Clara Zetkin

Die Eheschließung vor der Kommission
zur Vorbereitung des Entwurfs
eines bürgerlichen Gesetzbuches

(27. Mai 1896)


Quelle: Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 11, 27. Mai 1896.
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Die Kommission, welche von dem Reichstag mit der Vorbereitung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches betraut ist, erörtert seit den letzten Wochen das Familienrecht, damit eine Reihe von Fragen, welche für die Frauenwelt von höchstem Interesse sind. Denn die Bestimmungen des Entwurfs über Eheschließung und Ehescheidung, über die Rechtsstellung der Frau als Gattin und Mutter, über ihr Güter- und Erwerbsrecht, greifen, falls sie Gesetzeskraft erlangen, in tief einschneidender Weise in das Leben der Frau ein. Wir werden deshalb, soweit es uns möglich ist, über die einschlägigen Verhandlungen der Kommission berichten.

Dieselbe beschäftigte sich zuerst mit den Bedingungen des Entwurfs über die Eheschließung. Schon der Entwurf zeigt deutlich die Tendenz, den jetzigen Zustand zu verbösern, die Eheschließung noch mehr als gegenwärtig zu erschweren. Ein recht zeitgemäßes konsequentes Beginnen in Tagen, wo die „Gutgesinnten“ nicht genug von der sittlichen Kraft des Familienlebens deklamieren können! Die konservativ-ultramontane Majorität der Kommission, zusammen mit den Nationalliberalen und in den meisten Fragen verstärkt durch freisinnige Bundesbruderschaft, hat mit verständnisinnigem Erfassen der Zeit und ihrer Forderungen diese Tendenz noch verschärft. So niedrig wir das Verständnis der bürgerlichen Politiker auch jederzeit eingeschätzt haben: die Haltung der meisten Kommissionsmitglieder hat der vorliegenden Frage gegenüber unsere kühnsten Erwartungen noch übertroffen. Dass die Kommission sorgsamst alle Bestimmungen des Entwurfs beibehalten hat, welche bezüglich der Eheschließung die Lage der Frau besonders ungünstig gestalten müssen, braucht kaum betont zu werden. Recht kennzeichnend ist es, dass das edle Brüderpaar der Ultramontanen und Konservativen einen kräftigen Vorstoß gegen die Zivilehe wagte. Die sozialdemokratischen Kommissionsmitglieder, Stadthagen und Frohme, waren die einzigen, die nach jeder Richtung hin ganz konsequent für gebotene Reformen in Sachen der Eheschließung eintraten. Ihre Anträge wurden hier und da von den Antisemiten oder dem einen oder anderen Freisinnigen unterstützt, gelangten aber nie zur Annahme.

Der Entwurf bestimmt, dass aus einem Verlöbnis nicht auf Schließung einer Ehe geklagt werden kann, und dass auch das Versprechen einer Ehe, falls deren Eingehung unterbleibt, nichtig sein soll. Er will aber den das Verhältnis lösenden Verlobten verpflichten, den anderen Verlobten und dessen Eltern den Schaden zu ersetzen, der daraus entstanden ist, dass in Erwartung der Ehe Anforderungen gemacht worden sind. Auch soll eine unbescholtene Verlobte, die ihrem Bräutigam die Beiwohnung gestattete, eine „billige Entschädigung“ verlangen können, über deren Höhe das Ermessen des Richters entscheidet. „Wenn ein wichtiger Grund für die Störung des Verlöbnisses vorliegt“, so tritt jedoch kein Ersatz ein. Die Ultramontanen wollten aus dem Verlöbnis die Verpflichtung zur Eheschließung herleiten. Stadthagen dagegen erklärte sich mit dem Prinzip des Entwurfs einverstanden. Scharf wendete er sich aber dagegen, dass auch ein Mann für den Fall des Rücktritts Entschädigung für die gemachten Aufwendungen verlangen könne, ja selbst Entschädigung dafür, dass er in Erwartung der Heirat seinen Beruf aufgegeben habe. Völlig unangebracht sei es, dem richterlichen Ermessen bezüglich der Entschädigung freien Spielraum zu lassen. Der Richter kenne die meisten Lebensverhältnisse nicht und stehe im Allgemeinen leider auf Seiten des Mannes. Die Begriffe „wichtiger Grund“ und „billige Entschädigung“ müssten deshalb durch weniger kautschukartige Bestimmungen ersetzt werden. Bei der Festsetzung der Entschädigung für eine geschwächte Braut müssen insbesondere die Vermögensumstände des Mannes und die Erschwerung der Heiratsmöglichkeit für das Mädchen berücksichtigt werden. Wie einseitig, ja geradezu das weibliche Geschlecht kränkend viele Richter bei Festsetzung der Entschädigungssumme verfahren, zeigt die württembergische und sächsische Praxis, nach der 20–60 Mark Deflorationsentschädigung zugebilligt wird, während in Hamburg dieselbe eventuell bis 10.000 Mark und mehr beträgt. Die auf eine entsprechende Änderung des Entwurfs zu Gunsten der Frau abzielenden Anträge wurden sämtlich abgelehnt. Nur wird beschlossen, auch den Personen, die an Stelle der Eltern Aufwendungen in Folge des Verlöbnisses gemacht habe, den Anspruch auf Schadensersatz zuerkennen und die im Entwurf vorgesehene Verjährungsfrist von 1 Jahr auf 2 Jahre zu erhöhen.

