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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 13. Februar 1911.
Gekürzt in Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 506–520.
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Eine schwere gemeinsame Trauer senkt ihre Schatten über die proletarischen Massen Deutschlands, deren gemeinsamer Wille auf das hehre sozialistische Ziel gerichtet ist. Am 31. Januar ist Paul Singer durch eine Lungenentzündung aus dem Leben gerissen worden, das ihm eine Arbeits- und Kampfstätte für die Befreiung der Arbeiterklasse war. Seine frühere robuste Kraft war in den letzten Jahren wiederholt schwer erschüttert worden. Schmerzlich hatte es dann auf dem Unermüdlichen gelastet, dass er nicht wie sonst stets im Vordertreffen stehen konnte, wenn die Sozialdemokratie sich mit dem Feinde maß oder um die Klarheit und Geschlossenheit ihres Aufmarsches rang. Sobald die ärztliche Kunst über ein Leiden triumphiert zu haben schien, trat er, bereit zu Rat und Tat, unter die Kampfgenossen. Frischer und rüstiger als seit langem, noch Jahre kraftvollen Wirkens verheißend „so dünkte den Freunden“‚ hatte der mehr als Siebenundsechzigjährige seine Arbeit, insbesondere die parlamentarische Kampagne des Winters, aufgenommen. Alles Hoffen war trügerisch. Paul Singer war ein dem Tode Verfallener, als er am 20. Januar mit der Energie und dem Geschick seiner guten Tage in die Geschäftsordnungsdebatte eingriff, um gegen einen unsauberen Trick des Schwarzblauen Blocks zu protestieren. Am nächsten Tag schon packte ihn der Würger, und er blieb diesmal Sieger.
Einem Fahnenträger gleich, der bis zum letzten Hauch im Kampfgetümmel ausharrt und schon todeswund das Banner noch festhält, so ist Paul Singer gefallen, ein Beispiel erhebender und ergreifender Pflichttreue, wie sie nur aus der Wurzel einer großen, felsenfesten Überzeugung erwachsen kann.
Paul Singers Lebenswerk liegt in der sozialistischen Bewegung beschlossen. Es ist insbesondere unlöslich mit dem Werden und Wachsen der deutschen Sozialdemokratie verknüpft, und was er ihr in kluger, hingebungsvoller Arbeit in rastlosem, opferreichem Kampfe gegeben hat, das steht für immer auf den Tafeln ihrer Geschichte eingegraben. Paul Singer zählte zu „unseren Alten“, ein Begriff, den die Liebe und Verehrung der Parteigenossen für die Männer geprägt hat, die wir seit mehr als einem Menschenalter in der gleichen unwandelbaren Hingebung auf Posten zu sehen gewöhnt sind. Jedoch hat er nicht wie Liebknecht, Bebel, Auer usw. selbst schon die Kinderjahre der sozialdemokratischen Bewegung miterlebt. Der leidenschaftliche Bruderkampf zwischen Eisenachern und Lassalleanern bildet keine Etappe seines eigenen Entwicklungsganges. Zwar gewann der junge Kaufmann Paul Singer schon zwischen 1866 und 1870 die erste Fühlung mit der Arbeiterbewegung durch seine Mitgliedschaft in dem Demokratischen Arbeiterverein zu Berlin, der sich zu der Richtung der Eisenacher hielt. Allein zu der Zeit, wo er sich als ein offener Bekenner der sozialistischen Überzeugung in Reih und Glied stellte, stand bereits die geeinte Partei auf dem Blachfeld und mitten im dichtesten Kugelregen des Ausnahmegesetzes.
