Clara Zetkin

Ehe und Sittlichkeit

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II. [Die vaterrechtliche Einehe]


Aus Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, II: Nr. 10, 16. Mai 1906.


Ist die geltende bürgerliche Ehe tatsächlich die höchste sittliche Norm der Vereinigung von Mann und Weib: ist sie kraft dieser ihrer Bedeutung dem Wandel der Zeiten und Menschen entzogen und darf ewigen Bestand beanspruchen? Wir meinen, nur Moralheuchelei und geschichtliche Ahnungslosigkeit können diese Fragen bejahen.

Die Ehe schlechterdings, das ist den Sittlichkeitswächtern mit und ohne Talar die Einehe, die auf dem Vaterrecht, der Herrschaftsstellung des Mannes beruht. Die Geschichte dieser Ehe aber und die Analyse ihres Inhalts erweisen klärlich eins: ihrem Ursprung wie ihrem Wesen nach ist die vaterrechtliche Ehe in der Hauptsache keine sittliche, sondern eine wirtschaftliche, eine vermögensrechtliche Institution. Ihre Grundlage ist das Privateigentum, ihr fester Kitt war die alte Naturalwirtschaft, welche die Familie als ökonomisches Ganzes zusammenhielt. Nicht die individuelle Geschlechtsliebe, welche die Umarmung von Mann und Weib adelt und dem Geschlechtsleben seinen Sittlichkeitsbrief schreibt, ließ die Ehe entstehen. Sie entstand mit dem Privateigentum. Ihr Schöpfer war der egoistische Wunsch des Mannes nach legitimen Erben. Als Besitzer des Privateigentums wollte der Mann in seinen Leibeserben unsterblich sein, darum musste eine Form der Geschlechtsbeziehungen festgesetzt werden, welche ihm „das ewige Leben“ seine persönlichen Besitzes durch die Legitimität der Nachkommen möglichst sicherte. Die vaterrechtliche Einehe erfüllte diesen Zweck, soweit er bei der schweren Nachweisbarkeit der Vaterschaft erfüllt werden kann.

Ein Umstand lässt die eigentumsrechtliche Aufgabe der Ehe klar hervortreten. Die gesunde, durch keine Vorurteil getrübte Logik erklärt: es kann nur eine Sittlichkeit für beide Geschlechter geben. Trotzdem wurde nur vom Weibe fleckenlose Keuschheit vor der Ehe, strengste Keuschheit in der Ehe gefordert. Die Frau vermag sich den Folgen erfüllten sexuellen Trieblebens, der Mutterschaft, nicht so leicht zu entziehen wie der Mann der Vaterschaft. Dieser beanspruchte jungfräuliche Unberührtheit und weibliche Treue im Grunde nicht als Postulate geschlechtlicher Sittlichkeit – man lasse sich nicht durch den poesiereichen Glanz des ideologischen Schleiers täuschen –, vielmehr als physische Belegschaft für die Legitimität seiner Erben. Er selbst fühlte sich daher auch in Hinblick auf das „sittliche Institut der Ehe“ weder als Lediger zur geschlechtlichen Enthaltsamkeit noch als „Eheherr“ zur unbedingten Treue verpflichtet. Die Monogamie galt in Wirklichkeit nur für die Frau. Erklärlich genug: sie war in die Geschichte eingetreten als die Unterjochung des einen Geschlechts durch das andere, um mit Engels zu reden. [a] Sie brachte auch in dieser Beziehung nicht die Harmonie von Mann und Weib, sondern den Widerstreit der Geschlechter.