Auch die Bestimmungen des Entwurfs, welche die Ehemündigkeit des männlichen Geschlechts von 20 auf 21 Jahre erhöhen und Dispensation nicht zulassen wollen, entgegen den jetzigen Vorschriften für Mädchen und Männer bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres die Eheschließung von der Zustimmung des Vaters abhängig machen, wurden von den Sozialdemokraten erfolglos bekämpft. Gegen die Hinausschiebung der Ehemündigkeit wurden eine Reihe statistische Angaben ins Feld geführt. In Berlin fanden 1890 von 277.429 verheirateten Frauen eine im Alter unter 15, drei im Alter unter 16, elf im Alter unter 17, 106 im Alter unter 18 Jahre, 23 Ehemänner waren unter 20 alt, 84 standen im Alter von 20–21 Jahren, Alljährlich werden in Deutschland 2–3000 Gesuche um die Eheerlaubnis von Mädchen unter 16 Jahren bewilligt. Vor 1875 war in Preußen das Ehemündigkeitsalter für Mädchen auf 15 Jahre festgesetzt. Die Fleischesvergehen gegen Mädchen unter 16 Jahren haben zugenommen. Die bürgerliche Majorität hatte für die Sprache dieser Zahlen kein Verständnis. Zwar zog der Freisinnige Kaufmann seinen Antrag zurück, das Ehemündigkeitsalter für Mädchen von 16 auf 18 Jahre zu erhöhen, aber die Bestimmungen des Entwurfs, das höhere Ehemündigkeitsalter der Männer betreffend, gelangten zur Annahme. Der Mann unter 21 Jahren darf seinen Geschlechtstrieb mittelst der Prostitution befriedigen, aber nicht in der Ehe! Er kann ein Mädchen verführen, aber er darf es nicht heiraten, um ihn in den Augen der Gesellschaft die „Ehre zurückzugeben“. Er kann Vater eines Kindes werden aber dieses Kind muss Jahre lang als außereheliches, so gut wie rechtlos durch die Welt laufen! Welch sinnige Logik, deren Folgen sich in schärfster Weise gegen die bürgerliche konventionelle Sittlichkeit und Sittlichkeitsheuchelei wenden. Es liegt auf der Hand, wie durchaus ungerechtfertigt es ist, wie verhängnisvoll es in vielen Fällen für das Lebensglück vieler Menschen werden kann, dass Verlobte bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres der Einwilligung des Vaters zur Eheschließung bedürfen sollen. Die Bestimmung ist nach den gesellschaftlichen Verhältnissen zur Zeit des handwerksmäßigen Betriebs zugeschnitten, wo die verheirateten Kinder sich als Glieder einer Wirtschaftsgemeinde der Familie des jungen Mannes oder der jungen Frau zufügten. Junge Leute, die mit 21 Jahren für reif genug gelten, die Rechte der Großjährigen zu erlangen, denen muss doch auch bezüglich der Eheschließung das Selbstbestimmungsrecht zuerkannt werden. Und dies um so mehr, als in unseren Tagen die Mehrzahl von ihnen, die junge Generation des arbeitenden Volkes, lange vor dem 25. Jahre wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen muss und von den Eltern unabhängig ist.