Aber freilich: Ein heißes Ringen um Erkenntnis und Wegrichtung lag auch hinter ihm. Nicht äußere eigene Lebensnot hatte ihm mit harter, aber wohltätiger Hand das von Marx enthüllte Geheimnis der historischen Daseinsbedingungen des Proletariats gezeigt. 1844 als Sohn nicht unbegüterter jüdischer Eltern zu Berlin geboren, hatten ihn Begabung und Rührigkeit mit Glück im Bunde als Kaufmann rasch zu Reichtum emporgetragen. Aber zwei tief gewurzelte Wesenszüge ließen ihn nicht auf der dürren Heide einer behäbigen bürgerlichen Existenz im Kreise gehen: eine großzügige Menschenliebe, der wohlzutun und mitzuteilen innerstes Herzensbedürfnis war und die schon in jungen Jahren Singer dazu trieb, unter Mitwirkung Gustav Thöldes und anderer das Asyl für Obdachlose zu schaffen, dem unser Genosse bis zuletzt förderndes Interesse zugewandt hat; ein starkes demokratisches Empfinden, das nach politischer Betätigung drängte. Paul Singer gehörte vor seinem offiziellen Übertritt zur Sozialdemokratie zu dem kleinen Häuflein ehrlicher norddeutscher Demokraten, die sich in den Jahren vor und nach der Gründung des Deutschen Reiches um Johann Jacoby scharten. Die Zeitereignisse ließen in ihm die Einsicht reifen, dass sich mit der Einigung Deutschlands auf den blutigen Schiachtfeldern in Frankreich, durch die Revolution von oben das politische Ideal einer Bourgeoisie erfüllt habe, die im Taumel der Losung „Bereichert euch!“ bereits vor der vorwärts dringenden Arbeitermasse zitterte und daher eine konsequente Demokratie als Nährboden für die proletarische Machtentfaltung mehr und mehr hassen musste. Er erkannte, dass in Deutschland künftighin die Demokratie nur noch gewandelt, als soziale Demokratie, in dem Sinne Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit habe, dass sie vom Proletariat getragen werde und von ihm und seinen schöpferischen historischen Klasseninteressen Blut und Odem erhalte. Von der Schwelle dieser Erkenntnis aus, an der sein Freund, der charaktervolle demokratische Arbeiterfreund Jacoby stehen geblieben ist, drang Paul Singer tiefer und tiefer in die sozialistische Ideenwelt ein, bis er sich ganz die Überzeugung zu eigen gemacht hatte, dass die Enterbten von heute die Menschheitsbefreier von morgen sind, dass die Stunde schlagen muss, wo mit der „Expropriation der Expropriateure“ die toten Produktionsmittel nicht mehr die lebendigen Menschen beherrschen, sondern von ihnen beherrscht werden. Er blitzte nicht, einem glänzenden Meteor gleich, in der Sozialdemokratie auf, um nach einem kurzen Zwischenspiel für sie wieder zu verlöschen. Sein Bekenntnis zu ihr war nicht ohne innere Kämpfe in einem langsamen Werdegang gereift. Als Paul Singer sich der Partei des proletarischen Klassenkampfes gab, war es ganz und für immer. Was er der jungen Sozialdemokratie zubrachte, war nicht wenig: eine unabhängige bürgerliche Existenz, rednerische Begabung, nie ermüdende Arbeitsfröhlichkeit, einen scharfen Blick, der schnell das Hauptsächliche erfasste, klugen Sinn für des Lebens Wirklichkeit und seine praktischen Bedürfnisse, einen leuchtenden, wärmenden Idealismus, dem nur die höchsten Ziele genügen konnten, und zu alledem die Überzeugungstreue eines Mannes, der klar seinen Weg erkannt hat und fest entschlossen ist, ihn unbeschadet aller Gefahren und Opfer zu gehen. Eine Persönlichkeit wie ihn konnte die Sozialdemokratie in den Zeiten brauchen, da sie, jung und schwach, mit allen Gewalten des kapitalistischen Klassenstaats um ihre Existenz ringen musste, da unter dem Hagelschauer der Verfolgungen viele schwankten und wankten, die mit großen Worten zu ihrer Fahne geschworen hatten.
