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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S.&mbsp;95–96 u. 112–114.
Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. 1, Berlin 1957, S. 142–148.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
3. Oktober 1898
Wenn ich hier den nämlichen Ton der Kompliment schneiderei anschlagen wollte, den der Reichstagsabgeordnete Heine mir gegenüber beliebt hat, so würde ich erklären, daß er mit sehr feinem advokatorischem Talent und Geschick den Versuch gemacht hat, den Boden des Kampfes zu verschieben. Niemandem von uns allen ist es eingefallen, den Reichstagsabgeordneten Heine wegen seiner Stellung zum Zukunftsstaat hier interpellieren zu wollen, es handelt sich hier wahrlich nicht um das Bild, das er sich vom Zukunftsstaat macht, auch nicht um die mehr oder weniger häufige Betonung unserer Endziele, sondern um etwas ganz anderes, um die ganz phantastischen Anschauungen, die sich der Reichstagsabgeordnete Heine von der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft macht und die er in seiner Politik zum Ausdruck bringt. Seine Ausführungen haben übrigens auch ein sehr interessantes Licht auf seine Stellung zu den Endzielen geworfen. Der Reichstagsabgeordnete Heine hat hier erklärt, die mehr oder weniger häufige Betonung des Endziels ist nur eine Sache des Temperaments der Agitatoren. Ich habe geglaubt, daß die Betonung unseres Endziels bis jetzt Sache einer wissenschaftlichen Erkenntnis, einer politischen Überzeugung, nicht aber Sache des Temperaments ist. („Sehr wahr!“) Aber damit will ich mich jetzt nicht beschäftigen, denn darum handelt es sich nicht, sondern um die Politik, die Genosse Heine vertreten hat und die er formuliert hat unter dem Schlagwort der Kompensationspolitik: Kanonen für Volksrechte. Auf deutsch gesagt: Schacherpolitik mit dem kapitalistischen Staat. Dazu hat der Parteitag Stellung zu nehmen, denn diese Erklärung ist nicht ohne Einfluß gewesen auf unsere Reichstagswahlagitation. Auch ich gehöre zu denjenigen Agitatoren, die durch Nord und Süd, durch Ost und West gekommen, und glauben Sie mir, soundso oft, wenn ich unser Programm, unsere Stellung zum Militarismus entwickelte, ist mir nicht nur von seiten der Gegner, sondern auch der Genossen entgegengerufen worden: „Kanonenfrage – Kompensationspolitik“. Und es wird viele Genossen geben, die bei der Agitation dieselbe Erfahrung gemacht haben. Ich glaube nicht, daß ich in dieser Beziehung vereinzelt dastehe. Die Anschauungen Heines gipfeln in dem Standpunkt, daß es Militärforderungen gibt, für die die Arbeiterklasse indifferent sein soll. Zu solchen gehört, seiner Meinung nach, zum Beispiel die Frage der Anschaffung neuer Geschütze.
Indifferent soll die Arbeiterklasse gegenüber der Frage der Bewilligung der Mittel für neue Geschütze sein, die – nachdem der Zar unter die Friedensstifter gegangen ist – vielleicht viel eher gegen den inneren Feind losgehen als gegen den äußeren! Ich bin der Ansicht, daß die ganze Taktik, die Heine empfohlen hat, auf einer falschen Auffassung vom Wesen der kapitalistischen Gesellschaft basiert. Das gelangt recht deutlich in der Broschüre zum Ausdruck, die er unter dem Titel verfaßt hat „Wählen oder nicht wählen?“ Was er da zur Frage der Landtagswahlen sagt, ist durchaus nebensächlich gegenüber der allgemeinen Taktik des Possibilismus, die er dort empfiehlt nach dem Muster der französischen Possibilisten, deren Devise es war, die sozialistischen Forderungen in so kleine Dosen zu teilen, daß sie jedem annehmbar sein können. Wie will es da der Reichstagsabgeordnete Heine machen, den Sozialismus in so kleinen Dosen zu verabfolgen, daß seine Annahme zum Beispiel für Herrn von Stumm möglich wäre (Heiterkeit.), oder für Herrn von Kardorff oder noch weiter hinauf für Seine Majestät, den deutschen Kaiser Wilhelm II., dessen Stellung zur Frage der sozialen Bewegung ja bekannt genug ist?