Wie die Ehe als soziale Einrichtung eine Konsequenz des Privateigentums ist, so haben von Anfang an bis heute materielle Verhältnisse, die Rücksichten auf Besitz und sozialen Vorteil eine hervorragende, ja die entscheidende Rolle bei der Verehelichung gespielt. Ganz besonders, logisch bedingt, in der Welt der Besitzenden und Herrschenden. Wo nichts ist, da hat auch der Kaiser, hat auch das Eigentum sein Recht auf legitime Vererbung verloren, womit keineswegs gesagt sein soll, dass nicht auch bei den Besitzlosen häufig genug der geschlechtlichen Sittlichkeit wesensfremde, materielle Rücksichten Ehekuppler sind. Eine Tatsache illustriert unzweideutig, dass nicht das natürliche und sittliche Moment der individuellen Geschlechtsliebe den Kern der Ehe ausmacht, dass dieser Kern vielmehr ökonomischer Natur ist. Die Familien verlobten und verheirateten oft ihre Kinder im zartesten Alter, ja noch vor der Geburt. Im scharfen Umriss spiegelt auch das Familienrecht, spiegeln insbesondere die Regelungen über Eheschluss und Ehescheidung, über das Recht oder richtiger die Rechtlosigkeit der unehelichen Mutter und ihres Kindes das ökonomische, eigentumsrechtliche Wesen der bürgerlichen Ehe wider. Sie regeln in der Hauptsache materielle Verhältnisse und auch sie nicht einmal vom Standpunkt eines höheren lebendigen sozialen Rechts aus, das den Umschwung der Zeiten respektiert, sondern entsprechend den gemeinsten Wesenszügen des bürgerlichen Eigentumsrechtes. Wo sie sich anmaßen, die persönlichen, die sittlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch in feste Normen gießen zu wollen, da sind sie fast ausnahmslos so barbarisch und so roh, dass sie wie Faustschläge und Beschimpfungen auf fein empfindende Naturen wirken. Man denke nur an die brutale, ja bestialische Vorschrift der „ehelichen Pflicht“. Die elementarste persönliche Lebensäußerung, die ihre sittliche Weihe durch die frei gewollte Hingabe erhält; die ein hohes Fest der Seele und der Sinne sein soll: die wird unter Umständen „von Rechts wegen“ zu einem Zwangsakt entwürdigt, der die eheliche Umarmung noch unter die Stufe der tierischen Begattung hinab stößt. Das Eherecht, das Familienrecht ist eben, wie das bürgerliche Recht überhaupt im letzten Grunde Sachrecht und nicht Personenrecht. Es hebt den toten Besitz auf den Thron und wirft den lebendigen Menschen gefesselt, geknechtet zu seinen Füßen. Die Liebe und damit die Sittlichkeit lässt es in den sexuellen Beziehungen von Mann und Weib nur soweit gelten als dadurch nicht die höhere Majestät des Privateigentums verletzt wird, und da nach dem Prinzip der vaterrechtlichen Familie der Mann der offizielle Träger des Privateigentums ist, fügt das Eherecht anderer sittlicher Schmach konsequenterweise die hinzu, dass es die Gattin unter die Vormundschaft des Gatten beugt.

Indem die Ehe als Institution das Privateigentum und nicht die Liebe zu ihrer Grundlage machte, indem sie in erster Linie eine ökonomische Einheit schuf: wurde sie wohl die juristisch und sozial als legitim anerkannte Form des Geschlechtsverkehrs, allein sie musste sich als ohnmächtig erweisen, die Norm der sexuellen Vereinigung von Mann und Weib überhaupt zu sein, ja auch nur innerhalb ihrer eigenen Schranken das mächtige physisch-psychische Triebleben der Menschen zu versittlichen. Ihr folgen daher von Anfang an bis auf unsere Tage zwei soziale Begleiterscheinungen, welche der in der Theorie proklamierten Moral ins Gesicht schlagen: der Hetärismus und der Ehebruch. Der Hetärismus, wie Morgan den neben der Einzelehe betriebenen außerehelichen geschlechtlichen Verkehr von Männern und unverheirateten Frauen bezeichnet, hat in den verschiedenen Ländern und Zeiten die verschiedensten Formen angenommen. Seine extremste Form ist die gewerbsmäßige Prostitution, die als Korrelat der Lohnarbeit auftrat, und der die kapitalistische Entwicklung in allen Kulturländern, der Herrschaft des Christentums mitsamt seiner Moral zum Trotz, riesige Dimensionen verliehen hat. Der Kapitalismus hat neben dem Berufsdirnentum das viel umfangreichere Heer der fluktuierenden Prostitution geschaffen, das sich – eine brennende Schmach unserer Zeit – aus Lohnarbeiterinnen rekrutiert, welche ständig einen Nebenverdienst oder auch zeitweilig den einzigen Verdienst in dem Verkauf ihres Körpers suchen müssen. Die Prostitution ist so gut wie die Ehe zu einer sozialen Institution der bürgerlichen Ordnung geworden, sie kommt sowohl als Surrogat für die Ehe selbst in Betracht, wie – dem Ehebruch gleich – als Entschädigung für eine lieblose unbefriedigende Ehe. Tritt die Prostitution mehr in den Zentren des modernen industriellen, kommerziellen und militärischen Lebens in Erscheinung, so steht dafür bei der Landbevölkerung die „freie Liebe“ in anderer Form in Blüte. Es ist eine statistisch nachweisbare und nachgewiesene Tatsache, dass gerade auf die kirchlich frömmsten katholischen und protestantischen ländlichen Bezirke außerordentliche hohe Prozentsätze der unehelichen Geburten entfallen. Unter dem Einfluss des bäuerlichen Erbrechts schreiten die Eltern recht oft erst nach der Geburt des zweiten oder dritten außerehelichen Kindes zur Ehe. Eine sinnenfällige Bekräftigung für den inneren Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Moral und Ökonomie.

