Clara Zetkin

 

Gegen das Elend in der Konfektionsindustrie

(23. Oktober 1901)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 23. Oktober 1901.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 191–201.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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So jung die deutsche Konfektionsindustrie noch ist, so glänzend und kraftvoll ist ihre Entwicklung. Im Verlauf weniger Jahrzehnte hat sie für ihre verschiedenen Zweige im Inland ein ausgedehntes, stetig wachsendes Absatzgebiet errungen; hat sie in der Damen-, Herren- und Mantelkonfektion Frankreich, England und Österreich-Ungarn geschlagen; hat sie sich siegreich den Weltmarkt erobert, wo sie als größter Lieferant der einschlägigen Waren auftritt. In den Städten und auf dem Lande beschäftigt sie Hunderttausende, unter denen die Frauen überwiegen, zu denen die Kinder einen starken Prozentsatz stellen. Nach Hunderten von Millionen beziffert sich alljährlich ihr Umsatz innerhalb und außerhalb des Deutschen Reiches. Hunderttausende und aber Hunderttausende an Profit, die sich zu mehr als fürstlichen Vermögen häufen, fließen jahraus, jahrein in die diebes- und feuersicheren Geldschränke einer kleinen Reihe von Konfektionsfirmen, die sich eines Weltrufs erfreuen. Die bekannten Paläste am Hausvogteiplatz zu Berlin, die prächtigen Villen und herrschaftlichen Wohnungen von Großkonfektionären in der und jener Stadt erzählen anschaulich von der Blüte der deutschen Konfektionsindustrie und dem märchenhaften Reichtum ihres Unternehmertums.

Aber freilich: Die Wurzeln dieser Blüte haften im Sumpfe des tiefsten Massenelends, und der märchenhafte Reichtum baut sich auf aus der bittersten Armut, der maßlosen Pein vieler Zehntausender. Neben den Bildern von Glanz und Pracht, welche ein Blick auf die deutsche Konfektionsindustrie entrollt, treten andere des düstersten, vielgestaltigen sozialen Jammers. Das Elend der Konfektionsarbeiterschaft ist zu einer sprichwörtlichen Tatsache geworden, die sich riesengroß in grausem Hohn neben den geschäftigen Worten von Deutschlands Größe und Kultur reckt.

Die eigentümlichen Betriebsverhältnisse der Konfektionsindustrie, die im Zeichen der Heimarbeit und des Zwischenmeistertums stehen, haben hier einen Grad der schmachvollsten, Leib und Geist bedrohenden und vernichtenden Ausbeutung des Menschen durch den Menschen geschaffen, der sich weit über das durchschnittliche Maß der kapitalistischen Auswucherung proletarischer Arbeitskraft erhebt.

Diese Betriebsverhältnisse dezentralisieren den Großbetrieb. Sie schieben zwischen den eigentlichen Großunternehmer und die Arbeitskräfte ein Zwischenglied, mehrere Zwischenglieder, schaffen damit für die Arbeiter und Arbeiterinnen ein mehrstufiges, vielgestaltiges Abhängigkeitsverhältnis, welches ihre Ausbeutung steigert, sie durch allerhand Nebenumstände verschärft und erhöht und den Kampf gegen sie erschwert. Gleichzeitig ermöglichen sie, große Massen der wirtschaftlich und sozial schwächsten und widerstandsunfähigsten Elemente zur Arbeit und Ausnutzung heranzuziehen. Nach der Konfektionsindustrie drängen die unglückseligen erwerbsbedürftigen proletarischen Frauen, welche Mutterliebe und Hausfrauenpflichten vor dem Eintritt in die Fabrik zurückschrecken lassen und die – vom trügerischen Schein geblendet – in der Heimarbeit ein harmonisches Nebeneinander von Brotfron und häuslichem Wirken erhoffen. Der Konfektionsindustrie strömen aus klein- und mittelbürgerlichen Kreisen die sehr zahlreichen Frauen und Mädchen zu, welche die Not ebenfalls zum Verdienen zwingt, die aber im dünkelhaften Standesbewusstsein Fabrik und Werkstatt meiden, um ihr Arbeiterinnensein zu verwischen und abzuleugnen: die Frauen und Töchter der verelendenden Handwerker und Kleingewerbetreibenden, der niederen Handelsangestellten, der unteren Staats- und Gemeindebeamten usw. In der Konfektionsindustrie, in einer schmachvollen Schmutzkonkurrenz, die den eigentlichen Arbeiterinnen das Stück Brot aus der Hand schlägt, suchen „bessere Frauen“ und „höhere Töchter“ die Mittel für Tand, Flitter und Naschereien zu erwerben, die ihnen der Wille oder der Geldbeutel des Familienoberhaupts vorenthält.

