MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 21. Mai und 4. Juni 1902.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 202–213.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Unter den vielen schweren Verbrechen des Kapitalismus, über welche die Geschichte zu Gericht sitzen wird, ist keines brutaler, grausiger, verhängnisvoller, wahnwitziger, mit einem Worte: himmelschreiender als die Ausbeutung der proletarischen Kinder. Ausbeutung der proletarischen Kinder durch das Kapital, was besagt das anderes als Raub von Gesundheit und Lebenskraft, von Kinderlust und Bildungsmöglichkeit, als Vernichtung von Leib und Seele der heranwachsenden Geschlechter, als Raub und Vernichtung, begangen an den schwächsten, wehrlosesten und schutzbedürftigsten aller Gesellschaftsglieder. Der Kapitalismus packt mit harter Faust das proletarische Kind, das schon vor seiner Geburt durch die rücksichtslose Ausbeutung von Mutter und Vater bedroht und geschädigt wurde. Er peitscht es mittels der Not oder der Unwissenheit der Eltern in die Fabrik, in die Werkstatt, in die Ziegelhütte, zum Straßenhandel, zum Rübenverziehen und Viehhüten, zum Kegelaufsetzen und Warenaustragen oder in die mörderische Hausindustrie. Hier gliedert er es seiner Profitmühle ein, die auspresst, was von Muskel- und Nervenkraft in Gold verwandelt werden kann, und die ein armseliges, körperlich und geistig zermalmtes Geschöpf entlässt. Das Abströmen ländlicher Bevölkerung nach den Industriezentren, die Erschließung rückständiger Gegenden und Länder durch die modernen Verkehrsmittel entheben das kapitalistische Unternehmertum der Notwendigkeit, in dem proletarischen Kinde von heute den unentbehrlichen erwachsenen Arbeiter von morgen zu schonen. So hat die kapitalistische Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft Geschlechter auf Geschlechter dem Verkümmern überliefert und dahingemäht; so hat sie über die Gegenwart hinaus an der Zukunft, über das Proletariat hinaus an der ganzen Nation in gewissenlosester Weise gefrevelt.
Was sie an Körper, Geist und Sittlichkeit der proletarischen Kinder zertritt und welken macht, davon meldet der Tatsachen Fülle. Es offenbart sich in den erschreckend hohen Zahlen der schwächlichen, kränklichen, greisenhaften Kinder in den Volksschulen, Es schreit aus den wohlbegründeten Klagen der Lehrer über die geringe Aufmerksamkeit, geistige Frische und Auffassungskraft, über die minderwertigen Leistungen der Schüler, die – von Erwerbsarbeit am frühen Morgen und in späten Abendstunden aufgesaugt – schlafhungrig, matt, stumpfsinnig in dem Unterricht oder über den Hausaufgaben hocken. Es nimmt entsetzliche Gestalt an in den steigenden Scharen von jugendlichen Verwahrlosten und Verbrechern. Und es muss sogar den „gutgesinnten“ Verehrer und Nutznießer des Militarismus durch den Umstand schrecken, dass jede Rekrutenaushebung eine große, ja, in einzelnen Gegenden eine wachsende Zahl Dienstuntauglicher aufweist, die nicht für den Kampf gegen den äußeren und inneren Feind gedrillt werden können.
Der Weg des Kapitalismus und sein Herrschaftsgebiet sind besät mit zahllosen Leichen von Kindern, die der zarten Finger wegen ganz geschlachtet wurden, wie es im „Kapital“ heißt, sind bedeckt mit vernichteten, in den Staub getretenen geistigen und sittlichen Kräften. Nicht „agitatorische Übertreibung“, wissenschaftliche Forschung rang Engels 1845 in seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England“ im Hinblick auf die Schmach der kapitalistischen Kinderausbeutung den Empörungsschrei ab: Ich klage die Bourgeoisie „geradezu des sozialen Mordes“ an! Und wahrhaftig: Wie „alle Wohlgerüche Arabiens“ die mordbefleckte Hand der Lady Macbeth nicht reinzuwaschen vermochten, also sind alle Wunderwerke des Kapitalismus außerstande, diesen von der furchtbaren Blutschuld seines „bethlehemitischen Kindermordes“ zu entsühnen. Es bleibt ein unzerstörbares Denkmal von der Schande kapitalistischer Ordnung, von ihrem verrohenden Einfluss, der menschliches Empfinden und Denken in dem „eiskalten Wasser“ der Profitgier, des engherzigsten Egoismus ertränkt, dass der Gesellschaft bis heute noch nur lächerlich ungenügende Maßregeln zum Schutze des proletarischen Kindes gegen die Ausbeutung seiner Arbeitskraft, gegen die Meuchelung seiner Lebenskraft abgezwungen werden konnten.
