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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 18. Oktober 1905.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 309–314.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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In der Berliner Elektrizitätsindustrie tobt einer jener wirtschaftlichen Riesenkämpfe, die zum Greifen deutlich die skrupellose Brutalität zeigen, mit welcher die ausbeutende Kapitalistenklasse ihrer Profitgier und Herrschsucht die Zügel schießen lässt. Mehr als 40.000 Arbeiter und Arbeiterinnen müssen feiern; 33.000, weil das Belieben zweier gold- und machtreicher Unternehmerklüngel sie als Ausgesperrte auf das Pflaster warf, die übrigen, weil es ihnen unter den gegebenen Umständen eine Ehrenpflicht dünkte, aus Solidarität mit den Gemaßregelten die Arbeit einzustellen. Und wenn diese Zeilen erscheinen, so hat vielleicht schon die Solidarität des Geldsacks weitere 20.000 Arbeiter und Arbeiterinnen aus den Betrieben auf die Straße unter die Schläge der Hungerpeitsche gejagt. Der Verband der Kühnemänner, die berüchtigte arbeiterfeindliche Organisation der Metallindustriellen, dem die Firmen der Elektroindustrie angegliedert sind, hat der Arbeiterschaft der übrigen verbündeten Unternehmen für den 14. die Aussperrung angedroht, falls bis dahin die „meuternden“ Lohnsklaven sich nicht gekuscht haben sollten. Hinter den 40.000 aber, denen heute schon der Kampf aufgezwungen worden ist, und hinter den 20.000 anderen, die möglicherweise morgen ebenfalls kämpfen müssen, stehen Hunderttausende von Frauen und Kindern. Proletariermassen, so zahlreich wie die Bevölkerung einer Großstadt, werden von der Willkür einiger weniger Kapitalfürsten allen Sorgen und Qualen der Arbeitslosigkeit überliefert. Das Leben einer ganzen hochwichtigen Industrie und der von ihr abhängigen Gewerbe wird weit über Berlin hinaus durch sie aufs tiefste erschüttert. Warum das alles? 470 Arbeiter und Arbeiterinnen – Schraubendreher im Siemensschen Werner-Werke und Lagerarbeiter im Kabelwerke Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft – waren „begehrlich“ genug, in Gestalt einer sehr bescheidenen Lohnerhöhung auch ihrerseits einen winzigen Anteil an dem überquellenden Gewinn der Aktiengesellschaften zu fordern. Sie meinten, ein paar Pfennige Aufbesserung könnten Unternehmen zahlen, welche, wie die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft, in den letzten Jahren den Aktionären ohne jede Arbeit ihrerseits durchschnittlich 12 Prozent Dividende ausschütteten und ihrer Direktion 1903/1904 eine Tantieme von 900.000 Mark zuwiesen. Als ob das Können und nicht das Wollen über ihre Forderung zu entscheiden gehabt hätte! Die Herren aber wollten sie nicht bewilligen, das haben sie selbst feigenblattlos erklärt. „Die Frage der Lohnerhöhung spielt nur in ihren Konsequenzen eine Rolle“, so heißt es in einer ihrer Darstellungen des Kampfes, mit anderen Worten: Die Nichtbewilligung des billigen Verlangens, die Beantwortung des Streiks der abgewiesenen Hunderte mit der Aussperrung von unbeteiligten Tausenden sollte den Lohnsklaven das kapitalistische Herrsein im Hause mit aller Schroffheit zum Bewusstsein bringen, sollte ihnen eine Machtprobe aufzwingen, deren oberster Zweck die Zerschmetterung der Arbeiterorganisation ist. Wer anders denn als diese „hetzende“ Übeltäterin hat die Arbeiterschaft der Elektroindustrie gegen die gott-, natur- und polizeigewollte Ordnung der kapitalistischen Plusmacherei aufsässig gemacht, so dass eine ihrer Kategorien nach der anderen die Verdauungsseligkeit von Leitung und Aktionären durch Forderungen „beunruhigt“ und Zugeständnisse errungen hatte?
Mit der Organisation wollten die Herren abrechnen, sie sollte gebrochen werden, indem sie Macht gegen Macht stellten, die Macht der Ausbeuter und Unterdrücker gegen die Macht der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Klug vorbedacht wählten sie den Zeitpunkt dazu: die Herbsttage, wo der Winter zu drohen beginnt mit seinen gesteigerten Bedürfnissen und seinen verschärften Leiden für die, denen es an Geld und damit an Brot, vielleicht gar an Obdach mangelt. Wenn zu der Härte des sozialen Lebens und seiner Kämpfe die Unbill der Witterung sich gesellt, wenn mit dem Arbeiter Weib und Kind im kalten, zugigen Zimmer die bohrende Pein des Hungers empfinden: dann wird mancher Rebell gegen das Kapital kleinmütig und kriecht zähneknirschend unter das alte Joch zurück.