Fähigkeit und Charakterfestigkeit führten Paul Singer bald auf die verantwortungsreichsten Kampfposten. Seine erste große Rede, die er 1883 vor den Berliner Arbeitern hielt, brachte zum Ausdruck, dass er die innere Fühlung mit den Massen gefunden hatte. Sie wirkte derart, dass die Versammlung sich zu einer imposanten Demonstration für die Sozialdemokratie gestaltete. Das hauptstädtische Proletariat sandte Singer in dem genannten Jahre in die Stadtverordnetenversammlung und 1884 in den Reichstag. In beiden Körperschaften nahm er sofort den Kampf für die Interessen der Ausgebeuteten mit Energie und Schärfe auf. Nach reichlichen Nücken und Tücken der Reaktion, wie sie damals zu den Alltäglichkeiten gehörten, traf ihn im Juli 1886 ihre volle Rache. Die regierende Puttkamerei quittierte durch die Ausweisung aus Berlin darüber, wie tödlich Singer sie getroffen hatte, als er im Reichstag durch die Entlarvung ihres Ihring-Mahlow die Lockspitzelschuftereien vor aller Welt nachwies. Eine gewaltige Demonstration der Berliner Arbeiter bei seiner Abreise kündete die dankbare Verehrung der Massen für ihren Führer und unterstrich die Bedeutung der Ausweisung. Die preußische Regierung hoffte Singers wirtschaftlichen Ruin herbeizuführen, indem sie ihn auch aus Dresden, seinem neuen Wohnsitz, vertreiben ließ. Ihr Wüten erreichte jedoch nur eins: Paul Singers Arbeitskraft gänzlich von der Mantelfabrik loszulösen, zu deren Eignern er gehörte, und auf das politische Gebiet zu konzentrieren. Soweit nicht die Ausübung der Mandate ihn einforderte, zog er nun, ein eifriger Werber für die Sozialdemokratie, durch das Reich. 1888 schied er in aller Form aus dem von ihm mitbegründeten Geschäft aus, weil ein zynischer Ausspruch seines Kompagnons Rosenthal grell das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung beleuchtet hatte und die scheußlichen Auswüchse, die auf ihrem Stamme wuchern. „Wenn die Arbeiterinnen nicht genug verdienen“, hatte dieser Herr gesagt, „so mögen sie auf die Straße gehen.“
In jenen Tagen, wo die Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie in der bürgerlichen Welt nicht „interessant“, sondern verfemt machte, stürzten sich die Gegner gleich Hyänen auf die Äußerung des skrupellosen Kaufmanns Rosenthal und legten sie verleumderisch dem revolutionären Kämpfer Paul Singer in den Mund. Und der tödliche Hass schmutziger Gesellen hat die infame Lüge wieder und wieder aufleben und sogar am Grabe des Mannes auferstehen lassen, obgleich sie schon längst vor Gericht elend zusammengebrochen ist. Es war und ist so leicht, „den Juden Singer“ zu schmähen und zu verdächtigen, so unmöglich, die Anklagen zu entkräften, die dieser selbstlose Vorkämpfer des Proletariats mit fester Hand aus der Sündenkammer der bürgerlichen Ordnung hervorholte, um sie deren Nutznießern und Sachwaltern entgegenzuschleudern. Die geifernde Wut musste durch diese Anklagen um so wilder entfesselt werden, als es „ein Überläufer“ aus dem eigenen bürgerlichen Lager war, der den Kapitalismus unversöhnlich und rücksichtslos bekämpfte. „Der Jude Singer”! Wie viel näher war er in seiner unerschöpflichen Herzensgüte dem Jesus der kirchlichen Legende verwandt als alle jene echt germanischen Christen, an deren Händen die Verbrechen der Kinderausbeutung, des Zoll- und Steuerwuchers, der Massenentrechtung, der Rüstungen ohne Ende kleben!