Was ist in Deutschland bis nun in dieser Beziehung geschehen? Bereits in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts traten die verderblichen Folgen der kapitalistischen Auswucherung der Kinder krass in Erscheinung. Weil die Fabrikgegenden nicht mehr das genügende Kontingent Rekruten stellen konnten, erließ 1827 Friedrich Wilhelm III. von Preußen eine Verordnung zum Schutze der Kinder, die in Fabriken beschäftigt waren. Jedoch, aller nachgewiesenen Gräuel ungeachtet, verbot die Gewerbeordnung von 1869 nicht einmal die Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren in den Fabriken vollständig. Das wenige aber, was sie zum Schutze der kindlichen Fabrikarbeiter festlegte, blieb so gut wie toter Buchstabe. Das sehr robuste „öffentliche Gewissen“ erwachte erst, als die Sozialdemokratie – die ihre ersten festen Hochburgen in Sachsen eroberte, wo das Kapital die proletarischen Kleinen in verbrecherischer Weise ausbeutete – anklagend und Reform heischend auf den Plan trat. 1873 forderte der Reichstag den Reichskanzler zu Erhebungen über Frauen-, Kinder-, Sonntagsarbeit usw. auf. Die Ergebnisse der vom Bundesrat in der Folge beschlossenen Enquete wurden 1877 veröffentlicht. Der Regierungsmechanismus hatte also – wie es sich in einem Klassenstaat gebührt – mit jener strafwürdigen Langsamkeit gearbeitet, die für sein Klappern kennzeichnend zu sein pflegt, wenn es sich um Reformen zugunsten der ausgebeuteten Massen handelt. So mangelhaft die Enquete gewesen, sie enthüllte die fressenden Schäden der ausgebeuteten Kinderarbeit. Und dennoch! Dennoch scheute die Regierung sich nicht, 1878 einen Entwurf einzubringen, der zwar das absolute Verbot der Fabrikarbeit von Kindern unter zwölf Jahren vorsah, aber alles in allem die Ausbeutungsmacht des Unternehmertums weit mehr respektierte als die Schutzbedürftigkeit der Kinder. Der Reichstag besserte seinerseits herzlich wenig an dem reformlerischen Pfuschwerk niedrigster Sorte. Erst als die Furcht vor der siegreich vorwärts dringenden Sozialdemokratie den herrschenden Klassen die Gewerbeordnungsnovelle von 1890/1891 abpresste, rückte der Schutz der ausgebeuteten Kinder ein Schrittchen vorwärts. Die Zulassung zu der Fabrikarbeit durfte nicht vor Absolvierung der Volksschule erfolgen, das heißt nicht vor dem vierzehnten beziehungsweise dreizehnten Jahre. Der Arbeitstag der kindlichen Lohnsklaven blieb dagegen unverändert auf sechs Stunden festgesetzt – eine einstündige Pause eingerechnet. Keine noch so schwächliche gesetzliche Vorschrift zügelte den kapitalistischen Werwolfsheißhunger nach Ausbeutung kindlicher Arbeitskräfte auf den verschiedenen Gebieten der Erwerbsarbeit außerhalb der Fabrik. Die Schutzgesetzgebung erfasste nicht einmal die ganze Domäne der gewerblichen Arbeit. Und doch war hier in der modernen Hausindustrie eine Hölle entstanden, in der die Kinder vom zartesten Alter an – wie die umfangreiche Fachliteratur unanfechtbar nachwies – leiblich und geistig der schlimmsten Qual, der rettungslosesten Hinopferung überantwortet wurden. Das kapitalistische Ausbeutungsgelüste schwenkte heuchlerisch die „Achtung vor dem Rechte der Familie“, um der Gesetzgebung einen Einbruch in sein Dorado zu wehren.