Und wie überall bei der Heimarbeit, so spielt auch in der Konfektionsindustrie die Verwendung von Personen eine große Rolle, die nicht mehr oder noch nicht voll leistungsfähig sind, die nur den größeren oder geringeren Bruchteil einer Arbeitskraft stellen und zu Nebenarbeiten herangezogen werden, für die kein Lohn berechnet wird. Die halb erblindete Mutter der Konfektionsnäherin, ihr betagter Schwiegervater mit den schwielenharten, zitternden Händen, ihr Kind, das kaum die zarten Fingerchen regieren kann oder dem bei der Arbeit vor und nach der täglichen Schulzeit die Augen zuzufallen drohen: sie alle müssen in der Regel durch Knöpfeaufheften, Fadenschlagen, Heftfädenausziehen usw. zum Mithelfen, Mitverdienen heran. In der Leistung einer Arbeitskraft stecken fast stets noch die Teilleistungen von halben, viertel, achtel Arbeitskräften. Der Unternehmer bezahlt die Arbeitskraft des Mannes, der Frau oder auch die des Ehepaars; was er tatsächlich kauft, ist aber sehr oft der größte Teil der Arbeitskraft der ganzen Familie.

Die widerstandsschwachen, widerstandsunfähigen Arbeitskräfte, welche die Konfektionsindustrie zu rekrutieren vermag, sind ihr zum weitaus größten Teil zur schrankenlosen Ausbeutung überliefert. Für die deutsche Gesetzgebung ist ja die Heimarbeit bis jetzt ein Rührmichnichtan geblieben, und auch die Werkstättenarbeit ist gesetzlich nur spottwenig geschützt. Zu den erwähnten Vorbedingungen fettester Profite auf der einen Seite, grauenvollsten Elends auf der anderen gesellen sich noch weitere. Die Möglichkeit für die Unternehmer, einen beträchtlichen Teil der Betriebsunkosten, die Ausgaben für Arbeitsräume, Beheizung, Beleuchtung, für Zutaten, Nähmaschinen usw. auf die Arbeitenden abzuwälzen, ihre Befreiung von den Lasten der Versicherungsgesetzgebung usw. – kurz, die eigentümlichen Betriebsverhältnisse haben die Konfektionsindustrie zu einem wahren Dorado, einem Goldland, für das Unternehmertum gemacht, zu einer Dschehenna, dem Tale des Jammers und der Tränen, für die Arbeiterschaft.

Die Beschäftigung der Konfektionsarbeiter entbehrt unter dem einschneidenden Einfluss des Wechsels von Hochsaison und Flaute der Sicherheit und Regelmäßigkeit. Wochen fieberhafter Hatz mit gesteigertem Verdienst werden durch Zeiten abgelöst, wo Arbeit und Verdienst kaum nennenswert ist, ja, völlig versiegt. Die Feststellungen der Gewerbezählung von 1895 über die Kampagne- und Saisonindustrien erweisen das klärlich. Das Auf und Ab zwischen angespanntestem Schuften und halbem oder ganzem Feiern mit seiner Rückwirkung auf das Einkommen ist von verhängnisvollen Folgen für Lebenshaltung, Lebensgewohnheiten und Charakter begleitet. Es steigert die Unregelmäßigkeit und Ausdehnung der Arbeitszeit, die schon sowieso unter dem Drucke der Heimarbeit sowohl im Stübchen der Arbeiter wie in der Werkstatt des Zwischenmeisters ausgedehnt und regellos genug ist. In der Hochsaison beginnt der Arbeitstag der Heimarbeitenden sehr oft vor dem Morgengrauen, endet tief in der Nacht, ja, erst in den folgenden 24 Stunden und verschlingt Sonn- und Feiertagsruhe. Seine Grenze erreicht er nur, wenn die Energie erlahmt, welche die brennenden Augen offen, Finger und Füße in Bewegung hält. In den Werkstätten der Zwischenmeister wird der Arbeitstag durch Überstunden und Mitgabe von Arbeit zur Fertigstellung daheim bedeutend verlängert. Erhebungen des Vereins für Sozialpolitik stellten fest, dass in fast dem vierten Teil von 41 Zwischenmeisterwerkstätten in Berlin Arbeitszeiten von 15, 16 und 17 Stunden – nach Abzug der Pausen – vorkamen. Und es sind überwiegend oder doch in sehr großer Anzahl weibliche Arbeitskräfte, für welche eine überlange, regellose Arbeitsdauer gilt: Mädchen, die noch mitten in der körperlichen Entwicklung stecken, Frauen, die Mütter sind und für Kinder und Hauswirtschaft sorgen müssen!

