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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, Nr. 2, 23. Januar 1895.
Vgl. Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 69–73.
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Frankreich hat seinen Perier, Deutschland seinen Stumm. Hier wie da ist es ein Vollblutgroßkapitalist, welcher, wir wollen nicht sagen herrscht, aber den Ton angibt, nach welchem regiert wird. Es war deshalb keine zufällige, sondern eine tief in dem Wesen der Verhältnisse begründete und äußerst kennzeichnende Erscheinung, dass König Stumm als erster seitens der großen „staatserhaltenden“ Parteien das Wort in den Debatten über den politisch-juristischen Wechselbalg „Umsturzvorlage“ ergriff. Durch ihn und aus ihm sprach das Großkapital, das noch herrscht, das sich noch im Vollbesitz aller Machtmittel befindet, aber bereits den Boden unter seinen Füßen wanken fühlt und alles auf die eine Karte der brutalsten Gewaltpolitik setzen will.
Was erklärt denn die hervorragende, um nicht zu sagen aufdringliche Rolle, welche König Stumm in unserem öffentlichen, in unserem politischen Leben spielt? Keineswegs seine persönlichen Fähigkeiten, nichts weniger als seine persönlichen Leistungen auf irgendeinem Gebiet, insbesondere durchaus nicht sein Wissen und Tun als Politiker. Einzig und allein sein Besitz, sein Riesenbesitz. Wem die kapitalistische Wirtschaftsweise durch die Ausbeutung proletarischer Arbeitskräfte den großen Geldsack gegeben hat, dem gibt die kapitalistische Gesellschaft Einfluss und Amt auch ohne die Gabe des Verstandes, die leider nur in dem bekannten Sprichwort eine stete Begleiterscheinung von Einfluss und Amt ist. König Stumms politische Rolle beweist dies höchst lichtvoll.
Wer ist Herr Stumm als Person? Seinem öffentlichen Auftreten nach offenbar ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsmensch, ausgerüstet mit der Durchschnittsbildung der Bourgeoisie, ohne Blick und Verständnis für die großen Zeit- und Streitfragen, welche unter dem Hauch des geschichtlichen Werdens emporsprossen, ohne eigene, noch weniger aber große, geistvolle, fruchtbare Ideen, ohne eigenen originellen und ausdrucksvollen Stil. Wer ist Herr Stumm als Großkapitalist? Der Kaiserberater Stumm, der einflussreiche, für den politischen Kurs maßgebende Parlamentarier Stumm, der König Stumm, der Selbstherrscher über viele Tausende in Neunkirchen, einem Staat im Staate, hinter dessen Grenzen alle allgemeinen Gesetze über bürgerliche Freiheiten ihre Gültigkeit verlieren, hinter dessen Grenzen nur ein Wille gilt: der Wille des ausbeutenden Arbeitsherrn.
König Stumm ist keine Person, er ist ein Typus, er ist der typischste Vertreter des Großkapitals, seine Verkörperung in Fleisch und Blut. Und so farblos und nichtssagend der Herr als Individualität ist, so bedeutsam und charakteristisch ist er als Typus seiner Kaste. Unter diesem Gesichtswinkel muss man König Stumms letzte Rede gegen den Umsturz auffassen, unter diesem Gesichtswinkel allein wird sie in ihrer vollen protzigen Dummdreistigkeit begreiflich.
Diese Rede war alltäglich bis zur ödesten Banalität, gemeinplätzlich bis zur völligen Geistesarmut, sie war maßlos bis zur Brutalität, offen bis zum Zynismus. Und in all diesen ihren charakteristischen Eigenschaften war sie ein Ausdruck der Verfassung, des Dichtens und Trachtens, der Ideen und Bestrebungen der winzigen großkapitalistischen Minderheit.
Der Polarstern dieser Minderheit ist der Profit, und der brünstig begehrte, mit allen Mitteln erstrebte Profit schwillt um so strotzender an, je rücksichtsloser und umfassender die Ausbeutung der Arbeiter und Arbeiterinnen ist, je vollständiger ihre Knechtschaft. Deshalb fort mit allen Einrichtungen, welche das Proletariat gegen die Auspressung und Verwüstung seiner Kräfte schützen! Fort mit allen Rechten, mittels deren die Habenichtse sich ihrer Haut wehren! Vernichtung der Partei, welche als Führerin und Vorkämpferin der Enterbten auf dem Plan steht, die Beschränkung der Plusmacherei in der Gegenwart, ihre Beseitigung in der Zukunft erstrebt und zu diesem Zweck die werktätige Masse den richtigen Gebrauch der Waffen, der bürgerlichen Freiheiten lehrt!
