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Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902.
Mit einem Anhang: Bericht über die 2. Frauenkonferenz am 13. und 14. September in München, Berlin 1902, S. 175/176.
Nach
Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 214–217.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Ich möchte Ihnen mit allem Nachdruck die Annahme des Antrags unserer Berliner Freunde empfehlen, der sich auf die Forderung der Einführung des Achtstundentages bezieht, aber nicht etwa von dem Gesichtspunkte aus, dass ich der Stellung und Annahme desselben irgendwo den Beigeschmack eines Misstrauensvotums oder auch nur eines leisen Tadels gegen die verflossene Tätigkeit unserer parlamentarischen Vertreter geben möchte. Ich erblicke vielmehr in der verhältnismäßig großen Zahl von Anträgen, welche sich auf die Einführung des Achtstundentages beziehen, einen kräftigen Vorstoß zum Ausbau des gesetzlichen Arbeiterschutzes, überhaupt einen Ausdruck des dringenden Bedürfnisses und des zielklaren Wollens der proletarischen Klasse. Wenn in den letzten Jahren vielleicht auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes weniger energisch und nachdrücklich vorwärtsgedrängt worden ist als in manchen anderen Zeiten, so erklärt sich das zum großen Teil daraus, dass die Zeit der Hochkonjunktur den proletarischen Massen die Reformnotwendigkeit weniger zum Bewusstsein gebracht hat. Das ist anders geworden durch das Gespenst der Krisis, das sich riesengroß vor dem Proletariat aufgerichtet hat. Die Krisis mit ihren Folgen legt gerade auch dem politisch kämpfenden Proletariat gegenüber den Gewerkschaften eine edle Pflicht auf. Kein Zweifel, wir alle sind von Sympathie für die Gewerkschaftsbewegung erfüllt, die Betätigung dieser Sympathie ist kein leeres Wort. Nur zu gut wissen wir, dass politische und gewerkschaftliche Bewegung einander ergänzen und zueinander gehören, aber durch die Krisis werden gerade gegenwärtig die gewerkschaftlichen Kämpfe sehr erschwert, und deshalb ist es erwünscht, die Gewerkschaften durch den Ausbau des gesetzlichen Arbeiterschutzes zu entlasten. Aber auch noch andere Gründe zwingen uns, den Kampf um die gesetzliche Verbesserung des Arbeitsverhältnisses in den Vordergrund zu schieben. Ich erinnere an den Zolltarif und den schmählichen Verrat des Zentrums an den Arbeitern durch seine Stellung dazu. Mehr als je ist das Zentrum dadurch in die Notwendigkeit versetzt, wenigstens etwas zur Förderung wirklicher sozialer Reformarbeit zu tun oder aber durch die Unterlassungssünden auf diesem Gebiete den Nimbus der Arbeiterfreundlichkeit noch schneller zu zerstören, als es ohnehin der Fall ist. Auf die eine oder die andere Weise muss das politisch kämpfende Proletariat die Früchte der Situation ernten, sei es in Gestalt eines kräftigen Eintretens des Zentrums für Reformen, sei es in Gestalt einer Diskreditierung des Zentrums bis auf die Knochen. Und noch ein anderes!
Der Zollwucher wird ohne Zweifel bei den nächsten Wahlen zu einem so glänzenden Siege der Sozialdemokratie führen, dass das Lager der bürgerlichen Politiker dadurch von jener heiligen Furcht erfüllt sein wird, die die alleinige Quelle gelegentlicher Reformarbeiten der Bourgeoisie ist. Wir wissen genau, dass der Knüppel beim Hunde liegt und dass die bürgerlichen Parteien auch nicht zu einem Jota mehr an Reformen sich verleiten lassen, als ihnen die Furcht vor dem kämpfenden Proletariat abknöpft. Wie einmal von den Scharfmachern das Wort gesprochen wurde: Meine Herren, wir arbeiten ja nur für Sie! so wird die Sozialdemokratie nach den Wahlen in der Lage sein, den gegnerischen Scharfmachern zu sagen: Sie haben nur für uns gearbeitet. Diese Situation wird uns erlauben, einen energischen Druck auf das Parlament von außen auszuüben. Der ständige Berliner Briefschreiber der Neuen Zeit, dessen Leitartikel allein schon zur ständigen Lektüre des Blattes veranlassen sollten („Sehr richtig!“), Genosse Mehring, hat sehr richtig darauf hingewiesen, dass der Zollwucher eine so außerordentlich günstige Situation für die außerparlamentarische Aktion der Massen schaffen würde, dass sie zu sozialpolitischen Fortschritten ausgenützt werden könne. Das ist aber auch nicht die Hauptsache. Die Situation bringt auch einen großen Fortschritt für die Entwicklung unserer Partei. („Sehr richtig!“) Wieder wird sich in unserer Partei eine richtigere Schätzung der parlamentarischen Arbeit und der außerparlamentarischen Aktion des Proletariats einstellen. („Sehr richtig!“) In dieser Verschiebung der Wertschätzung zugunsten der außerparlamentarischen Aktion sehe ich einen außerordentlichen Vorteil für die Entwicklung des politischen Klassenkampfes. Es scheint fast so, als ob alle Anträge, die hier gestellt sind, an einer Überschätzung dessen kranken, was die parlamentarische Arbeit leisten kann, und an einer Unterschätzung dessen, was die außerparlamentarische politische Aktion des Proletariats leisten muss. Diese Wertung tritt vor allem auch in den bekannten Artikeln von Parvus zutage. Wie schätzenswert, wie unentbehrlich die Aktion unserer parlamentarischen Vertreter auch sein mag, sie mögen mit Menschen- und mit Engelszungen reden, sie mögen die triftigsten Gründe haben, so würden sie doch bei den herrschenden Klassen nichts ausrichten, wenn nicht von außen der Druck eines erkenntnisreichen, eines geschulten, eines organisierten Proletariats hinzukäme. Deshalb begreife ich das Vorgehen der Fraktion, das den Anstoß zur kräftigen Agitation, zur Förderung der Aktion außerhalb des Parlaments geben muss. Wie der Riese Antäus immer wieder Kraft gewann, wenn seine Schultern den mütterlichen Boden der Erde berührten, so wachsen, so erweitern sich die Kräfte der Sozialdemokratie, wenn sie die rechte, innige Berührung mit den Massen hat.
Zuletzt aktualisiert am 25. August 2024