Clara Zetkin

 

Sittlichkeitsheuchelei

(28. Februar 1900)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 5, 28. Februar 1900.
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Eine kleine Szene mehr hat die zweite Lesung der lex Heinze II, jener Komödie der bürgerlichen Sittlichkeitsheuchelei beigefügt, die von Zeit zu Zeit über die Bühne des politischen Lebens, des gesetzgeberischen Wirkens geht. Eine Komödie der Sittlichkeitsheuchelei, die nötig ist, um die bangen Ängste etwas zu beschwichtigen, welche die alle Ufer überschwemmende sittliche Fäulnis in der Welt der Besitzenden und Genießenden selbst emporsteigen lässt, um vor Allem aber der breiten Masse Sand in die Augen zu streuen über das Wesen der kapitalistischen Gesellschaft, das der Nährboden ist, auf dem die Unsittlichkeit ebenso üppig und unausrottbar in die Halme schießen muss. So schlecht aber, wie bei der letzten Verhandlung über das gesetzgeberische Wurm, das seit circa acht Jahren nicht sterben kann und nicht zu leben vermag, ist die Komödie oder richtiger die Farce der Tugendreiterei kaum je gespielt worden. Nur bei ganz vereinzelten unter den bürgerlichen Reichstagsabgeordneten quoll aus der Tiefe einer erzreaktionären Auffassung die ehrliche Überzeugung empor, dass der Polizeiknüttel das Volksleben zu versittlichen vermöge, indem er die Entwicklung in die Bahnen der Mittelalterlichkeit zurückzwingen, vor allem aber den Geist wieder unter die Herrschaft der geschorenen und gescheitelten Vertreter des kirchlichen Dogmas beuge. Die große Mehrzahl der bürgerlichen Sittlichkeitsreiter kann jedoch diese Gutgläubigkeit nicht für sich beanspruchen. Zumal die sittlichkeitsbesessenen Herren der bürgerlichen Linken mimten als Auguren, die nicht einmal den Schein des Anstandes und der Würde wahrten. Sie nickten einander nicht verstohlen, mit listig blinkenden Augen und zuckenden Mundwinkeln verständnisinnig zu: „Bruder in Wissen und Heuchelei, sei gegrüßt!“ Mit schallendem Gelächter machten sie sich über die dummen Teufel lustig, die noch immer naiv genug sind, sich durch den Schein über das Sein täuschen zu lassen, statt gründlicher sozialer Reformen Gesetzesparagraphen und Büttelgewalt für Kräfte der sittlichen Entwicklung halten, und die deshalb an den „ernsten Schutz der Sittlichkeit“ glauben, wenn die kapitalistische Gesellschaft den gepanzerten Drachen des öffentlichen Lasters mit den Papierkügelchen gesetzlicher Vorschriften beschießt.

Und zwischen den Deklamationen ehrlicher Beschränktheit und zynischer Heuchelei, zwischen den Beschwörungen der Kurzsichtigen und der „Heiterkeit“ der Aufgeklärten wieder und wieder das Eingeständnis ratloser Hilflosigkeit: „Die Prostitution ist ein unvermeidliches, ja notwendiges Übel.“ Das Eingeständnis klang vom Regierungstisch, wie aus den Reihen der bibelgläubigen Rechten und denen der „freidenkenden“ bürgerlichen Linken. Aber freilich, kein einziger der bürgerlichen Sittlichkeitsapostel warf die Frage nach dem Warum des „notwendigen Übels“ auf! Kein Einziger deutete auf die Wurzel des Übels hin, auf den Boden, aus dem es Nahrung, Kraft, Wachstum saugt. Begreiflich genug. Der bürgerliche Vertreter, der es getan hätte, musste – wollte er ehrlich, wollte er konsequent sein – der gesamten bürgerlichen Welt das Mene Tekel zurufen.