Er hat dem Dienste seiner Überzeugung ein ganzes großes Vermögen und eine glänzende gesellschaftliche Position geopfert mit allem, was sie heute zu geben vermögen. Singers persönlicher Opferwilligkeit war es in erster Linie zu danken, dass die Berliner Arbeiter 1884 in dem Berliner Volksblatt, dem Vorläufer des Vorwärts, ein eigenes tägliches Organ erhielten. Viele andere Parteiunternehmungen und Parteiaktionen noch hat unser Genosse mit seinen Mitteln ermöglicht oder gefördert. Die Stille hat es verschlungen, aber in dankerfüllten Herzen lebt es weiter, welch freundschaftlicher Helfer er unter dem Sozialistengesetz Geächteten und Gehetzten gewesen ist, wie viele Existenzen er aufbaute, welche die Gewalthabenden mit gewissenloser Brutalität zerschmettert hatten. Bis zuletzt ist er trotz mancher bitteren Enttäuschung ein freudiger und zartfühlender Geber geblieben, bei dem die Rechte nie wusste, was die Linke tat.
Paul Singer war unverheiratet geblieben, und wenngleich ihn die herzlichsten Gefühle mit seinen Geschwistern verbanden, so wurde doch das Leben der Partei sein eigenes Leben. Das proletarische Emanzipationsringen gab ihm Inhalt und Ziel, und für seine Erfordernisse hat er sich im großen Kampf wie in der kleinen, mühseligen, staubigen Alltagsarbeit restlos und uneigennützig bis zum letzten Fünkchen seiner Kraft eingesetzt. Wie er noch unter dem Sozialistengesetz die heißesten Schlachten gegen den gemeinsamen Feind als Voranstürmender und Führender mit schlug, so nahm er auch von Anbeginn an hervorragenden Anteil an den Auseinandersetzungen über Theorie und Taktik im eigenen Lager. Gerade seine entschiedene, unzweideutige Stellungnahme, die ihn damals wie jederzeit später dem linken Flügel der Partei zugesellte, gewann ihm rasch das Vertrauen der Genossen. 1887 wurde er Mitglied des Parteivorstandes, 1890 erwählte ihn der Parteitag zu Halle einstimmig als dessen Vorsitzenden, und seither hat jede Jahrestagung der Sozialdemokratie diese Entscheidung aufs Neue bestätigt. Wie wäre es auch anders denkbar gewesen angesichts der Fülle und des Wertes seiner Leistungen! Im Parteivorstand mit seinen vielen, oft recht undankbaren Verwaltungsgeschäften, die immer ausgedehnter, immer verwickelter werden, je weitere Kreise das Leben der Partei zieht, mit seinen verantwortungsreichen politischen Verpflichtungen, kamen Singers Gaben als erfahrener, nüchtern wägender Großkaufmann und als zielsicherer politischer Führer glänzend zur Geltung. Dem ersteren waren Kleinlichkeitskrämerei und Engherzigkeit fremd, und der letztere sah über das politische Getriebe des Tages hinaus die weiteren Entwicklungslinien und die Anzeichen neuer Erscheinungen.