Wir wollen nicht nach Art eines Konzils von alten Kirchenvätern Scheiterhaufen errichten für einzelne Personen, die abweichender Meinung sind; wohl aber wollen wir mit überzeugender Wucht zum Ausdruck bringen, daß die Masse der Delegierten, daß die Gesamtheit des deutschen Proletariats nicht hinter diesen Personen steht, sondern hinter denen, die unentwegt stehen auf dem Boden des proletarischen revolutionären Klassenkampfes. („Sehr richtig!“) Daß die Meinungen verschieden sind, daß abweichende Meinungen auftauchen, das ist nicht etwa der Vorläufer von Spaltung, wie sie unsere Gegner prophezeit haben. Bei all jenen Schäfer-Thomasiaden ist ja nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Wir sind eine Partei, lebenskräftig genug, um verschiedene Meinungen ertragen zu können. Nicht daß diese abweichenden Meinungen da sind, ist das Charakteristische und Bedenkliche. Die abweichenden Meinungen erklären sich sehr leicht aus bestimmten geschichtlichen Bedingungen, unter denen sich der Klassenkampf des Proletariats vollzieht. Aber was bedenklich ist, das ist das Streben, das durch das Zentralorgan begünstigt wird, den Unterschied der Meinungen nicht klar und scharf zum Ausdruck zu bringen, sondern versumpfen zu lassen. Dagegen müssen wir Verwahrung einlegen. Die Sozialdemokratie ist nicht eine Sekte, nicht eine Partei des Aberglaubens, die an Formeln hängt. Deshalb ist es notwendig, daß wir Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck bringen und klären. Solange wir keine Gegenbeweise haben, werden wir nach wie vor auf dem alten bewährten Boden der Sozialdemokratie stehen. Wenn es dem Reichstagsabgeordneten Heine gelingt, vollgültige Beweise für die Richtigkeit seiner Taktik der Kompensation zu erbringen, so gebe ich ihm die Versicherung: So alt ich bin, ich erkläre vielleicht noch eines Tages: Vater Possibilismus, liebe Mutter praktische Politik, ich habe gesündigt im Himmel und vor Dir. (Heiterkeit.) Aber solange die Beweise für die Richtigkeit des Heineschen Standpunktes nicht erbracht sind, hat der Parteitag in Übereinstimmung mit den Genossen zu erklären, daß wir bezüglich des Weges, der uns zum Ziele führt, bezüglich unserer Auffassung von der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse behufs Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in eine sozialistische auf dem Boden des Programms stehen, das uns bis jetzt von Siege zu Siege geführt hat, nicht aber auf dem Boden des Possibilismus, den Genosse Heine uns gewiesen hat.
4. Oktober 1898
Ich schicke voraus, daß ich nicht als „unterdrücktes Geschlecht“, sondern als Parteigenossin spreche. Genosse Gradnauer ist vorhin gewissermaßen in der Rolle eines Hofbeschwichtigungsrates aufgetreten und hat sich darüber beschwert, daß der Heißhunger nach Diskussionen seit dem Fall des Sozialistengesetzes nachgelassen hat. Zum Schluß aber hat er sich darüber beklagt, daß es zuviel Diskussionen gibt, und die Presse gefeiert, weil sie nicht auf jede Anregung zur Erörterung wichtiger Fragen eingeht. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß unsere Presse gerade nach der Richtung der Diskussion grundsätzlicher und taktischer Fragen weit mehr tun sollte, als sie bisher getan hat. Daß verschiedene Meinungen auftauchen, ist kein Unglück, das wird auch niemand von uns als ein Zeichen der Versumpfung auffassen, sondern als ein Zeichen der Lebenskraft und Fortentwicklung der Partei. Bedenklich ist nur, daß man die Verschiedenheit der Meinungen in Abrede zu stellen sucht, daß man sie nicht in genügender Breite in der Öffentlichkeit diskutiert und daß man behauptet, alle Meinungsverschiedenheiten seien nur Sache des Temperaments, des mehr oder weniger häufigen Gebrauchs bestimmter Worte. Es sind Fragen aufgetaucht, die in unserer Presse eine eingehendere Erörterung verdient hätten, vor allem die von Bernstein angeregte Frage über das Endziel ... Er hat die bekannte Äußerung betreffs der niedrigen Bewertung unseres Endziels getan: Das Ziel ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles. Und das am Vorabend des Wahlkampfes. Es zeigt, wie weit Bernstein dem deutschen Parteileben entfremdet ist, wenn er in dem Augenblick, wo wir uns anschicken, in den Wahlkampf zu ziehen, einen solchen Artikel veröffentlicht. Bernsteins Auffassung nach wird allmählich durch die gewerkschaftliche und gesetzliche Kontrolle des kapitalistischen Eigentums dies so weit eingeschränkt, daß eines schönen Morgens dem Kapitalisten selbst die Lust am Besitze vergangen ist, weil sein Eigentum gleichsam nur noch als Rechtsfiktion weiterbesteht. Diese Auffassung kann uns nicht gleichgültig sein, denn wenn wir den Standpunkt Bernsteins teilen, so müßten wir das Schwergewicht in der kapitalistischen Gesellschaft nicht auf die Eroberung der politischen Macht legen, sondern auf die Erreichung einzelner kleiner sozialer Reformen, durch die nach Meinung Bernsteins die sozialistische Gesellschaft vorbereitet wird, so daß wir da ein Stückchen sozialistischen Zukunftsstaates bekommen, dort ein Stückchen, die wir sozusagen nur zusammenzuflicken haben. Mich hat es gewundert, daß diese grundsätzlich ganz neue Auffassungsweise bis heute noch nicht in aller Gründlichkeit in der Neuen Zeit selbst erörtert worden ist und daß diese abweichende Meinung veröffentlicht wurde, ohne daß wenigstens seitens der Redaktion in einer Fußnote Stellung dazu genommen ward; vielfach entstand die Ansicht, daß Bernstein in seinem Artikel den Standpunkt der Redaktion und der gesamten Partei vertreten habe.
