Clara Zetkin

 

Um das Frauenwahlrecht

(1. März 1911)


Der Kampf, Jg. 4 6. Heft, 1. März, S. 252–257.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Kaum dass die Menschheit auf ihrem Entwicklungsweg die Schwelle überschritten hat, hinter welcher eine fester gegliederte gesellschaftliche Organisation beginnt, so begegnen wir Gemeinwesen mit einer Demokratie, die kein „schwaches“, kein unter-bürtiges und entrechtetes Geschlecht kennt. Die Gleichberechtigung der Frau ist einer ihrer hervorstechendsten Wesenszüge. Der Mutterboden, in dem diese Demokratie wurzelt, aus dem sie Leben und Kraft saugt, ist die Tätigkeit des Weibes in der gesellschaftlichen Wirtschaft. Der niedere Ackerbau ist auf einer bestimmten Stufe überwiegend, ja ausschliesslich Frauensache. Wie aus des Weibes Schoss das Leben hervorgeht, in dem sich die Rasse fortpflanzt, erneuert, also erschliesst des Weibes Hand der Gesellschaft eine gesicherte Nahrungsquelle. Noch haben keine Besitzunterschiede, keine Klassenscheidungen die Einheit der Gemeinschaft aller mit allen zerklüftet. Die Demokratie tritt auf als das Korrelat des urwüchsigen Kommunismus der Wirtschaft und des Besitzes, der in den Produktionsbedingungen primitiver Entwicklungsstufen verankert ist. Es sind kleine Gemeinwesen Blutsverwandter, welche der Kommunismus kittet und die Demokratie regiert oder richtiger verwaltet, und die Gleichberechtigung aller schlingt ihr Band um eine Vielheit, in der sich die persönliche und soziale Differenzierung erst andeutet.

Es ist ein weiter Weg, den die Menschheit gewandert ist, um die heutige Stufe der Entwicklung zu erklimmen, und er ist vielverschlungen und mühselig genug gewesen. Die Entfaltung der dinglichen und persönlichen Produktivkräfte hat den Kommunismus und die Demokratie als Schranken gesprengt, die sich ihr hemmend entgegenstellten. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln trat als befreiende und knechtende Macht zugleich in die Geschichte ein. Die Unterschiede des Besitzes spalteten die gleichberechtigte Masse in Klassen. Die Ausbeutung und Entrechtung Vieler durch Wenige in verschiedenen Formen und in verschiedenem Grade wird das vornehmste Kennzeichen einer jeden Gesellschaftsorganisation, die sich auf dem Privateigentum aufbaut. Die Klassenkämpfe erweisen sich als eines der gewaltigsten Triebräder der historischen Entwicklung, denn das lebendige Menschentum der sozial Enterbten lehnt sich immer wieder in prometheusischem Rebellentrotz dagegen auf, dem toten Besitz geopfert zu werden. Heute steht der märchenhaften Entfaltung der Produktivkräfte die höchste, aber auch letzte Form der welthistorischen Gegensätze zwischen Reichen und Habenichtsen, Ausbeutern und Ausgebeuteten zur Seite in dem Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Im dialektischen Ablauf des geschichtlichen Lebens ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln mit der ihm unvermeidlich verbundenen Klassenherrschaft zu einer erdrückenden Fessel für die sausenden und webenden Kräfte der weiteren Menschheitsentwicklung geworden. Kommunismus und Demokratie erscheinen als die Befreier von dem tausendfachen Weh, das der heutigen Klassengesellschaft Erbteil ist. Um sie geht es in den bitteren, aber fruchtbaren Klassenkämpfen der kapitalistischen Ordnung. Die Emanzipation des weiblichen Geschlechts ist diesem allgemeinen Werdeprozess mit seinen unendlichen Verknüpfungen unlöslich eingegliedert. Wie im Morgendämmern überwundener Kulturstadien, so tragen Kommunismus und Demokratie auch heute – ja heute erst recht – die Gleichberechtigung des Weibes in ihren Falten. Wie dort aber, so ist es wiederum die soziale Wirtschaft, so sind es die Produktionsbedingungen, die sich uns als Grundlage einer Demokratie enthüllen, welche die Hälfte der Menschheit, der erwachsenen Gesellschaftsglieder nicht mehr von ihren Rechten und Pflichten ausschliesst, sondern in sie einschliesst.