Vergeblich riss die Sozialdemokratie damals wie später bei jeder Gelegenheit die täuschende Hülle von den schwärenden Wunden der Heimarbeit. Vergeblich wies sie nach, dass die unangetastete hausindustrielle Ausbeutungsherrlichkeit den Wert des gesetzlichen Schutzes der Kinderarbeit in den Fabriken herabmindere, ja vernichte. Unangetastete hausindustrielle Ausbeutungsfreiheit – und der findige Unternehmer vermag den Arbeitstag seiner kindlichen Fabriksklaven durch Mitgabe von Arbeit nach Hause allen gesetzlichen Vorschriften zum Hohne schrankenlos zu verlängern! Unangetastete hausindustrielle Ausbeutungsherrlichkeit – und der beutegierige Kapitalist dezentralisiert seinen Betrieb, er treibt die fronenden Kleinen aus der Fabrikarbeit in die Heimarbeit mit ihren Schrecken der ungezügelten Auswucherung der Kräfte. Die Gesetze des kapitalistischen Wirtschaftslebens lassen ihrer nicht spotten. Die Tatsachen haben die sozialdemokratischen Prophezeiungen in geradezu unheimlicher Weise bestätigt. Das geht aus den Berichten der Fabrikinspektoren hervor, das verzeichnet die wissenschaftliche Forschung über die Heimarbeit, das ist in den Untersuchungen und Materialsammlungen von Volksschullehrern zu lesen. Neben dem unsäglichen Kinderelend in der Hausindustrie aber erscheint die nicht minder verderbliche Aussaugung kindlichen Lebensmarkes durch andere gewerbliche Beschäftigungen, durch die Arbeit in Forst- und Landwirtschaft und im häuslichen Dienste. Es ist das hohe bleibende Verdienst deutscher Lehrer – allen voran der tapfere, warmherzige Agahd –, in den dunkelsten Winkel des dunklen Deutschlands, in die Kinderausbeutung, hineingeleuchtet zu haben.
Bergehoch türmten sich die zahlenmäßigen,
tatsachenreichen Nachweise über den kulturschändenden
Raubbau, den Industrie- wie Krautjunker, Ritter vom Laden- wie vom
Schanktisch mit dem kostbarsten Schatz der Nation, mit der
Lebenskraft der heranwachsenden Geschlechter, trieben. Die
gesetzgebenden Gewalten aber stehen seit 1891 da, das Ohr geschlossen
gegen den Schrei der Plage von Hunderttausenden und aber
Hunderttausenden Gemarterter, das Auge blind gegen die zuckende Qual
gepeinigter Leiber und Geister die Hände leer von Reformen. Der
Bundesrat hat nicht einmal kraftvollen, ausgiebigen Gebrauch von
seinem Rechte gemacht, durch Ausdehnung der Bestimmungen der
Gewerbeordnung die Proletarierkinder in weiteren nichtfabrikmäßigen
industriellen Betrieben ein weniges zu schützen. Die von ihm
1897 verfügte Unterstellung der Werkstätten der Kleider-
und Wäschekonfektion unter die betreffenden gesetzlichen
Vorschriften sprengte kaum ein linderndes Tröpfchen auf den
glühenden Stein der Kinderausbeutung. Die Gesetzgebung der
einzelnen Bundesstaaten legte müßig die Hände in den
Schoß. In manchen Gemeinden und Bezirken kam es zu
Polizeivorschriften, die besonders der Auswucherung der Kleinen beim
Straßenhandel, Waren- und Zeitungsaustragen, Kegelsetzen usw.
wehren sollen. Allein, nicht genug damit dass diese Vorschriften auch
auf engstem Gebiet hinter den allerbescheidensten Forderungen
zurückblieben, wurden sie obendrein vielfach von den Gerichten
für null und nichtig erklärt. Erst 1897 ließ sich das
Reichsamt des Innern neuerlich ein Schrittchen vorwärts drängen.
