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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 25. März 1903.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 218–225.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Am 14. März jährte es sich zum zwanzigsten Male, dass in London Karl Marx starb. Engels, dessen Leben vierzig Jahre lang mit dem Leben Marxens aufs innigste in Arbeit und Kampf verbunden gewesen, schrieb damals an einen gemeinsamen Freund, an Genossen Sorge in New York:
„Die Menschheit ist um einen Kopf kürzer gemacht, und zwar um den bedeutendsten Kopf, den sie heutzutage hatte.“ [1]
Er traf mit dieser Wertung ins Schwarze.
Es kann nicht unsere Aufgabe sein, im Rahmen dieses Artikels zu erörtern, was Karl Marx als Mann der Wissenschaft und als revolutionärer Kämpfer dem Proletariat gegeben hat und was er ihm ist. Es hieße dies wiederholen, was in diesen Tagen. in der sozialistischen Presse über sein unermesslich reiches, tiefes wissenschaftliches wie praktisches Lebenswerk und seine gewaltige, aus einem Gusse gegossene Persönlichkeit geschrieben worden ist, die sich ganz, rückhaltlos, ohne Schachern und Feilschen, in den Dienst des Proletariats stellte. Dafür wollen wir kurz andeuten, was die proletarische Frauenbewegung, ja, die Frauenbewegung überhaupt, ihm im Besonderen zu danken hat.
Gewiss: Marx hat sich nie mit der Frauenfrage „an und für sich“ und „als solcher“ beschäftigt. Trotzdem hat er Unersetzliches, hat er das Wichtigste für den Kampf der Frau um volles Recht geleistet. Mit der materialistischen Geschichtsauffassung hat er uns zwar nicht fertige Formeln über die Frauenfrage, wohl aber Besseres gegeben: die richtige, treffsichere Methode, sie zu erforschen und zu begreifen. Erst die materialistische Geschichtsauffassung hat es uns ermöglicht, die Frauenfrage im Flusse der allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, im Lichte der allgemeinen sozialen Zusammenhänge in ihrer historischen Bedingtheit und Berechtigung klar zu verstehen, ihre bewegenden und tragenden Kräfte zu erkennen, die Ziele, denen diese zutreiben, die Bedingungen, unter denen allein die aufgerollten Probleme ihre Lösung zu Enden vermögen.
Zerschmettert sank der alte Aberglaube in den Staub, dass die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft ein ewig Unwandelbares sei, das nach sittlichen Gesetzen oder göttlichen Vorschriften geschaffen. Klar enthüllte es sich, dass die Familie wie die übrigen Einrichtungen und Daseinsformen der Gesellschaft einem steten Werden und Vergehen unterworfen ist und sich wie sie mit den Wirtschaftsverhältnissen und der von ihnen getragenen Eigentumsordnung wandelt. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Produktivkräfte aber ist es, welche diese Wandlung treibt, indem sie die Produktionsweise umwälzt und sie in Gegensatz zu der Wirtschafts- und Eigentumsordnung stellt. Auf dem Untergrund der revolutionierten wirtschaftlichen Verhältnisse und Zusammenhänge vollzieht sich dann die Revolutionierung des Denkens der Menschen, ihr Streben, den gesellschaftlichen Überbau in seinen Einrichtungen den Veränderungen an der wirtschaftlichen Grundlage entsprechend umzugestalten, das in Eigentumsformen und Herrschaftsverhältnissen Erstarrte zu beseitigen. Die Kämpfe der Klassen sind es, mittels deren sich dieses Streben durchsetzt.
Aus der Vorrede Engels’ zu seiner lichtvollen Studie über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats wissen wir, dass die hier entwickelten theoretischen Gedankengänge und Gesichtspunkte zum guten Teile eine Marxsche Hinterlassenschaft sind, deren der Freund als ein unvergleichlich getreuer und genialer Testamentsvollstrecker gewaltet hat.
Was immer davon im Einzelnen als Hypothese ausgeschieden werden kann, ja, ausgeschieden werden muss: als Ganzes gibt uns das Werk eine blendende Fülle klarer theoretischer Einsicht in die viel verschlungenen Bedingungen, unter denen sich die heutige Form der Familie und der Ehe unter dem Einfluss der Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse allmählich entfaltet hat. Und diese Einsicht lehrt uns nicht bloß die Stellung der Frau in der Vergangenheit richtig bewerten, sie schlägt vielmehr auch eine tragfeste Brücke für das Verständnis der sozialen Lage, der privatrechtlichen und staatsrechtlicher Stellung des weiblichen Geschlechtes in der Gegenwart.