Das Gesetz verbietet die Ehe zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, zwischen voll- und halbbürtigen Geschwistern, zwischen Stiefeltern und Stiefkindern, Schwiegereltern und Schwiegerkindern, zwischen Adoptierten und zwischen einer wegen Ehebruch geschiedenen Person und dem oder der Mitschuldigen. Der Grund des Eheverbots zwischen nahen Blutsverwandten ist begreiflich und berechtigt; es soll damit der Inzucht vorgebeugt werden, welche zum Verkommen des Geschlechts führt. Für das Eheverbot zwischen Adoptierten ist uns kein plausibler Grund ersichtlich. Ganz widersinnig erscheint uns aber, einem wegen Ehebruchs Geschiedenen die Verheiratung mit der Person gesetzlich unmöglich zu machen, mit welcher die Ehe gebrochen worden ist. Der Entwurf schlägt nun als neues Eheverbot vor: „Eine Ehe darf nicht geschlossen werden zwischen Personen, von denen die eine mit Eltern, Voreltern oder Abkömmlingen der anderen Geschlechtsgemeinschaft gepflogen hat.“ Die sozialdemokratischen Kommissionsmitglieder traten für die Streichung des neuen Eheverbots ein und betonten insbesondere, dass es unter Umständen äußerst schwierig, ja unmöglich sei, einer Aufforderung entsprechend den Beweis zu erbringen, dass die vom Gesetz ins Auge gefasste Geschlechtsgemeinschaft, auch eine außereheliche, nicht bestanden hat. Trotzdem gelangte der Paragraph durch die Stimmen der Freisinnigen, Ultramontanen und Nationalliberalen zur Annahme. Dagegen fiel ein Zentrumsantrag, auch die Eheschließung zwischen Oheim und Nichte und Neffen und Tante, zwischen Geschwisterkindern, zwischen einem Verlobten und den Verwandten des anderen in gerader Linie zu verbieten. Das gleiche Schicksal erfuhr der unseres Erachtens alberne Antrag des Zentrums, Ehebrechern unter keinen Umständen Dispensation von dem Eheverbot zu erteilen. Wir sagen der alberne Antrag, denn im Allgemeinen ist anzunehmen, dass der Ehebruch aus Liebe geschehen ist. Das Eheverbot zwischen Ehebrechern verbietet also nur, dass eine auf gegenseitiger Sympathie beruhende Geschlechtsgemeinschaft die äußere Form annimmt, welche der heutigen Gesellschaft als die legitime gilt. Denn das wird sich doch das Zentrum selbst nicht einreden, dass durch die Kraft des betreffenden Paragraphen auch nur ein Ehebruch unterbleibt, oder vor der Ehescheidung stattgefundene ehebrecherische Beziehungen nach der Ehescheidung nicht fortgesetzt werden, dafern es den Beteiligten sonst beliebt.

Dem in ihr waltenden Geiste treu, beschloss die Kommission, dem Entwurf entsprechend die Eheschließung von Militär- und Landesbeamten durch die Voraussetzung besonderer Erlaubnis zu erschweren. Dagegen lehnte sie Anträge ab, welche die Beseitigung der Zivilehe bezweckten. Gefordert wurde:

  1. die Einführung der kirchlichen Ehe und einer Notzivilehe;
     
  2. die Einführung einer fakultativen Zivilehe;
     
  3. die eventuelle Verpflichtung des Standesbeamten, der kirchlichen Zeremonie beizuwohnen und erst dann die Ehe für geschlossen zu erklären.

Nach sehr lebhaften Debatten wurden sämtliche Anträge verworfen. Die Zivilehe bleibt also obligatorisch. Die Redaktionskommission soll jedoch eine Fassung finden, die klarer als der Entwurf und das bestehende Gesetz zeigt, dass die vor dem Standesbeamten erklärte Einwilligung der Brautleute, nicht die Erklärung der Standesbeamten die Ehe begründet. Es ist dies der einzige zeitgemäße und vernünftige Beschluss, den die Kommission in Sachen der Eheschließung gefasst hat. Er wurzelt in dem Ansatze die Auffassung, dass die Ehe ein Privatvertrag ist, und ebenso wenig durch die Amtshandlung des Standesbeamten, als durch die des Priesters geheiligt und zu Recht bestehend wird, sondern ihre sittliche Berechtigung einzig und allein herleitet aus dem auf Liebe und Achtung beruhenden Einverständnis von Mann und Frau.


Zuletzt aktualisiert am 12. August 2024