Das Einkommen der weitaus meisten Konfektionsarbeiter und -arbeiterinnen schreit in seiner Dürftigkeit gen Himmel. Es verdammt die Unglückseligen zu chronischer Unterernährung, das heißt zum langsamen Verhungern; zum Verzicht auf Licht, Luft, Bequemlichkeit, oft auch Sauberkeit in der Wohnung; zum unerbittlichen Niederringen jedes Bedürfnisses nach Freude, Bildung, Kultur. Für die weiblichen Sklaven des Konfektionskapitals fügen aber die Hungerlöhne zu all den Qualen eines entbehrungsreichen, sorgenschweren Daseins in zahllosen Fällen noch die tiefste Schmach hinzu. Wo die Entlohnung der ehrlichen Arbeit die Fristung der nackten Existenz nicht sichert, drängt sich das Laster, die Prostitution, als Retter in der Not auf. Was in dieser Beziehung die amtliche Enquete von 1887 rückhaltlos anerkannt hat, haben seither weitere Erhebungen und Forschungen bestätigt. Wen kann die traurige Wahrheit wundernehmen angesichts der folgenden Zahlen? Das Statistische Jahrbuch der Stadt Berlin für 1897 gibt den Jahresverdienst für Wäschenäherinnen mit 486 Mark, für Schneiderinnen mit 457 Mark, für Knopflochhandnäherinnen gar nur mit 354 Mark an. Das Einigungsamt des Berliner Gewerbegerichts stellte fest, dass der wöchentliche Nettoverdienst für Handnäherinnen – fast ausnahmslos Heimarbeiterinnen – im Durchschnitt 6 Mark 33 Pfennig betrug; er stieg von 2 Mark 30 Pfennig in einem Falle auf 10 Mark 80 Pfennig. In der Damen- und Mädchenkonfektion stellt sich das Nettojahreseinkommen der Werkstättenarbeiterinnen nach einer Erhebung des Statistischen Amtes für das Deutsche Reich im Durchschnitt auf 322 Mark 40 Pfennig! Und welch grausiges Elend der Lebenshaltung enthüllt es nicht, wenn Grandtke in seiner Untersuchung über Die Berliner Konfektionsindustrie (Schriften des Vereins für Sozialpolitik) das Durchschnittseinkommen von 28 Heimarbeitern, die mit ihren Frauen zusammen direkt für die Konfektionäre schafften, je Ehepaar und Woche auf 20 Mark 25 Pfennig berechnet, und das bei täglich 14-stündiger Arbeitszeit.

Die Arbeitsräume der Konfektionsindustrie sind sehr oft wahre Arbeitshöhlen. Nur sehr wenige Arbeiter und Arbeiterinnen schaffen in großen Betriebswerkstätten, welche in sanitärer Hinsicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Für die erdrückende Mehrzahl der Heimarbeiter und -arbeiterinnen drängt sich Leben und Arbeit in einem einzigen Raume zusammen, der als Wohnung, Schlafstelle, Küche und Arbeitsstatt dient, der nicht selten zu gleicher Zeit Werkraum, Kranken- und Sterbezimmer ist. Betreffs der Werkstätten von Zwischenmeistern – zumal der kleinen – liegen die Verhältnisse vielfach nicht günstiger oder kaum besser. Auch sie werden oft zum Wohnen, Schlafen und Kochen benützt und enthalten einen viel zu kleinen Luftraum je Kopf der hier Arbeitenden. In der Strafanstalt Plötzensee kommen auf jeden Gefangenen 28 bis 29 Kubikmeter Luft. Die Fabrikinspektion für Berlin konstatierte, dass von besichtigten Arbeitsräumen der Kleider- und Wäschekonfektion und der Kostümbranche mehr als ein Drittel einen Luftraum von weniger als 10 Kubikmeter je Kopf der beschäftigten Person aufwies. Die ohnehin unzureichende Luft wird verschlechtert durch die künstliche Beleuchtung, durch die Ausdünstungen der Bügelöfen, der Dämpfe und Gase beim Bügeln, durch den Geruch des Maschinenöls, die herumfliegenden Stofffäserchen usw. Ventilation fehlt meist gänzlich. Die in drangvoll fürchterlicher Enge zusammen arbeitenden Menschen atmen eine entsetzliche Atmosphäre ein. Ansteckende Krankheiten – Lungenleiden, Diphtheritis, Scharlach, Hautkrankheiten usw. – finden unter diesen Bedingungen einen fruchtbaren Boden für ihre Verbreitung. Die Arbeitshöhlen werden zu gefährlichen Seuchenherden, die über die Konfektionsarbeiterschaft hinaus die Konsumenten der Konfektionswaren bedrohen.