Dass unwiderstehliche, unaufhaltsame geschichtliche Kräfte in der heutigen Gesellschaftsordnung an der Arbeit sind, um diese Lage und Rechtsstellung von Grund aus zu revolutionieren und die Gleichberechtigung des Weibes herbeizuführen, das geht aus dem Kapital mit überzeugender Macht hervor. Indem hier Marx mit klassischer Meisterschaft der Entwicklung und dem Wesen der kapitalistischen Produktion bis in ihre feinsten Verästelungen, ihre verworrensten Phasen zergliedernd nachgeht und das ihr eigene Bewegungsgesetz in der Theorie vom Mehrwert entdeckt, hat er – zumal in den Ausführungen, welche die Frauen- und Kinderarbeit behandeln – schlüssig nachgewiesen, dass der Kapitalismus die Grundlage für die alte hauswirtschaftliche Tätigkeit der Frau zerstört, damit die überkommene Familienform auflöst, die Frau außerhalb der Familie ökonomisch verselbständigt und so den festen Boden für ihre Gleichberechtigung als Gattin, Mutter und Staatsbürgerin baut. Aus Marx’ Werken erhellt aber auch das andere: dass das Proletariat allein die revolutionäre Klasse ist, welche mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung die unerlässlichen sozialen Vorbedingungen für die volle Lösung der Frauenfrage zu schaffen vermag und schaffen muss. Davon abgesehen, dass die bürgerliche Frauenrechtelei die soziale Befreiung der Proletarierin weder erkämpfen will noch erkämpfen kann, erweist sie sich auch als ohnmächtig, die schweren neuen Konflikte zu lösen, welche auf dem Boden der sozialen und juristischen Gleichstellung der Geschlechter in der kapitalistischen Ordnung erwachsen müssen. Diese Konflikte verschwinden erst, wenn die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mit den durch sie bedingten Gegensätzen überwunden ist.
Was das Kapital in wissenschaftlicher Forschung über das Zerbröckeln der Familie und seine Ursachen lehrt, das fasst das Kommunistische Manifest – Marx’ und Engels’ gemeinsames Werk – in Sätzen von lapidarer Wucht zusammen:
„Je weniger die Handarbeit Geschicklichkeit und Kraftäußerung erheischt, d. h. je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird die Arbeit der Männer durch die der Weiber und Kinder verdrängt. Geschlechts- und Altersunterschiede haben keine gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse. Es gibt nur noch Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten machen ...
Die Bourgeoisie hat dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt ...
Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist eigentumslos; sein Verhältnis zu Weib und Kindern hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis ...
Worauf beruht die gegenwärtige, die bürgerliche Familie? Auf dem Kapital, auf dem Privaterwerb. Vollständig entwickelt existiert sie nur für die Bourgeoisie; aber sie findet ihre Ergänzung in der erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen Prostitution ...
Die bürgerlichen Redensarten über Familie und Erziehung, über das traute Verhältnis von Eltern und Kindern werden um so ekelhafter, je mehr infolge der großen Industrie alle Familienbande für die Proletarier zerrissen und die Kinder in einfache Handelsartikel und Arbeitsinstrumente verwandelt werden.“ [2]
Marx öffnet uns aber nicht bloß die Augen dafür, dass die geschichtliche Entwicklung zertrümmert, er erfüllt uns auch mit der sieghaften Überzeugung, dass sie Neues, Höheres, Vollkommeneres aufbaut.
„So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint“, lesen wir im „Kapital“, „so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter.“ [3]
Stolz und mit überlegenem Hohne stellen Marx und Engels im Kommunistischen Manifest den schmutzigen Verdächtigungen dieses Zukunftsideals die erbarmungslose Charakterisierung des Gegenwartszustandes entgegen:
„Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument. Er hört, dass die Produktionsinstrumente gemeinschaftlich ausgebeutet werden sollen, und kann sich natürlich nichts anderes denken, als dass das Los der Gemeinschaftlichkeit die Weiber gleichfalls treffen wird.