Es veranlasste durch ein Rundschreiben die Bundesregierungen, im
Jahre 1898 Erhebungen über die gewerbliche Kinderarbeit
außerhalb der Fabriken vorzunehmen. Die Enquete erstreckte sich
von vornherein nicht über das weite Feld der forst-,
landwirtschaftlichen und häuslichen Erwerbstätigkeit der
schulpflichtigen Kinder, und sie wurde in den einzelnen Bundesstaaten
verschieden, überall aber mangelhaft durchgeführt. Ihre
Ergebnisse wurden im dritten Vierteljahrsheft zur Statistik des
Deutschen Reiches, Jahrgang 1900, veröffentlicht. Sie führten
zu dem Gesetzentwurf über den gewerblichen Kinderschutz, dessen
wichtigste Bestimmungen wir in letzter Nummer mitteilten und der
bereits im Reichstag in erster Lesung verhandelt worden ist. Wir
schreiben 1902! Die oberste Reichsbehörde für Sozialreform
hat also abermals keineswegs mit jener fieberhaften Emsigkeit
gearbeitet, die sie aufzuwenden vermag, wenn es sich um Liebesgaben
an Schlotbarone und Ochsengrafen, wenn es sich um Zuchthausgesetze
und Zollwucher handelt. Hätte vielleicht die deutsche
Arbeiterklasse „nach berühmten Mustern“ durch einen
Zwölftausendmark-Agitationsfonds die Vorbereitung der Reform
beschleunigen können? Wie oft aber noch die Sonne sich über
der unsagbaren Qual der ausgebeuteten Kleinen neigen wird, ehe die
eingeleitete Reform Tat wird, das mögen die Götter wissen.
Keine Kinderschutz-Kommissionsdiäten werden die Beratungen der
21 „Kerls“ fördern, welche der Reichstag mit der
Durcharbeitung des Regierungsentwurfs betraut hat. Und welche
Verbesserungen traurigsten Loses wird das Gesetz schließlich
dem Kinde des deutschen Proletariers bringen? Das werden wir in einem
folgenden Artikel zeigen.
Was seinerzeit die Enquete über die Erwerbstätigkeit schulpflichtiger Kinder außerhalb der Fabrik ahnen ließ, das bestätigt der Entwurf des Kinderschutzgesetzes vollauf. Die Reformwilligkeit der Regierung knickt de- und wehmütig vor der Ausbeutungsdomäne der junkerlichen Krippenreiter zusammen. Wie die Regierung von vornherein sich nicht einmal erkühnt hat, mit der Fackel der amtlichen Erhebung den gewaltigen Umfang und das blutige Unrecht der Kinderausbeutung in der Landwirtschaft und im häuslichen Dienste zu beleuchten, also geht sie auch an all dem hier angehäuften Jammer körperlichen und geistig-sittlichen Ruins in ihrem Entwurfe mit der empörenden Gleichgültigkeit des bekannten biblischen Priesters und Leviten vorüber. Kein noch so dürftiger gesetzlicher Schutz soll den Kleinen zuteil werden, welche in der Landwirtschaft und bei häuslicher Gesindearbeit fronden.
Das bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger, als dass die große Mehrzahl der erwerbstätigen Schulkinder überhaupt vogelfrei für das schlimmste Ausbeutungsgelüste ist.
Der sozialdemokratische Abgeordnete Wurm schätzt die Zahl der Schulkinder, die in Land- und Forstwirtschaft und im häuslichen Dienste erwerbstätig sind, auf fast 2 Millionen.
Die Tatsache allein genügt schon, dem Entwurfe der junkerfrommen Regierung ein „Gewogen und zu leicht befunden“ zuzuschreiben.
