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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 28. September 1898.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 134–141.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die letzten Reichstagswahlen ziehen ihre Kreise in den diesjährigen Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hinüber; die Ankündigung schärfsten Kampfes seitens des Kapitalistenstaates gegen jede Aufwärtsbewegung der Arbeiterklasse umhallt ihn. Diese beiden Umstände werden aller Wahrscheinlichkeit nach die Stuttgarter Verhandlungen und Beschlüsse beherrschen und ihren Charakter prägen. Sie werden von wesentlichem Einfluss darauf sein, dass die Sozialdemokratie in ihrer Auffassung, ihren Beschlüssen scharf wie je als die Partei des revolutionären proletarischen Klassenkampfes auftritt und nicht als die ausgemauserte Partei zahmer sozialer Reformlerei; dass sie scharf wie je ihr Endziel betont: die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse zum Zwecke der „Expropriation der Expropriateure“, der Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, und damit ihre unversöhnliche Gegnerschaft gegen den Kapitalistenstaat, statt einer staatsmännelnden Geneigtheit zur Kompromisselei mit diesem Staat, mit dieser Gesellschaftsordnung.
Denn nicht die Jubelfanfaren über die in den letzten Wahlen errungenen bedeutenden Siege der Sozialdemokratie werden in den Debatten vorklingen, so berechtigt diese Jubelfanfaren auch sind. Vorklingen wird vielmehr die kühl abwägende Kritik an unserer Betätigung, unseren Erfolgen; nicht die im Gefühle der Schwäche wurzelnde Kritik, welche aus Lust und Liebe zum Nörgeln das Errungene verkleinert, das Getane herabsetzt, wohl aber jene aus strotzender Lebenskraft geborene Kritik, welche in schöpferischem Drange die Erfolge misst und wägt, das Gewirkte prüft, damit an Stelle des Viel das Noch-Mehr trete.
Soviel Grund die Sozialdemokratie auch hat, mit Befriedigung auf das im letzten Wahlkampf Geleistete und Errungene zurückzublicken, so hat der Wahlausfall unseres Erachtens den gehegten Erwartungen doch nicht voll entsprochen. Wir denken dabei keineswegs an die überschwänglichen Hoffnungen einzelner bezüglich der Zahl der zu erobernden Mandate. Wir meinen vielmehr vor allem die Tatsache, dass es der Sozialdemokratie nicht gelungen ist, noch breitere Wählermassen aus ihrem Stumpfsinn zu wecken und an die Urne zu führen. Die Wahlbeteiligung war bekanntlich eine schwächere als 1893, und das Wachstum der sozialdemokratischen Stimmen – so stattlich es auch ist gegenüber den einschlägigen Verhältnissen der bürgerlichen Parteien – blieb hinter dem früherer Wahlen zurück. Die Sozialdemokratie wurde in schon erobertem Gebiet geworfen, in manch altem Stammsitz, den sie behauptete, ging die Zahl ihrer Wähler nicht unbeträchtlich zurück. Mit der alten Pflichttreue ist wohl auf der ganzen Linie gekämpft worden, mit der alten Kampfesfrische, der alten glaubensstarken Kampfesfreude dagegen nicht überall und nicht von allen.
Wir übersehen keineswegs die verschiedenen Ursachen, welche von Einfluss auf die gekennzeichneten Erscheinungen waren und zu deren Erklärung herangezogen worden sind. Aber auch wenn man ihre Bedeutung voll einschätzt, erweist sich unserer Meinung nach doch für viele Wahlkreise, dass die sozialdemokratische Wahlagitation diesmal hier und da an Werbekraft verloren hatte. Das Warum klarzustellen und die Schlussfolgerungen dieser Klarstellung zu ziehen, halten wir für eine der wichtigsten Aufgaben des diesjährigen Parteitags.
Die Schlussfolgerungen können aber so will uns bedünken nur die sein, dass die wachrüttelnde und werbende Kraft der Sozialdemokratie der Masse gegenüber um so größer und unwiderstehlicher ist, je schärfer, unzweideutiger sie mit den Augenblickszielen des Wahlkampfes die Endziele des proletarischen Klassenkampfes betont; je rückhaltloser sie auftritt nicht bloß als die Partei der energischsten, schroffsten Opposition gegen die jeweilige reaktionäre Regierungspolitik, vielmehr als die unerbittliche Gegnerin der herrschenden Gesellschaftsordnung und ihres Staates; als unbeugsame Vorkämpferin für eine neue Weit und nicht lediglich als Befürworterin einer Reform der alten Ordnung der Dinge. Unsere Erfolge waren nicht dort am größten, wo die Sozialdemokratie seit langem unter der proletarischen Masse einen festen Anhängerstamm besitzt und wo daher vielfach, unwillkürlich und unbewusst, der Schwerpunkt der Agitation nicht auf unsere Endziele gelegt wurde, die als „olle Kamellen“ galten, sondern auf die von der Situation aufgedrängten nächsten politischen Aufgaben der Partei. Die glänzendsten Fortschritte erzielten wir dort, wo wir uns gleichsam einführen, vorstellen mussten, wo die Aufklärung über die Grundanschauungen der Sozialdemokratie notwendigerweise die Agitation beherrschte.