Verdient aber die Ehe selbst die Lobeshymnen, die ihr als der wichtigsten versittlichenden Kraft des Geschlechtsverkehrs von Pfaffen und Philistern gesungen werden? Mitnichten. Viele werden über die Schwelle des ehelichen Gemachs von dem unmoralischsten Schacher gestoßen – mag er sich Staatsräson, Mitgift, soziale Stellung oder sonst wie nennen –, und drinnen harrt ihr nur zu oft der Ehebruch. Eine Vereinigung von Mann und Weib aber, die nicht auf der individuellen Liebe beruht, die aus dem Schmutz materieller Berechnungen geboren und in ihm weitergeschleppt wird: die kann weder durch die standesamtliche Formalität noch durch den kirchlichen Segen sittliche Weihe und Kraft erhalten. Als sittlich vermögen die Schacher- und Konvenienzehe nur Leute zu preisen, die nach Fouriers beißendem Wort „zwei Prostitutionen als eine Tugend“ gelten lassen. In den meisten bürgerlichen Ehen ziehen die Gatten, einem Gespann gleich, das äußerer Zwang zusammengeschirrt hat den schweren hässlichen Karren ihres Zusammenlebens stumpfsinnig, in bleierner Langeweile vorwärts. In vielen Fällen verhüllt die Ehe mit dem Schleier bürgerlicher Wohlanständigkeit unsägliche Heuchelei und Brutalität, unsäglichen „Schmutz der Seele zu zweien“. Nicht die Liebe, in deren Glut das erdgebundene Moment der Hingabe vergeistigt und versittlicht wird, zwingt Mann und Weib einander in die Arme; die ehelichen Umarmungen werden für die Gatten zum Alltagsgeschäft wie Kaffeetrinken und Zigarrenrauchen. Und die besudelten Leiber und Seelen zeugen neues Leben, das schon vor der Geburt von den Eltern benachteiligt, beraubt worden ist. Das ist die furchtbare Konsequenz der bürgerlichen Schacherehe. Scharfe Beobachter haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die „Kinder der Liebe“ allen ungünstigen Entwicklungsbedingungen ungeachtet, den „Kindern der Ehe“ recht oft an physischer und psychischer Kraft und Schönheit überlegen sind. Kein Geringerer als Shakespeare hat in seiner Wertung dieser Erfahrung in seinem König Lear dem Bastard Edmund [1] die stolzen Worte in den Mund gelegt:

„Warum brandmarkt uns die Welt mit niedrig?
Mit Niedrigkeit? Mit Bastard? Niedrig, niedrig?
Die wir im kecken Diebstahl der Natur
Und mehr Gehalt und Kraft und Feuer holen,
Als je im dumpfen, schalen, müden Bett
Verbraucht wird für ein ganzes Heer von Tröpfen,
Die zwischen Schlaf und Wachen man erzeugt?“

Sicherlich muss die Einzelehe als bedeutsamer geschichtlicher Fortschritt gewürdigt werden. Aber nun und nimmer kann man in das gedankenlose oder verlogene Kling-Klang-Gloria auf ihre sittliche Vollkommenheit einstimmen. Die blind-fanatischen Lobhudler der Einzelehe übersehen, dass diese in Erscheinung getreten ist behaftet mit schweren Mängeln und Gebrechen, die durch die Herrschaft des Privateigentums bedingt und durch den Kapitalismus verschärft werden. Kein Bibelspruch, keine Philisterweisheit vermag im Namen des Ideals sexueller Sittlichkeit dem Wind und Meer der geschichtlichen Entwicklung vor der bürgerlichen Ehe Halt gebieten. Denn ebenso wenig wie die vollkommenste ist diese die letzte Form der Geschlechtsbeziehungen von Mann und Weib. Das werden wir in einem folgenden Artikel ausführen.

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Amerkungen

a. F. Engels, II. Die Familie, Die Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats.

1 Im Original irrtümlich „Edgar“.

 


Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024