Und dieses Urteil wird wahrhaftig nicht ausgelöscht durch das Maß des Schutzes, das der Entwurf für die gewerblich tätigen Kinder außerhalb der Fabrik fordert.
Von dem engumgrenzten Geltungsbezirk des §4 abgesehen, gibt der Entwurf das fremde Kind schon vom 12. Jahre, das eigene aber sogar – man schämt sich, es niederzuschreiben – vom 10. Jahre an der Ausbeutung bei gewerblicher Arbeit preis. Laut Zählung von 1898 waren in Preußen 75 Prozent der Kinder über 10 Jahre, 46 Prozent über 12 Jahre alt. Legt man diese Feststellung zugrunde, so zeigt sich, dass der Entwurf die übergroße, ja, die erdrückende Mehrzahl der gewerblich tätigen Schulkinder weiter ihrer Pein überlässt.
Der Entwurf enthält nur eine einzige Bestimmung, welche für alle gewerblich tätigen Schulkinder gilt. Sie wendet sich gegen den schändlichsten, verhängnisvollsten Missbrauch der kindlichen Arbeitskraft, gegen die Nachtarbeit. Von abends 8 bis morgens 8 Uhr dürfen Kinder nicht bei gewerblichen Arbeiten beschäftigt werden. Allein nicht einmal diese selbstverständlichste und notwendigste Zügelung der Ausbeutung wagt die Regierung für alle Kinder in nächster Zukunft konsequent festzuhalten. Die unteren Verwaltungsbehörden sind vielmehr befugt, für die ersten fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zu gestatten, dass Kinder über 12 Jahre beim Austragen von Waren und sonstigen Botengängen schon von 6½ Uhr morgens und vor dem Vormittagsunterricht verwendet werden dürfen.
Der ohnehin bescheidene Wert der übrigen Maßregeln zum Schutze der ausbeutungsgeweihten Kleinen wird wesentlich eingeschränkt und herabgemindert durch einen schweren, unverzeihlichen Hauptfehler. Der Entwurf unterscheidet durchweg zwischen der Erwerbsarbeit fremder und eigener Kinder, und mit der widerlichsten Heuchelei zarter Rücksichtnahme auf die Eltern, die Familie, setzt er für das eigene Kind das dürftige Maß an Schutz noch herab, das er dem fremden angedeihen lässt. Der fremde Ausbeuter darf das Kind erst vom 12. Jahr ab seinem Profitbegehren zins- und tributpflichtig machen. Den Eltern aber – hinter welche sich der fremde Ausbeuter verkriecht, die er mittels grimmer Not oder beklagenswerter Unwissenheit in seine Handlanger verwandelt – steht gesetzlich das Recht zu, ihr Fleisch und Blut schon vom 10. Jahre an durch Erwerbsarbeit auszunutzen und vorzeitig zu Grunde zu richten. Nur bei theatralischen Vorstellungen und anderen öffentlichen Schaustellungen verbietet der Entwurf die Verwendung eigener wie fremder Kinder vor dem 12. Jahre. Fremde Kinder dürfen in Werkstätten, im Handelsgewerbe und in den Verkehrsgewerben im Allgemeinen in den Ferien 4 Stunden, in der übrigen Zeit nur 3 Stunden täglich und nicht vor dem Vormittagsunterricht beschäftigt werden. Die tägliche Arbeitsqual der eigenen Kinder innerhalb der gesetzlich festgelegten Arbeitszeit ist unbegrenzt, und ein Teil ihres Arbeitstages kann bereits vor den Vormittagsunterricht fallen. Keine gesetzliche Vorschrift entzieht das eigene Kind – und das fremde Mädchen beim Bedienen der Gäste – bei schweren gesundheitlichen, den allerschwersten sittlichen Gefahren, die mit der Tätigkeit in den Gast- und Schankwirtschaftsbetrieben verbunden sind. Der leiben Polizei bleibt überlassen, durch etwaige Vorschriften jenes sozialpolitische Verständnis, jenen sozialpolitischen Mut zu betätigen, die der gesetzgebenden Regierung abgeht. Das gleiche gilt betreffs der Zeitbegrenzung der Verwendung eigner Kinder zarten Alters beim Austragen von Waren und sonstigen Botengängen. Allerdings sieht der Entwurf auf diesen Erwerbesgebieten einmal eine bessernde Ausnahmebestimmung vor. Beim Austragen von Milch, Brotwaren und Zeitungen stellt der Entwurf eigene und fremde Kinder gleich. Aber der bessernden steht sofort eine verbösernde Ausnahme zur Seite. Beim Warenaustragen und bei Botengängen im Allgemeinen werden die fremden Kinder wie die eigenen vom 10. Jahre an zur Ausbeutung zugelassen, und zwar bis zu 4 Stunden täglich.
