MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 26. Juli 1905.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 297–301.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
In furchtbarer Kraft und Herrlichkeit schreitet in Russland die Revolution, die „Befreierin und Rächerin und Richterin“, einher, den gewalt‘gen Arm ausreckend, „dass er die Welt erlöst“. Erlöst von einem der fluchwürdigsten Übel, welche je die Völker heimgesucht haben: von dem verderben- und verbrechenreichen zarischen Despotismus. Bald hier, bald dort zertrümmern revolutionäre Hammerschläge einen Teil seiner Macht, einen Teil seiner längst verwirkten Existenz. Bis jetzt haben weder trügerische Vorspiegelungen ärmlicher und erbärmlicher Reformen noch bluttriefende Gewaltmaßregeln gegen die „Empörer“, noch auch die alten reaktionären Gaunerkniffe, die nationalen und religiösen Gegensätze aufeinander zu hetzen, die revolutionäre Flutwelle aufzuhalten, geschweige denn zu bannen vermocht. Blutgefärbt wälzt sie sich unaufhaltsam weiter, sie schwillt und schwillt. Kaum ein Tag, an dem die Drahtnachrichten und Berichte nicht Bauernunruhen verzeichnen, die von Ausbrüchen wilder Verzweiflung ob furchtbarster Not zu Kämpfen gegen das „gottgewollte“ Regiment „Väterchens“ werden; Beschlüsse und Erklärungen der liberalen Semstwoleute, der adligen Grundbesitzer, die himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt zwischen Reformhoffnungen, Reformforderungen und der Furcht vor den aufgewühlten Proletarier- und Bauernmassen hin und her schwanken; Kundgebungen der „Intelligenz“, der Träger höherer Berufe, die zum großen Teil als Sozialisten oder Sozialrevolutionäre mit den Arbeitern zusammen Sturm gegen den Absolutismus laufen. Dazu in den letzten Wochen in rasch wachsender Zahl Revolten von Soldaten, die sich weigern, die verruchte Rolle von Henkersknechten ihrer Brüder und Schwestern zu spielen; Meutereien der Marine auf Kriegsschiffen und in den Hafenstädten.
Der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, die stärkste Kraft der Ereignisse bleibt aber die revolutionäre Aktion der Proletarier, die ohne Unterschied der Nationalität, der Rasse, des Glaubens – Russen, Polen, Juden, Letten, Armenier usw. – zur Niederzwingung der Bestie des Despotismus brüderlich zusammenstehen. Der Massenstreik, der heute in diesem, morgen in jenem Industriezentrum mit vulkanischer Gewalt ausbricht und um sich greift, bald die, bald jene Gewerbe stilllegt, hier abgebrochen wird, dort um so wuchtiger einsetzt, sich durch keine Gewalt hintertreiben und unterdrücken lässt: er erschüttert unerträglich die wirtschaftliche Grundlage des sozialen Lebens, lähmt die selbstherrliche Staatsgewalt und treibt sie aus den Fugen. In alle Schichten der Bevölkerung trägt er die revolutionäre Gärung, er hält die erwachten revolutionären Geister lebendig, er peitscht sie vorwärts zum Kampfe.
Das Proletariat Russlands hat die geschichtliche Mission übernommen, vor deren Erfüllung die Bourgeoisie Westeuropas sogar in den Tagen revolutionären Jugenddranges kurzsichtig und feige zurückgeschreckt ist und die sie später bewusst verraten hat. Es vollstreckt an dem zarischen Despotismus das Todesurteil. Damit ist es zum Preisfechter für das revolutionäre Proletariat der ganzen Welt, insbesondere aber Europas geworden. Der Zarismus ist noch stets der Büttel und Henker aller Freiheitsbewegungen gewesen. Wo die reaktionären Gewalten eines Staates nicht ausreichten, das vorwärts drängende politische Leben der Volksmassen zu morden, da trat er als Würger auf den Plan. Das Verbrechen seiner Fortexistenz bleibt eine stete und schwere Drohung und Gefahr für den Befreiungskampf des Proletariats aller Länder, zumal aber für den der deutschen Arbeiterklasse. Das aber nicht bloß in dem alten Sinne, sondern in noch umfassenderer Weise, dank der geschichtlichen Zusammenhänge, welche die kapitalistische Entwicklung schuf.
Die russische Autokratie lässt die kapitalistische Ordnung für die Besitzlosen aus einem Zuchthaus zur Hölle werden. Sie liefert die Proletarier als politisch Rechtlose, das heißt als Wehrlose, Geknebelte, an die ungezügelte, schamloseste kapitalistische Ausbeutung aus. Die, welche im Ringen für die proletarischen Klasseninteressen Kampfgenossen der zielklaren Arbeiter aller Länder sein könnten, sein müssten, zwingt sie damit zu der erniedrigenden und verhängnisvollen Rolle der Schmutzkonkurrenten. Auf dem Proletariat der ganzen Welt lasten die Ketten, mit denen sie die zwiefach Enterbten in ihrer Heimat fesselt.
