichtet halte, für diese Anträge einzutreten, so geschieht dies nicht, weil ich eine Frau bin, sondern weil ich mich zuerst als Genossin fühle und nur mit Rücksicht auf den Wert und die Bedeutung des weiblichen Geschlechts für die Gewinnung des Proletariats halte ich mich für verpflichtet, für diese Anträge einzutreten. Ich bitte Sie nicht, dass Sie aus Gerechtigkeit und Billigkeit diesen Anträgen zustimmen möchten. Denn ich weiß ganz gut, keine einzige politische Partei hat sich in ihren Handlungen und Haltungen durch die schönen Augen der Dame Gerechtigkeit bestimmen zu lassen. Wenn ich Sie auffordere, diesen Anträgen ihre Zustimmung zu geben, so tue ich es im Interesse des gesamten Proletariats. Auf wirtschaftlichem Gebiete ist die Frau durch die Entwicklung des modernen Lebens die Schmutzkonkurrentin des Mannes geworden; sie soll auf gewerkschaftlichem wie politischen Gebiete seine Mitstreiterin werden. Mit ihrer Hilfe werden sie auch die Landbevölkerung und das Kleinbürgertum erobern. Wir würden alle sehr schlechte Streiter sein, wenn wir in diesem Kampfe die intimste Freundin unberücksichtigt ließen: die reaktionäre Frau! Stimmen Sie unseren Anträgen zu, um für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse neue Streiter zu gewinnen, damit wir alle ohne Unterschied, im Unterrock oder in der Hose, als Soldaten uns um dieselbe Fahne scharen, zum Siege des Proletariats über die Bourgeoisie! (Stürmisches Bravo und Händeklatschen.)
1. „Der Parteitag wolle beschließen:
Zuletzt aktualisiert am 6 August 2024