Nicht einmal am Sonntag reißt der Entwurf der bibelfesten, kirchengläubigen Regierung das eigene Kind auch nur um ein weniges aus der festklammernden, erbarmungslosen Faust der Erwerbsarbeit; nicht einmal einen einzigen Tag von sieben schenkt er ihm zur „Heiligung“, als Tag der Sonne, der vollen Rast, der Erquickung, der Freude. Aber auch dem fremden Kinde ist die Sonntagsruhe keineswegs im ganzen Bannkreis seiner gewerblichen Ausnutzung verbürgt. Dafern es durch Warenaustragen oder sonstige Botengänge sich um kargen Lohn müht, kann es am Sonntage zwei Stunden in das Erwerbsjoch gespannt werden. Ehe oder nachdem es seine schwachen Glieder gerührt, darf es „beten“, denn die Zeit des Hauptgottesdienstes muss, wie der Nachmittag, frei bleiben. Welch verlogenes, erbärmliches Kompliment vor dem Gebote des Höchsten im himmlischen Zukunftsteich: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ Als politischer Sachwalter der besitzenden Klassen erhöht der Staat sogar für das proletarische Kind über dieses Gebot – das er noch in der Schule lehren lässt – den Befehl des Allerhöchsten im irdischen Klassenstaat, den Befehl des Kapitals: „Du sollst dich ausbeuten lassen!“
Mit den hervorgehobenen Unterschieden im Schutze der eigenen und fremden Kinder ist die gesetzliche Benachteiligung der ersteren noch nicht erschöpft. Der Entwurf ermächtigt den Bundesrat, für 5 Jahre nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Ausnahmen von dessen Vorschriften über die Beschäftigung eigener Kinder zu bewilligen. Nach Ablauf dieser Zeit können die Ausnahmebestimmungen erneuert werden, und zwar ohne Begrenzung oder für einzelne Bezirke. Dass der Entwurf der Ausbeutung des eigenen und des fremden Kindes verschiedene Grenzen zieht, ist in mehrfacher Hinsicht eine Quelle schwerster Mängel. Zunächst wird dadurch gerade der gewaltigen Mehrzahl der gewerblich tätigen Kleinen nur das ärmlichste Mindestmaß an Schutz gewährt, und dies obendrein in jenen Erwerbsfeldern, wo die Ausnutzung der kindlichen Arbeitskraft die verzehrendste, die verderblichste ist. Das Hauptgebiet der Beschäftigung eigener Kinder ist die Hausindustrie mit ihren barbarischen Arbeitsbedingungen. Die Erhebung von 1898 und andere Untersuchungen lassen darüber keinen Zweifel. In 35 Schulorten des Kreises Sonneberg waren z. B. von 3.555 erwerbstätigen Schulkindern nur 88 nicht bei den Eltern beschäftigt, 97½ Prozent von ihnen wurden von der Familie der Ausbeutung unterworfen. Von den industriell außerhalb einer Fabrik arbeitenden Schulpflichtigen schafften 83 Prozent in Gewerbezweigen, in denen die Hausindustrie eine hervorragende Rolle spielt. Man sieht: indem die Regierung auf den Schutz für das eigene Kind verzichtet, breitet sie schirmend ihre Hand über die schlimmsten Arbeitshöhlen und Arbeitsstätten, wo zahlreiche Scharen von Kleinen um einen Bettlerverdienst geopfert werden. Damit nicht genug. Die geringe Beschränkung des Ausbeutungsrechts der Eltern bietet einen bequemen Vorwand, auch der Ausbeutungsmacht des Fremden nicht allzu scharf in die Zügel zu fassen, ja den gegen sie gerichteten Schutz durch Ausnahmebestimmungen zu durchbrechen. Endlich aber trägt der Unterschied in dem gesetzlichen Schutz des eigenen und fremden Kindes dazu bei, ein kunterbuntes Durcheinander von Vorschriften zu schaffen, deren Durchführung ungemein schwer zu kontrollieren ist.