Der zaristische Despotismus ist ein Taufpate und einer der vornehmsten Träger der eroberungs- und raublustigen, gewalttätigen Weltmachtpolitik, welche fremde Völker zu unterjochen und auszusaugen strebt, welche daheim die besitzlosen Massen mit gepanzerter Faust durch Hochschutzzölle und Monopole schamlos auswuchert, durch politische Knebelung sicher zu Boden schlägt. Er ist und bleibt kraft seiner barbarischen Wesenheit, die durch den Kapitalismus auf die Spitze getrieben wird, ein Friedensstörer par excellence. Seine Beutegier steigert die Möglichkeit blutiger Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten, lässt die militärischen Opfer an Gut und Blut der Massen unerträglich anschwellen und treibt dem Weltkrieg entgegen. Eine gesunde Heimatpolitik und eine großzügige Weltpolitik, die Gegenwarts- und Zukunftsinteressen des Proletariats haben keinen gefährlicheren, tückischeren Feind als den russischen Absolutismus.
Das junge Proletariat des Moskowiterreiches, das ihn zu Boden schmettert, ist im umfassendsten Sinne der Preisfechter der Arbeiterklasse aller Länder. Die fruchtbare, schöpferische Kraft der Revolution hat fast über Nacht seinen Klasseninstinkt zum Klassenbewusstsein reifen lassen. Unbeirrt durch Reformkomödien der Autokratie wie durch ihre Schreckensherrschaft geht es seine Bahn. Es ist gleich groß im Kämpfen wie im Leiden, als Held und Märtyrer den Besten aller Zeiten und Völker ebenbürtig. Zu Hunderttausenden hungert es, hungert wochenlang, monatelang; zu Tausenden und Zehntausenden füllt es die Kerker, stirbt im Straßenkampf durch Standrecht, am Galgen. Und es kämpft weiter, ohne Klagen und ohne Ruhmredigkeit, schlicht, selbstverständlich, erhaben; beglückt, wenn die führenden Geister, die Kämpfer in den vordersten Reihen, heil und wehrtüchtig bleiben; wenn die geistigen Waffen der revolutionären Literatur nicht mangeln, welche in geheimen Druckereien oder im Ausland geschmiedet werden; wenn die konspiratorische Wühlarbeit nicht versagt, die neue Massen dem Revolutionsheer eingliedert und die Zusammenhänge aufrechterhält.
In brüderlicher Solidarität an die Seite der glorreichen Soldaten der Revolution in Russland zu treten, ist Pflicht des gesamten internationalen Proletariats. Die deutsche Arbeiterklasse wird ihre Erfüllung, zu welcher der Parteivorstand der Sozialdemokratie aufgerufen hat, als Ruhmestat auffassen. Mit aller Hingabe, mit aller Kraft, deren sie angesichts großer historischer Aufgaben fähig ist, muss sie die russische Revolution moralisch und materiell unterstützen. Ihr liegt es ob, durch mannhaftes Eintreten für die Freiheitskämpfer im Nachbarreich vom Vaterland die Schmach zu tilgen, mit welcher es besudelt wurde dank dem Wettkriechen des offiziellen Deutschlands vor dem Knutenregiment, dank der feigen, selbstsüchtigen Haltung der Bourgeoisie, welche den Kurs der russischen Staatspapiere und Industrieaktien höher wertet als das Erwachen eines großen Volkes zur Kultur und Freiheit. Die deutschen Genossinnen im besonderen dürfen nicht vergessen, dass die russischen Revolutionärinnen ihnen jederzeit vorangeschritten sind als leuchtende Vorbilder von Heldenmut und Entsagung, als Vorkämpferinnen, die für das volle Bürgerrecht der Frau die höchsten Bürgertugenden in die Waagschale geworfen haben.
Mögen die büttelseligen bürgerlichen Soldschreiber nach Knüppeln und Ketten für die „Umstürzler“ schreien, die ihren Teil an Pflichten und Ruhm der russischen Revolution begehren. Das deutsche Proletariat wird sich durch seine geschworenen Feinde nicht hindern lassen, die bedeutungsreichste weltpolitische Aufgabe des Augenblicks zu erfüllen. Es ist vom Stamme der stolzen Empörer, die drauf und dran sind, eine Geißel der Menschheit zu zerbrechen. Es wird durch Taten einstehen für seine russischen Brüder, für die Preisfechter des revolutionären Proletariats.
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024