Singers mehr als 25-jährige fleißigste und einsichtsvolle Arbeit im „Roten Hause“ der Berliner, in der Stadtverordnetenversammlung, hat viel von seinem besten Herzblut getrunken. Dafür wird sie ein klassisches Beispiel sozialdemokratischer Kommunalpolitik bleiben. In dem großen Haushalt der Stadt Berlin, der mit seinen vielgestaltigen, komplizierten Aufgaben und seinem Dreihundertmillionenbudget an Bedeutung die Verwaltung vieler Bundesstaaten übertrifft, war Singer auf Grund tief eindringenden Studiums und unablässiger Arbeit daheim wie kaum ein zweiter. Hier erspähte er jeden Zollbreit Boden, den er der kapitalistischen Klassengesellschaft abringen und durch Reformen dem Wohle der ausgebeuteten, leidenden Masse und dem Bedürfnis ihres Emporsteigens aus Nacht zum Licht nutzbar machen konnte. Niemand hat nachdrücklicher und konsequenter als er das Recht der kommunalen Selbstverwaltung und ihre Demokratisierung vertreten. Es gibt kein Gebiet der Kommunalpolitik, auf dem er nicht eifrig Wirkender oder verständnisvoll Anregender gewesen wäre. Singers geradezu erstaunliche Summe positiver, praktischschöpferischer Arbeit im „Roten Hause” wurde aber durch eine unverrückbare Achse zusammengehalten und orientiert. Diese Achse war das sozialdemokratische Prinzip. An ihm maß unser Freund alle Einzelerscheinungen, und an diesem großen Maßstab steckte er alle Forderungen ab, die er im Namen der Partei erhob und von Etappe zu Etappe in der gleichen konsequent festgehaltenen Richtung im zähen Kampfe mit den Gegnern zu verwirklichen trachtete. So ist seine kommunale Betätigung ein einziger großer, schlagender Beweis dafür geworden, dass sich die strengste prinzipielle Haltung, die über den Abgrund der Klassengegensätze hinweg einer bürgerlichen Auffassung der sozialen Verhältnisse auch nicht den kleinen Finger entgegenstreckt, mit der positiven Reformpolitik zum Ringe zusammenschließt; dass gerade die unversöhnlichste, negierende Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft, ihren Einrichtungen und Zuständen der kraftstrotzende Mutterboden fruchtbarer praktischer Arbeit bleibt; dass ein zagender Opportunismus keineswegs die unerlässliche Voraussetzung des Vormarsches zu greifbaren Erfolgen ist.
Die aufgezeigten großen, geraden Richtlinien sind auch für Paul Singers Betätigung im Reichstag maßgebend gewesen. Mochte unser Genosse in seiner wuchtigen Art Abrechnung mit dem Feinde halten „ganz gleich, wo dieser Feind saß“‚ mochte er Reformen und Rechte für das Proletariat verteidigen, mochte er die Interessen einer einzelnen Schicht Ausgebeuteter verfechten: seine Reden und Kommissionsarbeiten tragen das unverwischbare Gepräge prinzipieller Klarheit und Festigkeit. Stets war es ihm gegenwärtig, dass die parlamentarische Arbeit der Sozialdemokratie über den praktischen Augenblickszweck hinweg dem großen historischen Ziele des proletarischen Klassenkampfes dienen muss: der Erweckung und Sammlung der Ausgebeuteten zum Ansturm mit gewaltigeren Schlachtkolonnen und besserem Rüstzeug wider die kapitalistische Gesellschaft. Daher war ihm das Parlament kein politisches Parkett, auf dem sich um kleine Konzessionen techtelmechteln lässt, vielmehr ein Kampfplatz, wo es dem Feinde schrittweise, Speerspitze gegen Speerspitze, Boden zu entreißen gilt. Und wenn Singer in solchem Ringen die Gunst politischer Konstellationen gewiss nicht verschmähte, sondern zu nutzen wusste, so hat er doch auf sie nie überschwängliche Hoffnungen gesetzt und ihnen keine Gelegenheit geopfert, von der Tribüne des Reichstags herab dem werktätigen Volke die Regierung als den politischen Geschäftsausschuss der besitzenden und ausbeutenden Klassen und die bürgerlichen Parteien als deren Sachwalter zu zeigen. Der Mittelpunkt seiner parlamentarischen Arbeit und ihre tragende Kraft blieb ihm die