Und nicht die Jahreszeit allein ist den „Funkenprotzen“ günstig, ihnen springen alle sozialen und politischen Mächte bei, über welche das Kapital heutzutage kommandiert. Konnten sie sich nicht offen rühmen, es seien „mit Unterstützung der Staatsbehörden Vorkehrungen getroffen, um Unterbrechungen der Stromerzeugung hintan zu halten“? Die städtischen Behörden stehen ihrerseits an Unterstützungseifer nicht hinter dem „größeren Bruder“ zurück. Wozu auch hätten die Rathenau und Genossen mit ihrem fürstlichen Einkommen verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen, die von den Hofkreisen und Ministerien bis in den Kommunalfreisinn reichen? Polizei, Feuerwehr und Militär müssen Streikbrecher und Schützer von Streikbrechern „im Stehkragen“ stellen, welche die Unkenntnis oder der bourgeoise Klassenhass vornehmlich aus den Reihen der Kaufleute, Techniker und Ingenieure herführt. Das bürgerliche Zeitungsgeschwister „sozialliberaler“ wie konservativer Couleur bezeugt mit hocherhobenem Schwurfinger, dass lediglich der freche Übermut der Arbeiter der Taubensanftmut der Kühnemänner den Kampf aufgedrängt habe, es tobt mit allen Registern gegen die Störenfriede des nationalen Wirtschaftslebens. Die bürgerlichen Sozialreformler aber, die erst kürzlich wieder in Mannheim dem Proletariat von ihrem uneigennützigen Wohlwollen lispelten, haben die Brille ihrer „Objektivität“ noch immer nicht genug geputzt, um zu erkennen, ob Gewalttat von oben oder von unten vorliegt. Derweil die Arbeiter kämpfen müssen, sie mögen wollen oder nicht, ergötzen sich diese „Arbeiterfreunde“ an dem Kinderspiel, in den Nebeln juristischen Formelkrams nach den wirklich Schuldigen zu fahnden und den ringenden Teilen im Namen der Moral ein gütliches Vertragen zu predigen.
Der Krieg in der Berliner Elektroindustrie ist – wie die Riesenkämpfe in Crimmitschau und im Ruhrgebiet – ein Zeugnis von der Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Proletariern und Kapitalisten, einer Verschärfung, die aus dem zunehmenden Widerstreit zwischen Produktionskräften und Produktionsformen hervor wächst, welcher seinerseits durch den Klassengegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ausgelöst wird. Die immer zahlreicheren „Machtproben“, welche das Unternehmertum bei jedem geringfügigen Anlass frivol heraufbeschwört, sind die unvermeidliche prompte Quittung der Kapitalisten über den zunehmenden gewerkschaftlichen Zusammenschluss des Proletariats und die steigende Bedeutung seiner Organisationen. Dem glänzenden Aufschwung der Gewerkschaften ist rasch – besonders seit dem Ende der neunziger Jahre – die Entwicklung der Arbeiterorganisationen, der Unternehmerverbände, gefolgt. Ihr Hauptzweck ist, die Arbeiterorganisationen selbst in die Knie zu zwingen, die schützende Feste der Frondenden zu zertrümmern. Daher die systematisch geübte Unternehmerpraxis, unter Umständen auf die bescheidenste Lohnbewegung auch einer kleinen Anzahl Arbeiter und Arbeiterinnen den Trumpf einer Aussperrung in einer Industrie, in einem ganzen Industriegebiet zu setzen, die grimme Furie der Not: gegen Zehntausende und Hunderttausende zu entfesseln, die Macht der einzelnen Unternehmerorganisation durch die Wucht vereinigter Kapitalistenverbände zu stärken. Es mehren sich die Riesenkämpfe, in denen die Unternehmer alle wirtschaftliche, politische und soziale Macht ihrer Klasse gegen die „Elenden“ aufbieten und wider sie insbesondere alle staatlichen Gewalten vom Büttel bis zum Minister mobilisieren; in denen aber auch das Proletariat alle materiellen und moralischen Quellen seiner Macht und Kampftüchtigkeit erschließt.
Angesichts dieser Kämpfe gilt für jeden Proletarier, für jede Proletarierin: Was du den Kämpfenden tust, das tust du dir selber; was du nicht mit Einsatz deiner ganzen Kraft von ihnen abzuwehren suchst, das trifft auch dich. So muss auch der Kampf in der Berliner Elektroindustrie vom deutschen Proletariat empfunden und ausgefochten werden als eine gemeinsame Sache, in der Mann für Mann und Weib für Weib mit Sympathie und Tat neben die Scharen tritt, die mit ihrem Darben und Hungern das Recht der Organisation verteidigen.
Welches auch für den Augenblick der Ausgang des gewaltigen Ringens sein mag, der Kapitalismus geht als der dauernd Geschädigte aus ihm hervor. Denn unabhängig davon, ob es gelingt, dem Standpunkt des Herrseins im Hause die verdiente Niederlage zu bereiten, erhält dieser doch einen unheilbaren Stoß. Seine Gemeingefährlichkeit und die der wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge, in denen er wurzelt, muss dem Bewusstsein weitester Bevölkerungskreise durch die grausame Gewissenlosigkeit eingebrannt werden, mit der eine winzige Ausbeuterclique die Interessen Hunderttausender mit Füßen tritt und das Wirtschaftsleben der Nation den schwersten Schädigungen preisgibt. So wird der Kampf in Berlin auf alle Fälle zu jenen Bewegungen zählen, von denen das Kommunistische Manifest sagt, dass ihr eigentliches Ergebnis nicht ihr positiver Erfolg ist, sondern die immer größere Vereinigung der Arbeiter. Dem Ansturm dieser Vereinigung aber können auf die Dauer auch die machtprotzigsten Herren im Hause des Betriebes, der Gemeinde und des Staates nicht widerstehen. Am Ende der geschichtlichen Perspektive deutet so der gewaltige Kampf auf die Stunde, in welcher die Proletarier als Herren im Hause der Gesellschaft mit der Expropriation der Expropriateure die Menschheit von jeglicher Ausbeutung und Knechtschaft erlösen.
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024