Ich erhebe weiter den Vorwurf gegen das Zentralorgan, daß es angeschnittene Fragen nicht in genügender Weise erörtert. Früher hieß es, Genosse Liebknecht ist daran schuld, nun, in den vier Monaten, wo er in Charlottenburg gesessen hat, konnte doch seine Person nicht das Hindernis für die Haltung des Vorwärts bilden, und was haben wir da gesehen? Die Haltung des Vorwärts war die vollständige Haltlosigkeit, da kam jener Artikel über Kiautschau, wo der Vorwärts unsere grundsätzliche Auffassung zur Frage der Kolonialpolitik mit Stillschweigen überging, dafür sich aber zu dem billigen Möchte-gern-Witz aufschwang, die deutsche Arbeiterklasse brauche doch nicht die Interessen der Mandshu-Dynastie [1] zu schützen. Wir haben ferner gesehen, daß die Ansichten des Genossen Heine nicht in derjenigen Weise im Vorwärts erörtert wurden, wie sie hätten erörtert werden müssen. Denn was Heine gesagt hat, ist tatsächlich nicht etwa eine neue Taktik, das ist die Politik, die schon 1891 empfohlen wurde unter der Devise: Dem guten Willen die offene Hand! Wo hat denn die Regierung uns die offene Hand entgegengestreckt? Die eiserne Faust hat sie uns entgegengehalten! Auf die praktische Arbeit weist Heine hin. Haben wir, die man radikal nennt, keine praktische Arbeit vollbracht? Als Heine lange noch nicht Genosse war, hat Schoenlank schon sehr wesentliche praktische Reformarbeit geleistet, nicht nur durch seine Artikel, sondern durch seine sehr verdienstvolle Arbeit über die Fürther Quecksilber-Spiegelbelegungs-Arbeiter und ihre Lage. Heine meint, daß die praktische Arbeit gelegentlich auch auf dem Wege des Kompromisses geschehen kann. Wir aber wollen unsere Forderungen auf dem Wege des Kampfes gegen den Kapitalistenstaat durchsetzen. Damit ist nicht zu verwechseln, daß wir auch die kleinste Abschlagszahlung annehmen, sobald sie unseren Forderungen entspricht. Wir wissen, daß wir die praktischen Forderungen nur stückweise verwirklichen können, aber wir wissen, daß wir diese stückweisen Konzessionen nicht erringen durch die Einsicht der Regierungen von oben, sondern durch den Kampf von unten gegen oben. Wenn man uns hier sagt, das ist die Taktik der Phrase, so antworte ich, man erklärt hier, die revolutionäre Phrase bekämpfen zu wollen, was man aber tut, ist, daß man den ausgiebigsten Gebrauch macht von der opportunistischen Phrase. Zu diesen Tendenzen sollte die Parteipresse schärfer Stellung nehmen als bisher. Ganz besonders gilt dies vom Vorwärts, der sich um die Diskussion einer ganzen Reihe wichtiger Parteifragen in scheuer Verlegenheit herumdrückt. Für uns kann es sich nicht darum handeln zu verschweigen, sondern Klärung zu schaffen und alle auftauchenden Meinungen zur Erörterung zu bringen. Nur so werden wir weiter und weiter vorwärtsschreiten!
1. Mandschu-Dynastie – (1644–1912). Herrscherhaus einer mandschurischen Erobererschicht mit korruptem feudalem Wirtschafts- und Verwaltungssystem. Die Mandschu-Kaiser lieferten das Land widerstandslos den englische, französischen, amerikanischen und deutschen Imperialisten aus. Sie leisteten ihnen hohe Kontributionen, die sie aus den ohnehin schwer unter der Landarmut und der Rechtlosigkeit leidenden Bauernmassen preßten. sie schlossen landesverräterische Abkommen und lieferten Teile Chinas aus. So traten sie 1898 den Hafen Kiautschau an Deutschland ab. Gemeinsam mit den Imperialisten unterdrückten sie die Befreiungsbewegungen des chinesischen Volkes – wie den Taipingaufstand und den Boxeraufstand – und versuchten, die wirtschaftliche und nationale Entwicklung des Landes zu hemmen.
Last updated 15 August 2023