Aufgabe, die sozialistische Ordnung im Bewusstsein der Massen vorzubereiten und mithin immer wieder auf die unüberbrückbaren Klassengegensätze hinzuweisen, die als unwiderstehliche geschichtliche Triebmächte hinter den vielfach verschlungenen und verknoteten Wirrungen des politischen Tages liegen. Mehr als ein kernhafter Satz aus seinen Reichstagsreden wird in der Folge weckendes und werbendes Leben behalten, solange die Sozialdemokratie als die Partei der Habenichtse kämpfen muss. Singers genaue Kenntnis des Reichsetats war unbestritten wie seine Meisterschaft in der Beherrschung der Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnung war ihm ein Bedeutsameres als ein Gemenge bürokratisch-schulmeisterlich-polizeilicher Vorschriften: ein vorzügliches parlamentarisches Kampfmittel, dessen er sich mit ebenso erfrischend-rücksichtsloser Energie als kluger Geschicklichkeit bediente. Viele der Geschäftsordnungsdebatten, in denen unser Genosse sich mit den Gegnern schlug, haben deren Klassenfeindschaft und Klassenhass gegen das Proletariat so wirksam demaskiert wie eine lange Rede. Ein unvergängliches Ruhmesblatt in der Geschichte seines parlamentarischen Wirkens und der Sozialdemokratie bleibt seine großzügige Geschäftsordnungskampagne im Kampfe gegen den Hungertarif 1902, eine Kampagne, die schließlich in den Schlachten um die Geschäftsordnung selbst ihren Höhepunkt erreichte und durch die feige Verräterei der Freisinnigen mit der Zertrümmerung des parlamentarischen Rechts der Minderheit endete. Mit unvergleichlicher revolutionärer Energie, Brust an Brust mit den Todfeinden, hat damals unser Singer für das Brot und das Recht der Arbeiterklasse gerungen, und in den Augen des Volkes ist er als Held und Sieger aus dem Plenum gegangen, als ihn die „Strafe“ des Ausschlusses von der Sitzung ereilte.
Ein Mann und ein Kämpfer wie Paul Singer, dessen ganzes Wesen auf klare, feste Einheitlichkeit und Geschlossenheit gestellt war, musste naturgemäß an den inneren Entwicklungskrisen der Partei starken Anteil nehmen. Mit besorgtem Ernst, aber ohne aufgeregte Ängstlichkeit verfolgte er die geschichtlich bedingten Meinungen, die von rechts oder links her an den Grundsätzen der Sozialdemokratie und ihrer darin fest verankerten Taktik rüttelten. Diese Grundsätze und diese Taktik waren nach seiner Überzeugung so unzweideutig und ehern in der Wirklichkeit des geschichtlichen Vorgehens und Werdens begründet, dass sie sich immer aufs neue triumphierend durchsetzen mussten, dass sie der gesunde Klasseninstinkt des Proletariats niemals auf die Dauer und bei großen Entscheidungen preisgeben konnte. So kam es, dass „ von dem Parteitag zu Magdeburg abgesehen, dem ihn Krankheit fernhielt „ Paul Singer stets dabei war, wenn für die Sozialdemokratie die Notwendigkeit auftauchte, in strenger Selbstkritik Selbstverständigung über prinzipielle und taktische Probleme zu suchen. Die ganze Eigenart unseres Freundes schloss es dann aus, dass er einer der lautesten Rufer im Streit, ein Kämpfer mit leidenschaftlich-dramatischer Gebärde war, dafür aber war sein Eingreifen in die Auseinandersetzungen durch eine markige Wucht gekennzeichnet, aus der Unerschütterlichkeit sprach. Mehr als einmal sind seine Anträge und Reden mit ausschlaggebend dafür gewesen, dass die Schale der Entscheidung sich auf die Seite des „Radikalismus“ geneigt hat. Der ganze aufrechte Mann und seine nicht wankende Glaubenstreue kam darin zum Ausdruck, wenn Paul Singer, die breitschultrige Gestalt schwer auf die Hände gestützt, etwas vornüber geneigt, als gelte es, einem anstürmenden Gegner hartnäckigen Widerstand entgegenzusetzen, Worte prägte wie den bekannten Ausspruch gegen Bernsteins Revisionismus: „Unser Endziel darf nicht zu einem Familienerbstück werden, das wir in den Silberschrein stellen und nur an Feiertagen hervorholen.