Überlange, ungeregelte Arbeitszeit, Unterernährung und ungesündeste Arbeitsräume wirken zusammen, um für die Arbeiter und Arbeiterinnen der Konfektionsindustrie all jene gesundheitsschädlichen Einflüsse zu steigern und zu verschärfen, die ihrer Beschäftigung infolge des Tretens der Nähmaschine, der vornübergebeugten Haltung, die den Brustkorb zusammendrückt, des Schaffens bei künstlichem Licht usw. ohnedies anhaften. Störungen der Verdauungstätigkeit, Blutarmut, Bleichsucht, Krankheiten der Atmungs- und Unterleibsorgane, Augenleiden usw. sind unter der Konfektionsarbeiterschaft alltägliche Erscheinungen. Das Treten der Nähmaschine zerrüttet zumal den weiblichen Organismus in der unheilvollsten Weise, und das in der Regel um so mehr, je jünger die Arbeiterin ist. Die Tuberkulose fordert zahlreiche Opfer. Aus der Statistik der Ortskrankenkasse der Berliner Schneider ergibt sich, dass etwa 10 Prozent der weiblichen Mitglieder lungenkrank sind.

„Menschenopfer unerhört“ sind es, die dem kapitalistischen Profit in der Konfektionsindustrie zum Opfer fallen. Wahrhaft entsetzliche Arbeitsbedingungen überantworten hier breite proletarische Schichten steigender Verelendung, einem Verkümmern und Verkommen, das mit dem gegenwärtigen das künftige Geschlecht ergreift und die gesamte Volkskraft schwer schädigt. Den hier vorliegenden fressenden Schäden gegenüber versagt die bessernde Macht der gewerkschaftlichen Organisation im Allgemeinen so gut wie völlig: Die Konfektionsarbeiter und -arbeiterinnen gehören zu den organisationsunfähigsten Arbeiterschichten. Und wie steht es mit der bessernden Macht der Gesellschaft, wie sie durch die Gesetzgebung repräsentiert wird?

Seit langen Jahren haben amtliche Erhebungen und sozialpolitische Studien die vieläugigen Gräuel der Konfektionsindustrie und die Dringlichkeit gesetzlichen Einschreitens dagegen geoffenbart. Seit langen Jahren kämpfen die organisierten Schneider und Schneiderinnen für einen wirksamen gesetzlichen Schutz der Konfektionsarbeiterschaft. Seit langen Jahren tritt die Sozialdemokratie im Reichstag für einen solchen ein. Vergeblich! Wohl schien es einen Augenblick, die Gesellschaft werde sich zu ernsten sozialpolitischen Taten aufraffen. Der Konfektionsarbeiterstreik vom Winter 1896 beleuchtete mit der Schärfe des Scheinwerfers den abgrundtiefen, uferlosen Jammer der einschlägigen proletarischen Schichten. Eine heiße Welle des Mitgefühls, der Entrüstung wogte durch alle Bevölkerungskreise. Es regnete Sympathieerklärungen mit den Ausständigen, im Reichstag wurde der Streik vom Regierungstisch und vom Herrn von Stumm als berechtigt anerkannt. Minister und bürgerliche Parteien – die Freisinnigen ausgenommen – überboten einander an Beteuerungen, schnelle und wirksame Hilfe zu schaffen. Und das Resultat? Es hat bequem in einem Kindertaschentüchlein Platz: die bekannte Verordnung des Bundesrats über die Werkstättenarbeit, jene Verordnung, die von vornherein auf den Kampf gegen die Heimarbeit verzichtete, deren strikte Überwachung seitens der Fabrikinspektion unmöglich ist, und die unbestritten vor allem zu einer weiteren Ausdehnung der Heimarbeit geführt hat; die lächerlich unzureichenden Bestimmungen der letzten Gewerbenovelle; und als noch ausstehende Nachlese der Antrag Heyl zu Herrnsheim, die Heimarbeit von Fabrik- und Werkstättenarbeiterinnen betreffend, dem ebenfalls die Losung zugrunde liegt: „Wasch mir den Pelz, und mach ihn nicht nass!“ Im Kampfe gegen das Konfektionsarbeiterelend, das Heimarbeiterelend hinkt die deutsche Sozialpolitik hinter der anderer Staaten her. Der sozialpolitische Eifer unserer bürgerlichen, unserer christlichen Welt hat sich in Worten erschöpft. Ein lehrreiches Fiasko mehr der neuen Doktrin von dem steigenden Einfluss der Ethik und des Gerechtigkeitssinnes in den besitzenden Klassen.