Die wirtschaftstechnische Revolution, welche den Kapitalismus zum Siege führte, hat die Bedingungen zertrümmert, kraft deren die Familie oder richtiger der Einzelhaushalt eine in sich fest geschlossene Produktionseinheit in der Gesellschaft war. Zunächst für die Bevölkerungsschichten, die als Kinder und Träger der kapitalistischen Entwicklung selbst angesprochen werden müssen, im steigenden Masse jedoch auch für die übrigen sozialen Gruppen, deren Existenzbedingungen in wachsende Abhängigkeit von dem Kapitalismus geraten. In dieser Beziehung spricht eine Tatsache Bände, welche die letzte Berufs- und Betriebzählung für das Deutsche Reich vom Juni 1909 ausweist. Während in der Landwirtschaft seit 1895 die Zahl der erwerbstätigen Männer um rund 225.000 zurückgegangen ist, hat die der erwerbstätigen Frauen um mehr als 1.800.000 zugenommen. Diese Ziffern künden – abgesehen von manchem anderen bedeutsamen Umschwung – die so gut wie vollendete Ueberwältigung der alten bäuerlichen Hausindustrie durch die moderne Fabrikindustrie. Der sogenannte „Hausfleiss“ war aber von altersher Frauensache und einer der Grundpfeiler der bäuerlichen Wirtschaft. Unter weniger auffälligen Erscheinungen als in Industrie und Gewerbe und darum geringer beachtet, allein nicht minder unaufhaltsam wie dort vollzieht sich also auch in der Landwirtschaft der gleiche Prozess: die Auflösung des Haushalts als einer Produktionseinheit, die den weiblichen Familiengliedern Lebensunterhalt und Lebensinhalt sichert, das Einströmen dieser Familienglieder als Berufstätige, Erwerbende in die gesellschaftliche Wirtschaft. Damit schliesst sich der Ring der gewandelten wirtschaftlichen Stellung des weiblichen Geschlechts. Seine Wiedereingliederung in die gesellschaftliche Wirtschaft und nicht seine produktive Betätigung überhaupt ist das Kennzeichnende und Entscheidende dafür. Die Menschheit hätte in keiner Stunde ihrer Geschichte auf die produktive Arbeit der Hälfte ihrer Glieder verzichten können und die erwerbende Berufsarbeit der Frauen ist nur der Ausdruck des alten Gesetzes in den neuen Formen, die die kapitalistische Wirtschaft gezeitigt hat. In welchem Umfang die Wandlung vor sich geht, verzeichnet die Statistik aller Länder, die in den Strom der kapitalistischen Entwicklung gerissen worden sind. In Deutschland standen 1907 9½ Millionen Frauen und Mädchen – die Dienenden inbegriffen – erwerbstätig in der gesellschaftlichen Produktion, das ist ein reichliches Viertel der gesamten weiblichen Bevölkerung des Reiches. Wir nehmen dabei die Bezeichnung gesellschaftliche Produktion in ihrem weitesten Sinne, so dass sie auch die Kopfarbeit, die liberalen Berufe in sich schliesst. Auch auf den einschlägigen Tätigkeitsgebieten vollzieht sich der gleiche Vorgang; ein stetig anschwellendes Einströmen weiblicher Berufstätiger, die die Not der Seele und des Leibes vorwärts treibt, weil die beherrschende Stellung der modernen Fabrikindustrie und des modernen Grosshandels dem Haushalt seinen alten Charakter, die frühere Bedeutung geraubt haben, weil vielgestaltige Begleiterscheinungen der kapitalistischen Entwicklung in Verbindung damit die Ehe selbst für viele zur Unmöglichkeit machen.