Denn die bejammerte „gewerbsmäßige Unzucht“ wurzelt nicht in der „Erbsünde“, die der menschlichen Natur nach dem Wähnen der Kirchengläubigen anhaftet. Sie ist vielmehr das rechtmäßige Kind der Erbsünde, welche jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eignet, die sich auf dem Klassengegensatz zwischen Arm und Reich, Unterdrückte und Unterdrückende aufbaut, und die diesem Gegensatz entsprechend die Beziehungen zwischen den Geschlechtern entsittlicht und fälscht und die Ehe vor allen Dingen zu einem wirtschaftlichen Ganzen macht. Indem die kapitalistische Gesellschaft den Klassengegensatz zwischen Reich und Arm in den Klassengegensatz zwischen ausbeutenden Kapitalisten und ausgebeuteten Proletariern auf die Spitze getrieben hat, muss sie bewirken, dass die Unsittlichkeit ins ungeheuerliche steigt. Die kapitalistische Entwicklung verwehrt durch die Aussonderung des Proletariats, die wirtschaftliche Vernichtung des Mittelstandes, durch Militarismus und Marinismus, durch die anschwellende Masse schlecht gestellter Beamten und Kopfarbeiter in Wirtschaftsbetrieb und Staat das Heer der ehereifen Männer, die sich nicht zu verheiraten vermögen, weil sie außer Stande sind, den Unterhalt einer Familie zu bestreiten. Es entsteht die „Nachfrage“ nach Dirnen. Die kapitalistische Ordnung schafft in Gestalt ausgebeuteter Frauen und Mädchen, denen die Arbeit nicht eine einigermaßen kulturwürdige Lebenshaltung oder auch nur die nackte Notdurft zu sichern vermag, das „Angebot“ von Galeerensklavinnen feiler Lust auf dem Prostitutionsmarkt. Und das charakteristische an der sittlichkeitsmordenden Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft“ Nicht mehr bloß Auswürflinge, Ausgestoßene sind es, die wie in den vorkapitalistischen Zeiten das Dirnentum als Gewerbe, als einziges Unterhaltsmittel ergreifen. Nein, fleißige, bis zur Blutleere, bis zur Erschöpfung abgerackerte Arbeiterinnen werden durch Hungerlöhne, durch die Unsicherheit des Erwerbs im Auf und Ab von hetzender Überarbeit und brotloser Flaute gezwungen, in dem Laster entweder einen dauernden Nebenerwerb zu suchen, oder aber den zeitweiligen, vollständigen oder teilweisen Unterhalt. Ja mehr noch: die Blüte ganzer Industriezweige, zumal solcher, wo die Heimarbeit vorherrscht, wird bedingt durch die niedrigen Löhne, mit denen das Unternehmertum die Arbeiterinnen abspeist, weil es von vornherein in Anrechnung bringt, dass die Lohnsklavin als Lustsklavin ihr Geschlecht zu Markte bringen und aus seinem Verkauf einen Teil der Existenzkosten decken kann.

In der kapitalistischen Gesellschaft wachsen außerdem wie in Treibhaushitze auch all die anderen Bedingungen empor, welche die erschreckend tiefe sittliche Fäulnis unserer Zeit bewirken. Der wahnsinnige Tanz um das goldene Kalb, die fieberhafte Hitze nach Gewinn und Erfolg, oft um das trockene Brot, zerrütten die Nerven, untergraben die Willenskraft an der Wurzel, setzen an stelle des Verlangens nach edlem Genuss das Drängen nach Betäubung, nach rohem und raffiniertem Sinnestaumel. Das Elend und die Unbildung der ausgebeuteten Massen, ihre Überbürdung mit harter, geisttötender Fron, die Entwürdigung der Kunst zur feilen Dirne, welche dem Ergötzen der Zahlungsfähigen dient, wirken in der gleichen Richtung. Die Seuche des Tingeltangelunwesens grassiert, die Pest des Kolportageromans breitet sich weiter und weiter aus, mit dem künstlerischen Geschmack zusammen wird das sittliche Empfinden getötet. Was Überfluss, Müßiggang und Raffinement oben, Not, Überanstrengung und Verwahrlosung unten an sittlichen Gebrechen, lasterhaften Trieben und Neigungen in der Seele des Menschen wachrufen und entwickeln, das wird der kapitalistischen Profitgier zu einem Gegenstand einträglicher Spekulation. Sie züchtet die sittliche Verderbnis, um sie als reichlich zinsend ausbeuten zu können.