Abermals ist es die Organisation der Schneider und Schneiderinnen, die als Vorkämpferin für die Elendsten der Elenden der Berufsgenossen auf den Plan tritt. Sie hat eine kräftige Agitation durch Versammlungen in die Wege geleitet, welche in einer Resolution die nächsten Mindestforderungen an gesetzlichem Schutz für die Konfektionsarbeiter feststellen sollen. Sie hat eine treffliche Denkschrift an Reichstag und Bundesrat ausarbeiten lassen, welche sachkundig, auf reichhaltiges Material gestützt, die Notwendigkeit wirksamen gesetzlichen Schutzes begründet. Die gegenwärtig erhobenen Forderungen sind die folgenden:

  1. Verbot der Mitgabe von Arbeit nach Hause nach der Werkstattbeschäftigung.
     
  2. Direkte Ausgabe von Arbeit an die Heimarbeiter und -arbeiterinnen seitens der Unternehmer unter Vermeidung der Zwischenmeister.
     
  3. Trennung der Arbeitsräume von den Wohnräumen; in den Werkstätten sowohl wie in den Arbeitsräumen der Heimarbeiter müssen auf den Kopf der beschäftigten Personen mindestens je 15 Kubikmeter Luftraum kommen.
     
  4. Ausdehnung der Bestimmungen der Gewerbeordnung über die Sonntagsruhe (§ 105b), das Verbot der Kinderarbeit (§ 135), die Beschränkung der Arbeitszeit der jugendlichen Arbeiter (§ 136), der Frauen (§§ 137 und 139a Abs. 1), die Gewerbeaufsicht (§ 139b), insbesondere durch weibliche Aufsichtspersonen, den Erlass von Arbeitsordnungen (§ 134a bis 134g) und die Anzeige des Gewerbebetriebs (§ 44) auf die Hausindustrie und die Heimarbeit.
     
  5. Ausdehnung der Arbeiterversicherungsgesetzgebung auf die Heimarbeiter und -arbeiterinnen.
     
  6. Reich, Staat und Gemeindebehörden sollen Schneiderarbeiten nur unter der Bedingung vergeben, dass die Kleidungsstücke in Werkstätten hergestellt werden, die der Gewerbeordnung und Gewerbeinspektion unterstehen, und dass die von Unternehmern und Arbeiterorganisationen festgesetzten Lohntarife als Mindestmaß der Entlohnung anerkannt werden.

Gegenüber den heillosen Übeln der Konfektionsindustrie erscheinen diese Forderungen fast als überbescheiden. Nicht das vorliegende Bedürfnis, die Rücksicht auf den sozialpolitischen Kurs des Stillstandes und Rückwärts hat ihr Maß bestimmt. Es sollte den gesetzgebenden Gewalten jeder Vorwand zu der Weigerung genommen werden, ein Schrittchen vorwärts zu tun. Werden sie endlich handeln?

Im Ringen für den gesetzlichen Schutz der Konfektionsarbeiterschaft müssen die Genossinnen in den vordersten Reihen stehen. Das Konfektionsarbeiterelend ist in hervorragendem Maße Arbeiterinnenelend, Frauenelend. Und die Vogelfreiheit der Heimarbeit ist bekanntlich ein wesentliches Hindernis für den wirksamen gesetzlichen Schutz der Arbeit überhaupt, dessen gerade die proletarische Frau so dringend bedarf. Im Ringen für den gesetzlichen Schutz der Konfektionsarbeiterschaft wird das gesamte klassenbewusste deutsche Proletariat seine Schuldigkeit tun. Eine seiner wichtigsten positiven Aufgaben besteht darin, durch seine gewerkschaftliche und politische Aktion verkommende Arbeiterschichten aus ihrer Verelendung zu reißen, sie wehrtüchtig zu machen zum Kampfe gegen das Unternehmertum und für die sozialistische Gesellschaftsordnung. Auch hier gilt es, durch Klein- und Gegenwartsarbeit die große Zukunft zu erobern. Ein Blick auf das Konfektionsarbeiterelend drängt die Frage des Dichters auf die Lippen:

„Ein Unrecht geschieht hier, wer wird ihm abhelfen?
Ein blutiges Unrecht geschieht hier, wer wird es sühnen?“

Ein Blick auf den proletarischen Klassenkampf gibt die Antwort: das Proletariat, das weiß, das will und das kämpft.

 


Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024