Allgemein bekannt wie der Komplex dieser Tatsachen, aus dem die bürgerliche Frauenbewegung emporwächst und ihre treibende Kraft empfängt, ist der ausschlaggebende Einfluss, welchen die durch Wissenschaft und Technik revolutionierten Produktionsmittel und Produktionsverfahren auf die Einbeziehung des weiblichen Proletariats in Industrie und Gewerbe ausüben. Alle grundsätzlichen Auffassungen von der Stellung, die natürliches, sittliches oder göttliches Gebot dem Weibe angewiesen haben, zersplittern wie Glas aD dem Granit der Tatsachen, dass die wirtschaftstechnische Revolution in Industrie und Gewerbe die Verwendung der Frau neben dem Manne und an Stelle des Mannes ermöglicht, dass die kapitalistische Profitsucht ebenso wie die proletarische Not zur Ausnutzung dieser Möglichkeit zwingt. Millionenköpfig erscheint in diesen kapitalistischen Zeitläuften das weibliche Geschlecht auf dem Arbeitsmarkt, in der gesellschaftlichen Produktion. Es gibt kein wichtiges Gebiet der Hand- oder Kopfarbeit, das heute nicht zu einem Betätigungsfeld weiblicher Fähigkeit und Kraft geworden wäre. Von dem Ziegel auf dem Dach bis zum Schuh, von dem mühsamen Buchstabierenlehren der Kinder bis zur Erquickung und Erhebung durch die Kunst ist alles, was der Notdurft, dem Behagen, der Kultur der Gesellschaft dient, in grossem Umfange auch Frauenwerk. Geschickte schwielenharte Hände, grübelnde Hirne und flammende, zuckende Herzen von Frauen geben nicht bloss, sie opfern ihr Bestes, um das materielle und kulturelle Menschheitserbe zu mehren. Die drängende Macht des Lebens und die Unerbittlichkeit wissenschaftlicher Forschung haben die Gelehrten wieder und wieder gezwungen, die sich auf die Gehirnanatomie stützende Theorie von der Minderwertigkeit der weiblichen Begabung als eine Voreiligkeit zu revidieren. Der ebenso viel angerufene geschichtliche Beweis aber für die Grösse und die Art der weiblichen Gaben darf nicht in der Vergangenheit gesucht werden mit ihren altersgrauen sozialen Bindungen weiblicher Fähigkeiten: er liegt in einer Zukunft, welche diese Bindungen nicht mehr kennt. Das begreift allerdings in sich, dass er nicht vollständig in der bürgerlichen Ordnung erbracht werden kann, mögen in ihr gleichwohl die Forderungen bürgerlicher Frauenrechteiei bis zur letzten triumphieren. Davon abgesehen, dass die Klassenscheidung mit ihren Konsequenzen höhere Bildung und Berufstätigkeit zu einem Vorrecht der Besitzenden macht, bleiben auch nach der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter für die Entwicklungs- und Betätigungsmöglichkeit des Weibes soziale Fesseln zurück, die zu lösen nur eine sozialistische Gesellschaft imstande ist. Je dennoch steht betreffs der weiblichen Art und Befähigung bereits eines fest: sie schliessen die Frauen keineswegs von der Sphäre der gesellschaftlichen Produktion aus, und diese Produktion wäre ohne die Mitbetätigung des weiblichen Geschlechts geradezu undenkbar. Das kleinbürgerliche Familienidyll des Hauses als Welt der Frau kann nicht mehr als soziale Norm auf einem Boden gelten, über den tagaus, tagein die Millionenheere weiblicher Berufstätigkeit ziehen. Sie haben der Frau die Welt als Haus zurückerobert.