“ Jedes Ansinnen zur Kompromisselei mit der bürgerlichen Gesellschaft wies er mit einem Stolz und einer Würde ab, in der das Bewusstsein von der Mission des kämpfenden Proletariats und seiner weltgeschichtlichen Bedeutung lebte. Für das „Entgegenkommen“ seitens der bürgerlichen Welt hatte er das verächtliche Achselzucken des Mannes, der weiß, was diese Welt wert ist, und nie mit Bedientenhaftigkeit zu ihr emporegeschielt hat. Singer würdigte gewiss die Einheit und Geschlossenheit der Partei, die in großem Maße auch die Frucht seiner Lebensarbeit war, als ein kostbares Gut, das im Interesse der proletarischen Machtentfaltung nicht angetastet werden dürfe. Allein nicht minder wertvoll dünkte ihm das Festhalten an den Grundsätzen des revolutionären proletarischen Klassenkampfes, dessen Polarstern die Eroberung der politischen Macht zum Zwecke der sozialen Revolution bleibt. Die Auflösung der fest gezimmerten inneren grundsätzlichen Einheit der Partei durch opportunistische Gedankengänge war ihm gleichbedeutend mit dem Anfang zum Ende: der Zersetzung auch des äußeren organisatorischen Gefüges der Sozialdemokratie. Mit Stolz trat er als Standartenträger des „Radikalismus“ vor die Öffentlichkeit. Unbeschadet seiner prinzipiellen Unbeugsamkeit, ja, gerade dank ihrer, zog er jederzeit aus gewandelten Umständen die richtigen praktischen Konsequenzen. Ein schönes Zeugnis dafür ist das Wort, das er auf dem letzten preußischen Parteitag an die Mitteilung von der einstimmigen Annahme der Resolution zum Wahlrechtskampfe knüpfte. Es muss im Zusammenhang mit dieser selbst erfasst werden, die in ihrer entscheidenden Stelle erklärt:
„Die preußische Sozialdemokratie wird mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln einem solchen Wahlrecht die Bahn brechen, eingedenk der historischen Lehre, dass überlebte Staatseinrichtungen zusammenbrechen müssen, sobald eine entschlossene und opferbereite Volksmehrheit den Kampf gegen das Unrecht aufzunehmen bereit ist. Um einen solchen Wahlrechtssturm nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland zu entfesseln, beauftragt der Parteitag die preußische Parteileitung, ungesäumt alle Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, den reaktionären Widerstand zu brechen.“ [1]
Diesen bedeutsamen Eidschwur unterstrich Singer durch den Satz: „Ich stelle fest, dass mit dieser Beschlussfassung der unverbrüchliche Wille der preußischen Sozialdemokratie ausgesprochen ist, im Sinne dieser Resolution nicht nur zu raten, sondern auch zu taten.“ Wir dürfen diese Worte als unseres Genossen Testament praktischer Politik betrachten, deren Vollstreckerin die Sozialdemokratie sein wird.
Singers hervorragende Begabung, als Vorsitzender auch die stürmischsten Verhandlungen zu leiten, ist auf fast allen deutschen Parteitagen wie auf den Kongressen der Internationale erprobt worden.
Sein echt demokratischer Sinn und sein starkes Gerechtigkeitsgefühl verleugneten sich auch in seiner Stellung zur Frauenfrage nicht, diesem Prüfstein vorurteilslosen geschichtlichen Denkens. Paul Singer war jederzeit ein zuverlässiger Kämpfer für die volle Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft und in der Partei. Diese Gleichberechtigung war ihm ein Teil des großen historischen Rechtshandels der Menschheit, ein Teil, der nur durch den proletarischen Klassenkampf und den Triumph des Sozialismus zum vollen Austrag gebracht werden kann. In klarer Würdigung der grundsätzlichen und praktischen Bedeutung, die hierfür gerade der proletarischen Frauenbewegung zukommt, hat er dieser jederzeit die Wege geebnet. Wenn sie heute ihr eigenes Organ besitzt, so ist das in großem Umfang auch Singers Beistand zu verdanken. Wie viele andere Kapitel des Parteilebens noch könnten wir aufschlagen, die von seinem weitsichtigen Wirken melden!