Hätten die bürgerlichen Gesetzgeber auch nur einen Fingerhut von Ernst und guten Willen besessen, die Sittlichkeit wirklich zu schirmen und zu heben, sie mussten rückhaltlos die Ursachen der Unsittlichkeit bloßlegen, welche mit dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaft unlösbar verquickt sind. Sie mussten diesen Ursachen entsprechend die einzig wirksamen Reformen fordern, welche die Unsittlichkeit einzudämmen vermögen. Das aber wollten die Herren nicht, sie konnten und durften das nicht wollen in ihrer Eigenschaft als Nutznießer der kapitalistischen Gesellschaft, oder als politische Hörige der nutznießenden Klasse. Denn diese Reformen liegen insgesamt in der Richtung einer Stärkung der Menschenrechte der ausgebeuteten Proletarier gegenüber der Geldsackwirtschaft der ausbeutenden Kapitalisten. So begnügten sich die Tugendkämpfer von rechts und von links damit, treu des Bewusstseins vollständiger Wirkungslosigkeit, heuchlerisch juristische Tüftelei und polizeiliche Schneidigkeit zum Schutze der Sittlichkeit anzurufen. Kein einziger bürgerlicher Abgeordneter ließ die Worte „ernste Sozialreform“ dem Gehege seiner Zähne entschlüpfen. Keinem von ihnen allen fiel es ein, zum Zwecke der Hebung der Sittlichkeit einzutreten für gesetzliche Beschränkung der kapitalistischen Ausbeutungsfreiheit gegenüber der proletarischen Arbeitskraft, für Erweiterung und Sicherung der Freiheiten der Arbeiterklasse, insbesondere auch für vermehrten Schutz und größere Rechte der proletarischen Frauenwelt. Ein verlogenes „Tun als ob“, das ist der Kern des bürgerlichen Sittlichkeitspudels, ganz gleich, ob selbiger Pudel konservativ aufwartet oder liberal aufgeklärt tanzt.

Ein Teil der beschlossenen Maßregeln muss zur Hebung der Sittlichkeit völlig versagen, ein anderer Teil liefert Kunst und Literatur, ja das gesamte öffentliche Leben versteckter Polizeigewalt aus. Was denn werden die Folgen sein der verschärften Bestimmungen gegen die Kuppelei und die widerliche Gilde der Ballonmützenritter? Günstigsten Falles die, dass das Dirnentum und seine Gefolgschaft von Gelegenheitsmacherinnen und Louis das Auge der satten Tugend und zahlungsfähigen Moral weniger in der Öffentlichkeit beleidigt, allerdings um den Preis, dass das Laster dafür in der Heimlichkeit stiller Winkel um so strotzender emporwuchert. Unter allen Umständen aber wird in Folge der schärferen Strafbestimmungen das „Gefahrenrisiko“ der Unternehmer auf dem Lustmarkt steigern, ihm entsprechend aber auch die „Gefahrenprämie“, das heißt die Ausbeutung der Prostituierten seitens der Kupplerinnen und Zuhälter anheim fallen. Außerdem: die Schärfe des Gesetzes wird sich nur gegen die Dirnen und Zuhälter nach unten wenden, nicht gegen die salonfähige Prostituierte, die unter der Maske der „ehrbaren Frau“ ihr Gewerbe treibt, nicht den Louis in tadellosem Frack und Zylinder, vielleicht auch mit einem Orden im Knopfloch. Kraut- und Schlotbarone mitsamt den edlen Fürsten der Börse können sich nach wie vor „reizende kleine Freundinnen“ aushalten, die Beletagen der vornehmsten Vierten bewohnen und in den eleganten Equipagen auf dem Turf unter den Edelsten und besten der Nation „standesgemäß“ erscheinen. Keine Pickelhaube und kein richterlicher Salomo wird das würdige Paar belästigen, das dank der horizontalen Leistungen der Frau Titel und Mittel „erworben“ hat.