Ist es nicht eine selbstverständliche Forderung geschichtlicher Einsicht in dem unaufhaltsamen Entwicklungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft, eine Forderung auch sozialer Gerechtigkeit angesichts seiner Konsequenzen, dass die Frau als Gleichberechtigte in diesem grossen Hause stehe, in dem sie nun als Gleichverpflichtete waltet? Dort, wo sie wirkt, dort, wo das Regen ihrer Hände und das Weben ihrer Gedanken die Grundlage ihrer Existenz schafft, muss ihr das Recht gesichert sein, ihre Lebensinteressen verteidigen zu können. Zur Arbeit in der Gesellschaft, für die Gesellschaft das Recht zur Gestaltung der Gesellschaft, das politische Recht! Das Begehren scheint so einleuchtend, dass man meint, kein Vorurteil Gedankenloser und kein Egoismus Herrschender könne wagen, sich ihm zu widersetzen. Trotz alledem will das Philistergerede und das Machtwort nicht verstummen: „Das Weib schweige in der Gemeinde.“ Die, welche Bekenner und Verfechter des apostolischen Satzes sind, übersehen zwei wichtige Gruppen von Tatsachen, die, dank der oben aufgezeigten Entwicklung, Leben und Gestalt gewonnen haben. Dadurch, dass die Frauen wieder in die gesellschaftliche Produktion eingeführt worden sind, hat sich der Schwerpunkt ihrer wirtschaftlichen Existenz aus dem Hause in die Gesellschaft verschoben. Die berufstätigen Frauen lernen die Abhängigkeit ihres persönlichen Daseins von den sozialen Einrichtungen und Erscheinungen verstehen. Der Besitz voller politischer Gleichberechtigung wird von ihnen als eine soziale Lebensnotwendigkeit empfunden. Sie werten insbesondere das aktive und passive Wahlrecht als Waffe, ihre Interessen in der Gesellschaft gleichsam persönlich schützen zu können. Die Berufstätigkeit hat eine andere Erkenntnis noch in den Frauen erweckt. Mit der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von der Familie, dem Manne, entdecken sie sich als selbständige Persönlichkeiten, erfassen sie aber auch ihr mütterliches und häusliches Walten als ein Höheres, denn Privatsache im Dienste des Mannes: als bedeutsame gesellschaftliche Pflichtleistung. Eine drückende Fessel, ein schreiendes Unrecht dünkt ihnen nun die soziale und politische Vormundschaft, die dank ihrer eigenen politischen Rechtlosigkeit der Mann über sie ausübt. Sie fordern das Wahlrecht als gesetzliche Besiegelung ihrer vollen sozialen Mündigkeit. So wird das instinktive Muss der Forderung zum bewussten Willen, der seine tragende und siegreiche Kraft dadurch erhält, dass das gesellschaftliche Werden ihn als Massenwillen erstehen lässt. Die Forderung des Frauenwahlrechts als Ausdruck eines geschichtlich bedingten Massenwillens, das ist der fruchtbare Gegensatz zu der naturrechtlich begründeten Losung voller politischer Rechtsgleichheit der Geschlechter, wie sie von konsequenten Vorkämpfern der Demokratie in den Wettern und Flammen bürgerlicher Revolutionen erhoben worden ist. Es ist ein tränen- und blutbetauter Weg, den das weibliche Geschlecht in der kurzen Spanne der Geschichte durchwandern musste, die seither verstrichen ist. Er führte durch die Wüste der Hungerlöhne, bei denen Leib und Seele verkümmert; durch die Sümpfe der Prostitution, deren Pesthauch Schönheit, Tugend und Jugend vergiftet; über die steinigen, dornenvollen Pfade der Konflikte zwischen Mutterschaft und Berufsarbeit, die schmerzensreichsten aller Kämpfe im Leben des Weibes. Und noch ist dieser Weg nicht zu Ende, an dessen Ausgangspunkt das sich duckende, weltfremde Hausmütterchen, an dessen Abschluss die aufrechte, erkenntnisreiche Gesellschaftsbürgerin steht. Wir wissen jedoch eins: die geschichtliche Entwicklung, die das Muss zum Wollen für Millionen erhebt, führt das weibliche Geschlecht auf ihm zum Siege.