Die völlig unzulänglich gesicherte Überwachung der Schutzbestimmungen ist ein hervorstechendes Gebrechen des Entwurfs. Ihre Grundlage bildet die Verpflichtung des Arbeitgebers, der fremde Schulpflichtige beschäftigt, dies bei der Ortspolizeibehörde anzuzeigen, und für jedes Kind eine Arbeitskarte zu lösen. Bezüglich der gewerblichen Beschäftigung der eigenen Kinder besteht diese Verpflichtung nicht. Die Ortspolizeibehörde weiß also nicht einmal, wo Kinder in der Familie alle Pein der Erwerbsarbeit erdulden müssen! Trotzdem hat sie die Durchführung der Vorschriften über die Beschäftigung eigener und fremder Kinder zu überwachen. Der vorliegenden Erfahrungen bei der Gewerbeaufsicht ungeachtet, spielt sich die Regierung damit offenbar auf die sozialpolitische Unschuld vom Lande hinaus. Sie täuscht sich oder anderen vor, die Polizei werde den Vergehen wider den Kinderschutz mit dem gleichen Amtseifer, dem nämlichen Scharfsinn nachspüren wie etwa Verfehlungen der Arbeiter gegen das Vereinsgesetz, wie Streiksünden gegen den groben Unfugs- oder den Erpressungsparagraphen. Inwieweit die Gewerbeaufsichtsbeamten zur Kontrolle des Kinderschutzes herangezogen werden, darüber soll der Bundesrat entscheiden. Was immer er in dieser Beziehung bestimmt, wird die gesetzwidrig verbrecherische Kinderausbeutung nur wenig hindern, dafern nicht eine ansehnliche Vermehrung des Stabs der Inspektionsbeamten und eine gründliche Reform der Gewerbeaufsicht erfolgt.
Kurz, die mangelhaften Garantien für die Beobachtung des Gesetzes vollenden, was die unzureichenden gesetzlichen Vorschriften beginnen: Die Regel – der Schutz der ausgebeuteten Kleinen – wird zur Ausnahme; die Ausnahme – die ungezügelte Auswucherung der kindlichen Arbeitskraft – wird zur Regel. Die neuste Probe der „Sozialreform von oben“ bleibt dem proletarischen Kinde, der Arbeiterklasse, das Meiste, das Wichtigste schuldig, was im Namen der Menschlichkeit und Vernunft, der Kultur und des Vaterlandes gefordert erden muss. So krass sind die vielen Tat- und Unterlassungssünden des Entwurfs, dass neben ihnen der anerkennenswerte Fortschritt verblasst, den er bringt: die Einbeziehung der Hausindustrie in den Bereich der gesetzlichen Regelung,. Dieser Fortschritt ist prinzipiell hochbedeutsam. Zum ersten Male soll die Gesetzgebung – wie die Sozialdemokratie, auf Tatsachen gestützt, seit Langem fordert – mit dem in § 154 der Gewerbeordnung festgelegten Wahne brechen, dass sie nicht zum Schutze der Schwachen schützend über die Schwelle der Familie schreiten dürfe, , dass ihr die Ausbeutung auch der Wehrlosesten heilig sein müsse, wenn diese sich an den häuslichen Herd flüchtet. Aber freilich: der eine prinzipielle Schritt nach vorwärts hat den geringen Besitz der Regierung an sozialpolitischem Wagemut aufgezehrt. Sie hat sich gescheut, durch kraftvolle praktische Tat das richtige Prinzip konsequent durchzuführen. So ist der Entwurf ein sozialreformatorisches Pfuschwerk geblieben, das Angesichts des größten Verbrechens der kapitalistischen Ordnung die Ohnmacht und den bösen Willen der besitzenden und herrschenden Klassen zu gründlicher Reformarbeit bezeugt.
