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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands,
abgehalten in Lübeck vom 22. bis 28. September 1901, S. 279 f.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Ich möchte zunächst zu den Bemerkungen Davids das eine sagen: In der Erklärung unserer württembergischen Landtags-Abgeordneten zur Budgetverweigerung war ganz klipp und klar ausgesprochen, dass das Budget sowohl in seinen einzelnen Teilen wie in seiner Gesamtheit der Ausdruck des Klassencharakters des württembergischen Staates ist. Ich glaube, durch diese Erklärung war die Stellung unserer Genossen genügend gekennzeichnet. Es ist ein ziemlich müßiger Wortstreit, sich darüber zu unterhalten, ob die Frage der Budgetbewilligung eine grundsätzliche oder eine taktische ist und zwar aus einem bestimmten Grunde. Nach meiner Auffassung sind Prinzip und Taktik nichts durch eine tiefe, unüberbrückbare Kluft Geschiedenes. Unsere Grundsätze hängen nicht hoch oben in den Wolken einer Theorie, während unsere Taktik allein auf dem Boden der Tatsachen stehen soll. Unsere Taktik wird durch unsere Grundsätze bedingt und gegeben. (Sehr richtig!) Unsere Taktik ist nicht die Möglichkeit, der Anwendung unserer Grundsätze auszukneifen und sie jeder Zeit unter einem mehr oder minder plausiblen Vorwand über Bord werfen zu können. Nein, unsere Taktik ist die Zusammenfassung der zweckmäßigsten Mittel für die Verwirklichung und Durchführung unserer Prinzipien. Das Wesen unserer Parteiauffassung zwingt uns im Allgemeinen, in normalen Fällen das Budget als eine Vertrauenskundgebung zu der jeweiligen Regierung abzulehnen. Genosse Blos meint, der Frage der Budgetbewilligung komme keine große Bedeutung bei, es sei eine reine Frage der Theorie. Ich bin der umgekehrten Meinung. Gerade aus Rücksicht auf die Praxis, nicht aus Liebe zur Theorie muss das Budget verweigert werden. Die Rücksicht auf die Praxis nötigt uns, eine möglichst einheitliche Marschroute zu suchen, sie zwingt uns aber noch zu etwas Anderem. Gerade wenn wir praktische Politiker sein, wenn wir dem kapitalistischen Staat eine möglichst große Summe von Reformen abzwingen wollen, so ist eine wesentliche Vorbedingung dafür, dass wir das Klassenbewusstsein unter den Massen wecken und außerhalb der Parlamente durch die organisierten Massen die Macht schaffen, die allein im Stande ist, gegenüber dem bürgerlichen Staat, den bürgerlichen Parteien, der bürgerlichen Welt festzuhalten, was geeignet ist, den tiefen, unüberbrückbaren Gegensatz zwischen uns und der gesamten bürgerlichen Gesellschaft aufzudecken, die Reibungsfläche zwischen der Sozialdemokratie und dem kapitalistischen Staat, sowie den bürgerlichen Parteien zu vergrößern. Mit Rücksicht darauf müssen wir in normalen Fällen das Budget ablehnen.
Noch einige Worte über die Budgetbewilligung unserer Genossen in Baden. Fendrich und seine Freunde machen sich einer Spiegelfechterei schuldig, wenn sie sagen, man konnte das Budget annehmen, weil eine große Zahl von Kulturforderungen darin enthalten sind. Ganz gleich, wo man nachrechnet, dass die und jene Posten mehr oder weniger Kulturforderungen enthalten. Wir haben das eine festzuhalten, dass jeder einzelne Etat des Budgets ein Spiegelbild der kapitalistischen Kultur ist, und diese kapitalistische Kultur bedeutet Unkultur, die Knechtung und Fesselung der Massen. (Lebhafter Beifall.) In dem angeblichen Kulturbudget für das Bildungswesen z. B. spielt die Volksschule die Rolle des Aschenbrödels. (Sehr wahr!) Fendrich sagt, in Baden könne man das Budget bewilligen, denn dort herrsche kein Ausnahmegesetz. Aber ist denn dort nicht dem Proletariat das allgemeine gleiche Wahlrecht vorenthalten? Und wenn dieses Ausnahmerecht den Charakter des gemeinen Rechts trägt, um so schlimmer. Unverhüllt kommt der Klassencharakter des badischen Staates darin zum Ausdruck. Doch mehr noch: durch die Wahlkreisgeometrie der Regierung wird dies gemeine zum gemeinsten Recht dem Volke gegenüber verschlechtert. (Sehr gut!) Fendrich und Genossen haben also unter erschwerenden Umständen das Budget bewilligt.
Nehmen Sie den Antrag Bebel einstimmig an ohne die Singersche Streichung. Wir müssen mit bestimmten Ausnahmen rechnen. Ich befürchte nicht, dass der Passus zum Hintertürchen werde, mittels dessen die Genossen den Beschluss umgehen; ich fürchte keine Sophisterei, ich glaube an die Loyalität der Genossen. Gegen Illoyalität aber schützt uns auch die feingeschliffenste Resolution nicht. Sollte es dennoch Genossen geben, welche ohne Not das Budget bewilligen, so ist der Parteitag bereit, ihnen den Kopf gründlich zu waschen.
Zeigen Sie, dass wir nicht nur die ungemauserte, sondern auch die einige Sozialdemokratie sind. (Lebhafter Beifall.)
Zuletzt aktualisiert am 25. August 2024