So gab Herr Stumm als Typus seiner Kaste seiner sittlichen Entrüstung darüber Ausdruck, dass seinerzeit durch Ablehnung des berüchtigten Kontraktbruchparagraphen die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiter nicht noch vollständiger gemacht wurde, als sie ohnehin schon ist. So sprach er in komischem Ingrimm von der Gewerbeordnung als von einem „Ausnahmegesetze gegen die Arbeitgeber“. Man denke: unsere schwächliche, verunglückte Gewerbeordnung, unser Arbeitertrutzgesetz! So tobte er gegen die Pressefreiheit und das Koalitionsrecht. Gegen die Pressefreiheit, die in Deutschland ach! gar ein so lendenlahmes, dürftiges Geschöpfchen ist, das schon längst vor der Grenze des Königreichs Stumm ehrfurchtsvoll Halt macht! Gegen das Koalitionsrecht, das im herrlichen Deutschen Reiche für Hunderttausende von Arbeitern – und Arbeiterinnen erst recht – gar nicht, für Millionen nur notdürftig vorhanden ist und das man in Neunkirchen bloß als fromme Sage kennt! So fiel er wütend über das allgemeine Wahlrecht her, bei dessen Ausübung die Proletarier zwar oft genug – und nicht zum wenigsten in Stumms Herrschaftsbezirk – durch das kaudinische Joch der Ausbeuter gehen müssen, mittels dessen aber die Arbeiterklasse doch der Kapitalistensippe auf die Finger zu klopfen und gegen dieselbe ihre Befreiung zu erkämpfen vermag. So verfluchte Herr Stumm in blinder Wut alles, was dem Großkapital nicht beliebt: die harmlosen, schüchternen Kathedersozialisten und Philanthropen, welche im Namen der Wissenschaft und Humanität hier und da demütig um bescheidene Reformen flehen; die vereinzelten evangelischen Pfarrer, welche im Namen der Religion eine Milderung himmelschreiender gesellschaftlicher Schäden fordern. Und als Schlachtruf und Armutszeugnis zugleich wieder und wieder das „Ceterum censeo“: Die Sozialdemokratie muss vernichtet werden, sie muss mit allen Gewaltmitteln vernichtet werden, denn anders ist ihr nicht beizukommen!
Zu diesem Zwecke die Ächtung einer Partei, der stärksten des Reiches, die Entrechtung einer ganzen Klasse und eventuell als Zugabe Maßregeln, im Vergleich zu welchen die drohende Zerschmetterung unserer blutarmen politischen Freiheiten als „reines Kinderspiel“ erscheinen wird.
Die heuchlerische bürgerliche Gesellschaft, welche den Schein so gern wahrt, möchte Stumms Pronunziamento der nacktesten Gewaltpolitik im Dienste einer Kaste als belanglosen Ausfluss einer überschäumenden Individualität hinstellen. Vergebens! König Stumm hat nichts gesagt, was die kleine Welt der Ausbeuter nicht dächte. Nicht die ungezügelte, temperamentvolle Natur eines Heißsporns spricht aus seinen Worten, sondern das beschränkte Protzentum einer Klasse.
Der Geist des Großkapitals war es, der mit und durch Herrn Stumm erklärte: Der Staat bin ich, die Religion bin ich, die Wissenschaft bin ich! Du, werktätiges Volk, sollst keine anderen Götter haben neben mir. Mir sollst du zinsen und fronden dein Leben lang; von den Brosamen meiner „Wohltaten“ sollst du dir Bettelsuppen kochen; deine Sklaverei sollst du deine Freiheit nennen, für meine Willkür als deinen Segen Dankesworte stammeln!
Als Volksvertreter, im Namen des Volkes predigte Herr Stumm behufs Unterjochung des werktätigen Volkes den Umsturz aller Rechtsbegriffe, die Revolution von oben. Welch bitterer Hohn auf die bürgerliche Freiheit! Denn nicht von Volksvertrauen, nicht von Rechts wegen sitzt Herr Stumm im Parlament. Sind es ja seine eigenen Lohnsklaven, die ihn dorthin entsendeten, weil ihre Stimme eine Ware ist, die ihr Herr und Meister mit ihrer Arbeitskraft zusammen für kärglichen Lohn kaufte. Selbstherrlich und unverantwortlich seinen so genannten Wählern gegenüber, das heißt seinen verknechteten Untertanen, vertritt er im Reichstage nichts als das Großkapital, das die Gesellschaft nicht einmal mehr auf Grund seiner wirtschaftlichen Leistungen beherrscht, sondern kraft seiner Finanzmacht. Ein König von Mammonsgewalt! Ein Volksvertreter von Mammonsgewalt! Noch ist er im Vollbesitz seiner Macht, aber schon peinigt ihn das aufkeimende Bewusstsein ihres Schwindens, schon blendet auch ihn der hell lohende Schein, in welchem die Götterdämmerung der alten Welt und die Morgenröte einer neuen Zeit zusammenstrahlen. Und nach Kinderart singt auch er am lautesten, weil ihn die Furcht mit eisernem Griffe gepackt hat.
Zuletzt aktualisiert am 6 August 2024