Was die Regierung zusammengestümpert, das wird aber die bürgerliche Majorität des Reichstags aus eigenem kaum wesentlich verbessern. Die erste Lesung des Entwurfs im Parlament erweist das sinnenfällig. Die Redner aller bürgerlichen Parteien – von dem Zentrümler Hitze an bis zu den Freisinnigen Pachnicke, Zwick, Müller hinauf- verschwendeten so viel Gehirnschmalz und Atem für Worte des Lobes und Dankes an die Adresse der reformeifrigen Regierung, dass ihnen so gut wie nichts für die nötige Kritik des gebrestreichen Entwurfs blieb. Der Freisinnige Pachnicke erklärte zwar den grenzenlosen Jammer der Kindesausbeutung für „sehr betrübend“, fand aber, dass dagegen mit einer „Schonung vorgegangen werden müsse“, welche die Kleinen auch künftighin schonungsloser Überbürdung preisgibt, und schloss mit einer Seligpreisung der „richtigen Mitte“ zwischen Ausbeutung und Schonung, welche die allweise Regierung gefunden. Und der ebenfalls freisinnige Müller ließ eine erschütternde Schilderung des Kinderelends in der Sonneberger Spielwarenindustrie ausklingen in das furchtsame Stammeln: Das Verbot jeder Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder sei „ein Sprung ins Dunkle“, vor dem er zurückschrecke. Konservative Reichstreue aber und welfische, polnische und elsässische Reichsfeinde, denen sich Stöcker zugesellte, „der neue Luther a. D.“, vereinigten sich zu einem Chor, der unter Führung des junkerfürchtigen Posadowsky die poetischen Reize des Viehhütens, Rübenverziehens, Kartoffelllesens usw. mit schmelzender Inbrunst sang. Nur der bürgerliche Einzelgänger Rösicke trat an die Seite der Sozialdemokratie, welche ihre alte Forderung erhob: Fort mit jeder Erwerbsarbeit der Kinder! Ihre drei Redner – Wurm, Reißhaus, Herzfeld – begründeten diese Forderung mit tatsachenreichen, sachkundigen Ausführungen, welche unter anderem auch mit dem verwüstenden junkerlichen Missbrauch kindlicher Arbeitskraft gründlich abrechneten.
Nun haben die proletarischen Massen das Wort. Ihre Erkenntnis und ihr Wille müssen bewusst heischend, bewusst kämpfend hinter die pflichttreue Tätigkeit ihrer parlamentarischen Führer treten. Heraus darum zum Kampfe für ein wirksames Kinderschutzgesetz, ihr proletarischen Väter, ihr proletarischen Mütter vor allem, die ihr verzweiflungsvolle Zeugen der Vernichtung eures eigenen Fleisches und Blutes seid! Sollt ihr auch fürder der Kapitalsinteressen Hüter bleiben? Sollt ihr fortfahren, zu Nutz und Frommen fremden Reichtums euch aus Schützern und Erziehern eurer Kleinen zu deren Antreibern und Peinigern erniedrigen zu lassen? Soll der Geist der kapitalistischen Ordnung noch länger den heiligen Instinkt eurer Elternliebe fälschen, so dass sie das Kind der Ausbeutung als Opfer bietet, statt mit dem Grimme des unbezähmbaren Naturtriebes sich gegen die Ausbeutung zu kehren? Das sei ferne! Erhebt millionenstimmig die Losung: Kampf der Ausbeutung, Schutz unseren Kindern!
Zuletzt aktualisiert am 25. August 2024