MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902.
Mit einem Anhang: Bericht über die 2. Frauenkonferenz am 13. und 14. September in München, Berlin 1902, S. 303 f.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wir haben diesen Punkt auf die Tagesordnung gesetzt, weil bei den letzten Kämpfen um die politische Gleichberechtigung des Proletariats in Belgien, Schweden und auch bei uns in Deutschland das Frauenstimmrecht in einer Weise in den Hintergrund getreten ist, die nicht im Einklang steht mit dem Wesen unserer Bewegung und den praktischen Interessen der Arbeiterklasse. Künftighin wird aber in den Kämpfen des Proletariats im die Erweiterung seiner politischen Rechte das Frauenstimmrecht eine größere Rolle spielen als bisher. Diese Frage wird in den Vordergrund geschoben werden gerade von den reaktionären Parteien. In England tritt seit lange ein sehr ansehnlicher Teil der konservativen Partei für das Frauenstimmrecht ein, in Belgien ist ein großer Teil der Klerikalen dafür, und bei uns hat selbst Herr v. Kardorff, der Gründer der Laurahütte, ein Reaktionär von reinstem Wasser, erklärt, dass man sich mit dem Frauenstimmrecht befreunden könne. Die reaktionären Parteien aber suchen höchstens ein verfälschtes Frauenstimmrecht durchzusetzen. Die Sozialdemokratie muss auch dieser Frage gegenüber die äußersten Konsequenzen des demokratischen Prinzips ziehen, sie darf nicht die Hälfte der Staats- und Gemeindebürger von den gesetzgebenden und verwaltenden Körperschaften ausschließen. Die deutsche Sozialdemokratie darf sich im Kampfe um die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht von reaktionären Parteien schlagen lassen. Erst das Frauenstimmrecht fordert die Aufklärung und Organisation der Frauen heraus und ermöglicht ihre unbeschränkte Teilnahme am politischen und wirtschaftlichen Klassenkampfe. Wir dürfen nicht auf dem Standpunkt stehen, die Frau sei noch nicht reif für das politische Stimmrecht. Das Stimmrecht ist nicht Zuckerbrot für politische Einsicht und Wohlverhalten, sondern Mittel zur politischen Erziehung und politischen Macht der Proletarierinnen. Die Forderung des Frauenstimmrechts muss in der parlamentarischen Aktion und außerparlamentarischen Agitation unserer Partei mit allem Nachdruck vertreten werden, damit wir die Köpfe der Massen revolutionieren und die Frauen darauf vorbereiten, einst von den Stimmzetteln auch den rechten Gebrauch zu machen. Durch die praktische Notwendigkeit des Kampfes sind wir aber gezwungen, das höhere Interesse des Proletariats den Forderungen des weiblichen Geschlechts voranzustellen. Politische Fortschritte dürfen nicht deshalb abgelehnt werden weil sie nicht verknüpft sind mit der Verwirklichung des Frauenstimmrechtes. Weiter verlangen wir ein einheitliches und freiheitliches Vereins- und Versammlungsrecht auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, ein Recht, das Männer und Frauen mit gleichem Maße misst. In bürgerlich-sozialreformerischen Kreisen werden auch diese Forderungen bürgerlich verhunzt, indem man nur für das Vereins- und Versammlungsrecht der Frauen auf wirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiete, nicht auf politischem Gebiete eintritt. Mit einer so reaktionär verzopften Reform können wir uns nicht begnügen. Es gibt ja auslegungskundige Juristen genug, die aus jeder unliebsamen Betätigung der Frau eine verbotene politische Betätigung zu machen wissen. Das bisschen Vereins- und Versammlungsrecht, das die Frauen in einzelnen Staaten schon jetzt besitzen, muss voll ausgenutzt werden. Vor allen Dingen protestieren wir gegen das zweierlei Recht für Bourgeoisdamen und Proletarierinnen. Uns muss recht sein, was frauenrechtlerischen Spielereien, reaktionären Flottenparaden und dem Sedanfestrummel mit weiblichen Teilnehmern billig ist. Allen Schichten der weiblichen Bevölkerung muss mit gleichem Maße gemessen werden. Dadurch werden wir unserem Ziel näher kommen, der vollen politischen Gleichberechtigung beider Geschlechter! (Lebhafter Beifall und Händeklatschen.)
Zuletzt aktualisiert am 25. August 2024