Nicht die Gemeinsamkeit des Zieles und Weges allein lässt die Sozialistische Internationale zusammen mit dem deutschen Proletariat am Grabe dieses sich Aufopfernden trauern. Sie hat in ihm einen ihrer Begründer und Führer verloren. Unter großen äußeren und inneren Schwierigkeiten half Singer 1889, die neue Internationale zusammenzufügen. In den Stürmen, in denen es um die grundsätzliche Basis, die taktischen Straßen des einen revolutionären Weltproletariats ging, setzte er seine volle Kraft gegen die beiden innerlich verwandten Extreme ein: den revolutionär schillernden, unfruchtbaren Anarchismus und den praktisch-irrlichterierenden, knochenweichen Opportunismus. Unzweideutig und ohne jedes Schwanken war so zum Beispiel seine Haltung in dem Meinungsstreit über den Ministerialismus, in dem so viele scharfe‚ glänzende Geister die Richtung verloren. International wie national widersetzte er sich mit der ganzen Macht seiner Überzeugung jedem Versuch einer Trennung zwischen dem weltgeschichtlichen Endziel des proletarischen Klassenkampfes, der sozialistischen Ordnung, und der praktischen Kleinarbeit des Werktags. Er erfasste und wertete sie beide in ihrer organischen Verbindung, dank derer das stille, unscheinbare Alltagswirken dem leuchtenden Zukunftsideal reisige und frohe Streiter stellt und dieses Zukunftsideal dem Alltagswirken fruchtbare Kraft, Richtung und Adel gibt.
Eine hochragende Charaktergestalt, steht Paul Singer in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, der Internationale. Seines Wesens Eigenart machte ihn zu einem der Erbauer unseres stolzen Parteischiffs, aber auch zu einem seiner richtungssichersten Steuermänner. Einem getreuen Eckart gleich hat er den Entwicklungsgang, den Triumphzug der sozialistischen Bewegung begleitet. Inmitten des kleinen Tagesgetriebes und des heftigsten Kampfgetümmels sind die Hände dieses Uneigennützigen rein geblieben wie seine Gesinnung. In seiner Persönlichkeit, seinem Wirken ist die große geschichtliche Tradition der Sozialdemokratie lebendig geblieben. Paul Singer ist die ideale Verkörperung des modernen demokratischen Gedankens, der mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft geboren, mit ihrer Entfaltung unter die Speere des klassenbewussten Proletariats flüchten muss, die Fleisch und Blut gewordene Tatsache, dass der höchstgerichtete Idealismus Bürgerlicher sich heute am fruchtbarsten dann auslebt, wenn er sich mit der Konsequenz der Logik und dem Mute der Konsequenz zum sozialistischen Bekenntnis durchringt. Viel von der besten unerschütterlichen Glaubensstärke und Glaubensfreudigkeit seiner Rasse ist in ihm wirksam gewesen und hat ihn immer wieder aus den grauen Niederungen des Alltags auf jenen sonnigen Horeb gestellt, von dem aus der echte Bekenner verheißenes Land erschaut. Ein großer, einheitlicher Zug geht durch sein Wesen, und seines Lebens Werk ist fest gefügt wie ein Block Granit. Wie oft werden wir diesen Einfachen und Großen vermissen, der zugleich ein Guter war! Doch nicht müßige Trauer ziemt den Freunden, ziemt den Trägern der Sache, der er sein Herzblut bis zum Letzten gegeben hat. Lassen wir stolz die Fahne wehen, die Paul Singer so oft der deutschen Sozialdemokratie im Kampfe voraus getragen hat!
1. Vorwärts vom 5. Januar 1910.
Zuletzt aktualisiert am 16. November 2024