Eine kritische Erörterung unserer Tätigkeit bei den letzten Reichstagswahlen führt aber sicherlich zu Auseinandersetzungen über die Meinungsunterschiede, die betreffs unserer Grundsätze und unserer Taktik im Schoße der Partei aufgetaucht sind. Die theoretischen und taktischen Streitfragen, welche Bernstein am Vorabend der Wahl aufgeworfen hat – insbesondere seine geringschätzige Bewertung des Endziels unserer Bewegung –, die angepriesene Taktik des Tauschhandels „Kanonen für Volksrechte“, die Haltung des Vorwärts in Sachen der Kolonialpolitik, der Standpunkt Schippels und Calwers in der Zoll- und Handelspolitik usw.: All diese gemauserten Anschauungen über unsere Grundsätze und unsere Taktik sind zweifellos nicht ohne Einfluss auf unsere Betätigung im Wahlkampf geblieben. Sie haben mittelbar und unmittelbar dazu beigetragen, unter unseren in den vordersten Reihen kämpfenden Parteigenossen vielfach jenen Pessimismus und Skeptizismus zu erzeugen, welche bewirkten, dass hier und da an Stelle der siegesgewissen Kampfesfreude lediglich ein müdes, kühles Pflichtgefühl trat; an Stelle des Kampfes für ein hohes, unverrückbares Endziel das Streben nach schätzbaren, aber kleinen Tageserfolgen, die Neigung, für ein Quäntchen „positiver Errungenschaften“ ein Pfund grundlegender Forderungen preiszugeben.
Die Meinungsunterschiede müssen in den Debatten des Parteitags zu unzweideutigem Ausdruck gelangen, die Streitfragen müssen geklärt werden eine einheitliche Stellungnahme der Partei ihnen gegenüber ist eine praktische Notwendigkeit. So verkümmernd und tödlich es auf die Entwicklung der Partei einwirken müsste, wollte man sie in den starren Formelglauben einer wissenschaftlich-politischen Sekte einschnüren, so befruchtend die Mannigfaltigkeit der Meinungen und Gesichtspunkte in ihren Reihen ist: so muss sich doch die Freiheit der Auffassung über unsere Grundsätze und unsere Taktik innerhalb gewisser Schranken halten, welche bedingt sind durch das Wesen des proletarischen Klassenkampfes, durch die geschichtlichen Verhältnisse, innerhalb derer er sich in Deutschland abspielt. Nicht die öde Gleichförmigkeit des Herdentiertums darf das geistige Leben, die innere Entwicklung, die äußere Betätigung der Sozialdemokratie beherrschen, wohl aber muss jene Einheitlichkeit und Geschlossenheit vorhanden sein, welche, in einer gemeinsamen Erkenntnis wurzelnd, unumgängliche Voraussetzungen für einen kraftvollen und erfolgreichen Kampf sind. In so hochwichtigen Fragen, wie sie im Parteileben zur Debatte stehen, diese Einheitlichkeit und Geschlossenheit zu wahren, ist eine der vornehmsten Aufgaben, welche dem Stuttgarter Parteitag obliegen.
Die vorläufige Tagesordnung des Kongresses sieht die Erörterung der aufgerollten Streitfragen nicht als einen besonderen Punkt vor. Innerhalb ihres Rahmens ist jedoch reichlich Gelegenheit zur Auseinandersetzung und Klärung darüber vorhanden. Der Tätigkeitsbericht des Vorstandes, ganz besonders aber der Überblick über den letzten Wahlkampf, der Bericht über die parlamentarische Tätigkeit, Schippels Referat über die Zoll- und Handelspolitik, das nachträglich in die Tagesordnung aufgenommene Thema der Koalitionsfreiheit bieten genügend Anknüpfungspunkte für weit reichende, gründliche Debatten über die grundsätzlichen und taktischen Meinungsunterschiede. Uns scheint zwar, dass die beantragte zusammenfassende Verhandlung über unsere Taktik den bei verschiedenen Punkten der Tagesordnung einsetzenden Erörterungen vorzuziehen wäre. Einmal würden dadurch Wiederholungen vermieden, andererseits würde ein einheitlicheres und abgerundeteres Bild von den Anschauungen der Partei in den strittigen Fragen erzielt. Jedennoch: Wie immer die Entscheidung des Parteitags darüber ausfallen mag, Hauptsache ist, dass es zu einer gründlichen, klärenden Auseinandersetzung kommt.