Ein winziges Reförmchen hat die Bestimmung gebracht, das das Vermieten von Wohnungen an Prostituierte – dafern es nicht zur Quelle der Auswucherung wird – nicht mehr der Kuppelei gleich geachtet und straffällig ist. Dadurch wird der unhaltbare Zustand beseitigt, dass die Dirne zwar durch Polizeivorschriften reglementiert und kontrolliert ihr Gewebe ausüben darf, dass der Staat Steuern vom Ertrag ihrer „Arbeit“ erhebt, dass ihr aber der Buchstabe des Strafgesetzes das Wohnen verunmöglicht. Vergebens versuchte die Sozialdemokratie im Anschluss an die betreffende Bestimmung eine andere Reform festzulegen: die Abwehrung einer Kasernierung der Prostituierten. Die berufsmäßigen Ableugnungsversuche der Regierungsvertreter haben nur die Überzeugung gefestigt, dass die Regierung die Kasernierung der Prostituierten anstrebt, das heißt die ungünstigste Form der Sklaverei für die unglücklichen Dirnen. Dass die Altersgrenze für den Schutz der Mädchen von 16 auf 18 Jahre erhöht wurde, ist ein belangloser Beschuss, der obendrein der Tatsache nicht Rechnung trägt, dass die jungen Proletarierinnen im Folge des Kampfes für die Existenz schon lange vor dem 18. Jahre mit den Gefahren des Lebens bekannt sind, und ihre Selbständigkeit besitzen.

Die einzige wertvolle Bestimmung des ganzen Gesetzentwurfs, der so genannte Arbeitgeberparagraph, fand, erklärlich genug, nur eine sehr schwache Mehrheit. Und der Vertreter der Regierung erklärte kategorisch, dass diese lieber das ganze Gesetz fallen lassen, als der betreffenden Festlegung zustimmen würde. Die Regierung der Zuchthausvorlage bleibt mit dieser Haltung nur sich selbst getreu. In der Tat, was ist das Wesen des Arbeitgeberparagraphen? Seinem Wesen nach gehört er zur Arbeiterschutzgesetzgebung, bedeutet grundsätzlich einen Schutz des Rechtes des lebendigen Menschen gegen die zügellosesten, brutalsten und gemeinsten Übergriffe der Macht des Besitzes. Der Arbeitgeberparagraph soll das Weibtum der Lohnarbeiterin, Angestellten, des Dienstmädchens gegen die Gelüste der „Brotherren“ schützen, die mit dem Arbeitstier auch das Lusttier gekauft zu haben wähnen, zur Ausbeutung der Arbeitskraft noch die Ausbeutung des Geschlechts fügen. In unseren Tagen der Sozialreform von oben und nach rückwärts ist die einschlägige Zügelung des kapitalistischen Herrenrechts nicht zu erwarten.

Unter der Flagge „Schutz der Sittlichkeit“ hat die lex Heinze noch eine stattliche Konterbande urreaktionärer Bestimmungen eingeschmuggelt, welche die Allmacht des Bütteltums stärken, die freie Entwicklung von Kunst und Literatur unterbinden und in folge des Kautschuks ihrer Formeln auch das politische Leben, zumal aber das politische Leben des kämpfenden Proletariats bedrohen.

Welches in der dritten Lesung das Schicksal des Wechselbalgs sein wird den bürgerliche Tugendheuchelei im Bunde mit mittelalterlicher Beschränktheit gezeugt hat, das ist nicht vorauszusehen. Die lex Heinze entbehrt so sehr eines einheitlichen Gedankens, ist ein so wundersames Ragout der verschiedensten Materien, dass jede Partei bei dem oder jenem Paragraphen ihre Sonderwünsche unter Dach und Fach zu bringen sucht und die absonderlichsten Zufallsmajoritäten zusammengewürfelt werden. Wie immer aber die Entscheidung ausfallen mag, eins ist sicher: der Polizeibesen – und wäre er noch so groß und stark – wird nun und nimmer im Stande sein, den Augiasstall der kapitalistischen Unsittlichkeit zu reinigen. Nur Heuchler können darüber täuschen wollen, nur sozialpolitische Abc-Schützen können sich darüber täuschen lassen. Wir können unmöglich annehmen, das unsere Gesetzgeber im Punkte ihrer Kenntnisse und Erkenntnis auf dem Niveau der vulgären Sittlichkeitsvereinler männlichen und weiblichen Geschlechts stehen. Die Behandlung der lex Heinze bestätigt also wieder einmal, dass die bürgerliche Gesellschaft zur Unsittlichkeit noch das Laster der Sittlichkeitsheuchelei fügt.

 


Zuletzt aktualisiert am 16. August 2024