Er ahnt nicht, dass es sich eben darum handelt, die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben.
Übrigens ist nichts lächerlicher als das hochmoralische Entsetzen unsrer Bourgeois über die angebliche offizielle Weibergemeinschaft der Kommunisten. Die Kommunisten brauchen die Weibergemeinschaft nicht einzuführen, sie hat fast immer existiert.
Unsre Bourgeois, nicht zufrieden damit, dass ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offiziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen.
Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen. Man könnte höchstens den Kommunisten vorwerfen, dass sie an der Stelle einer heuchlerisch versteckten eine offizielle, offenherzige Weibergemeinschaft einführen wollten. Es versteht sich übrigens von selbst, dass mit Aufhebung der jetzigen Produktionsverhältnisse auch die aus ihnen hervorgehende Weibergemeinschaft, d. h. die offizielle und nichtoffizielle Prostitution, verschwindet.“ [4]
Was die Frauenbewegung Marx verdankt, ist jedoch keineswegs damit erschöpft, dass er, wie kein anderer, helles Licht auf den qualenreichen Entwicklungsgang warf, der das weibliche Geschlecht aus sozialer Knechtschaft zur Freiheit, aus Verkümmerung zu harmonischem, kraftvollem Menschentum emporführt. Durch seine tief greifende, scharfsichtige Analyse der Klassengegensätze in der heutigen Gesellschaft und ihrer Wurzeln hat er den Blick für den unüberbrückbaren Gegensatz der Interessen geöffnet, welcher die Frauen der verschiedenen Klassen trennt. Gleich schillernden Seifenblasen zerstieben in der Luft der materialistischen Geschichtsauffassung die „Liebessabbeleien“ von der einen großen „Schwesternschaft“, die vorgeblich ein einigendes Band um Bourgeoisdamen und Proletarierinnen schlingt. Marx hat das Schwert geschmiedet und gebrauchen gelehrt, welches die Verbindung zwischen der proletarischen und der bürgerlichen Frauenbewegung zerhauen hat; er hat aber auch die Kette der Einsicht geschmiedet, welche die erstere unlöslich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung zusammenschließt, dem revolutionären Klassenkampf des Proletariats angliedert. So hat er unserem Kampfe die Klarheit und die Größe, die Erhabenheit des Zieles gegeben.
Ein unermesslicher Reichtum an Tatsachen, Erkenntnissen und Anregungen zur Frage der Frauenarbeit, zur Lage der Arbeiterinnen, zur Begründung des gesetzlichen Arbeiterschutzes usw. ist in dem Kapital angehäuft. Es ist eine unerschöpfliche geistige Rüstkammer für unseren Kampf um die Augenblicksforderungen wie um das hehre sozialistische Zukunftsziel. Marx erzieht uns zur richtigen Würdigung der kleinen, oft kleinlichen Arbeit des Tages, die gerade zur Hebung der Kampftüchtigkeit der Proletarierinnen von brennender Notwendigkeit ist. Er hebt uns aber auch empor zu der festen, weitsichtigen Wertung des großen revolutionären Ringens um die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, ohne welche die sozialistische Gesellschaft und die Befreiung des weiblichen Geschlechtes glänzende Träume bleiben. Er erfüllt uns vor allem mit der Überzeugung, dass es das erhabene Ziel allein ist, welches der Tagesarbeit Wert und Bedeutung verleiht. So bewahrt er uns davor, über dem Gedränge der einzelnen Erscheinungen, Aufgaben und Erfolge die große grundsätzliche Erkenntnis vom Wesen unserer Bewegung einzubüßen und über der aufreibenden Tagesmühsal den Blick für den weiten geschichtlichen Horizont zu verlieren, an welchem die Morgenröte der neuen Zeit empordämmert. Wie er der Meister des revolutionären Gedankens ist, so bleibt er der Führer im revolutionären Kampfe, dessen Schlachten mit zu schlagen die Pflicht und der Stolz, das Glück und der Ruhmestitel der proletarischen Frauenbewegung ist.
1. Karl Marx/Friedrich Engels, Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag. Berlin 1933. S. 432.
2. Marx/Engels, Werke, Band 4, S. 459–493, hier S. 469–478.
3. Karl Marx, Das Kapital, Erster Bd., S. 514.
4. Marx/Engels,Werke, Band 4, S. 459–493, hier S. 479.
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024