Diese Auseinandersetzung wird weder den Spaltungsbazillus in die Reihen der Partei tragen noch wird sie diese auf dem Abstieg zu dem Mischmasch einer „sozialen Demokratie“ zeigen. Von den diesbezüglichen Schäfer-Thomasiaden der Gegner gilt wie stets, dass der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Wie heiß auch immer hier und da die Geister aufeinander platzen mögen: Das Gros der Partei wird in den Hauptpunkten in jener festen Geschlossenheit zusammenstehen, welche nicht die Folge einer äußerlich aufgezwungenen politischen Dressur ist, sondern der Ausfluss der inneren Übereinstimmung im Wissen und Wollen. Und wie weit auch in untergeordneten Punkten die Ansichten auseinander gehen sollten: Die Debatten werden erweisen, dass die Partei heute wie ehedem auf dem festen, unerschütterlichen Boden des Klassenkampfes steht, dass sie sich nicht von opportunistischen Lüftchen von diesem Boden weg nach rechts wehen lässt, vielmehr entschlossen auf der revolutionären Linie vorwärts marschiert. Es gehört eine größere Naivität dazu, als die Polizei sie erlaubt – im verwegensten Sinne des Wortes –, und eine ausbündigere Phantasie, als dichterische Begabung sie entschuldigt, wenn Gegner sich einreden, in unseren Zeitläuften könne in den Kreisen des klassenbewussten Proletariats etwelche Neigung dafür vorhanden sein, den feurigen revolutionären Renner, der einem weitgesteckten, aber deutlich erkennbaren Ziel zustürmt, in einen kapitalfrommen Reformgaul umzutrainieren, der sich geduldig vor den klapperigen Karren bürgerlicher Demokraten und Auch-Arbeiterfreunde spannen lässt. Der reichlich sprudelnde Redefluss Wilhelm II. zerstört aufs gründlichste jede Illusion, als ob die Sozialdemokratie je durch Überbordwerfen ihrer Grundsätze, durch Aufgeben ihrer Kampfstellung gegenüber der Regierung und dem Staate die Interessen des deutschen Proletariats wahren könne. Denn die Kaiserreden sind mehr als der temperamentvolle Ausdruck einer persönlichen Meinung, sie sind Zeichen der Zeit, welche künden, in welcher Richtung die Politik der herrschenden Klassen geht. Niederbüttelung und schrankenlose Ausbeutung der Arbeiterklasse, das sind die aufs innigste gewünschten Ziele der herrschenden Klassen, Ziele, welche sie mit allen Machtmitteln durchzusetzen suchen.
Die Verhandlungen und Beschlüsse des Stuttgarter Parteitags werden eine klipp und klare Antwort auf die reaktionären Drohungen geben. Sie werden zeigen, dass die Sozialdemokratie ruhig und gerüstet wie stets auf dem Plane steht, nicht als Paktierende, sondern als Kämpfende. Insbesondere auf den Schlag gegen das Koalitionsrecht der Gegenschlag! Nicht als mit einer Doktorfrage, nicht zur leeren Demonstration beschäftigt sich der Parteitag mit der Frage der Koalitionsfreiheit. Seine Stellungnahme muss vielmehr eine kräftige Aktion einleiten zur Erweiterung und Sicherung des Koalitionsrechts, dieses Lebensrechts des Proletariats. Eine kräftige Aktion im Reichstag und in den Landtagen, eine kräftige Aktion vor allem auch unter der Masse. Denn nicht die Parlamente, sondern die Massen sprechen das letzte, entscheidende Wort. Der Wechselbalg der lex Recke wurde im letzten Grunde nicht von der schwächlichen politischen Tugend der Nationalliberalen gefällt, er erlag dem Entrüstungssturm der Massen.
Die Notwendigkeit, die gefährdete Koalitionsfreiheit zu schützen, verleiht der Frage unserer Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen eine erhöhte Bedeutung. Höchstwahrscheinlich ist, dass die Reaktion das dem Proletariat angedrohte „Zuchthausgesetz“ zunächst mit Hilfe des Preußischen Landtags unter Dach und Fach zu bringen versuchen wird. Da gilt es denn für die Sozialdemokratie mehr als je, die Massen gegen das gefährlichste aller deutschen Geldsackparlamente in Bewegung zu setzen. Wir hoffen, dass der Stuttgarter Parteitag, der sich mit der Frage der Wahlbeteiligung beschäftigen muss, der Situation entsprechend entscheidet, das Amendement Mittag aufhebt und auf die Resolution Bebel zurückgreift.
Die von der Partei nach Stuttgart entsendeten Vertreter wissen, dass ihrer schwere und verantwortungsreiche Arbeiten harren. Aber sie sind auch überzeugt, dass die besonnene und pflichttreue Erledigung dieser Arbeiten einen Schritt vorwärts bedeutet, dem Siege entgegen. Klärung nach innen, kraftvoller Kampf nach außen – dies die Losung, unter welcher der Stuttgarter Parteitag zusammentritt und arbeitet, den Feinden zum Trutz, dem Proletariat zum Schutz.
Last updated 15 August 2023