Als Teilerscheinung der allgemeinen Umwälzung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen tritt uns die Berufsarbeit der Frau entgegen, in der die Forderung vollen politischen Rechts für das weibliche Geschlecht ihre starken Wurzeln hat, von der sie wachsende Stosskraft erhält. Eine Teilerscheinung ist gleicherweise der Kampf für dieses Recht selbst. Auch er ist einem weiterfassenden Prozess eingegliedert, als der politischen Befreiung der Frau allein: dem Entwicklungsgang der Gesellschaft zu voller Demokratie, der in der uneingeschränkten politischen Gleichberechtigung des Proletariats seinen Höhepunkt erreicht. Der Umstand erklärt, weshalb der Kampf für die politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts in der Hauptsache nicht von dem Bürgertum getragen wird, sondern von dem Proletariat, warum in den meisten Ländern die Sozialdemokratie und nicht der Liberalismus im Vordertreffen steht, wenn die Losung erschallt: für das allgemeine Frauenwahlrecht!

Als die kapitalistische Produktion so weit entwickelt war, dass sie den Rahmen der feudalen Ordnung sprengen musste, proklamierte die Bourgeoisie, die vornehmste Nutzniesserin des Umschwungs, das politische Recht der Persönlichkeit, als ein unantastbares Maturrecht, das jeder bei der Geburt mit in die Gesellschaft bringe. Die Ideologie des „Alle Menschen gleich geboren sind ein adelig Geschlecht“ war eine treffliche Waffe im Kampfe gegen die Vorrechts- und Machtstellung der Aristokratie, der absoluten Monarchie, der Klerisei. Die politische Demokratie erschien als unerlässliche Voraussetzung, die Bourgeoisie sozial zu emanzipieren, ihr die Herrschaft im Staate zu sichern und damit die ihren Klasseninteressen entsprechende schrankenlose Entfaltung der kapitalistischen Produktion. Der Klassengegensatz zu dem Proletariat, das noch im Entstehen begriffen war, wurde durch den Antagonismus zu den herrschenden Ständen der feudalen Gesellschaft überschattet, gegen das gemeinsame Interesse alle rechtlosen und minderberechtigten Volksschichten zum Kampfe rief.

Seit die Bourgeoisie herrschende oder wenigstens mitherrschende Klasse geworden ist, hat sie mit der Zeit mehr und mehr Wasser in den Wein ihrer früheren demokratischen Grundsätze geschüttet. Mit dem Wachsen, Erstarken und Reifen des Proletariats als Klasse ist ihr historischer Gegensatz zu diesem mit zunehmender Schärfe enthüllt worden. Gewaltige Klassenkämpfe, in denen es nun um die Ausbeutungsmacht und die Herrschaft aller besitzenden Klassen geht, erschüttern die Gesellschaft. In diesen Kämpfen hat die Bourgeoisie das bittere Ende der ihr einst so süssen politischen Demokratie fürchten und hassen gelernt: das allgemeine unverklausulierte Wahlrecht als Waffe des proletarischen Emanzipationskampfes; als Mittel, die Massen zu heben, zu sammeln, zu schulen und zum Sturm für die Eroberung der politischen Macht zu führen; die politische Demokratie als Ueberwinderin auch der bürgerlichen Klassenherrschaft, als Wegbereiterin der sozialen Revolution. Die Bourgeoisie hat erkannt, dass die politische Demokratie nichts mehr meinen dürfte, als die politische Emanzipation des Besitzes. Ein Klassenwahlrecht, durch Zensus und andere Kautelen gegen die ausgebeuteten Massen wohl verbarrikadiert, erscheint ihr als die ideale Verkörperung des demokratischen Prinzips. Dort, wo das Proletariat als selbständig organisierte Klasse das politische Blachreld betreten hat, muss ihr je länger je mehr jedes darüber hinausgehende öffentliche Recht durch die Speere der kämpfenden Arbeiter abgezwungen werden.

In der Stimmung ihres politischen Aschermittwochs ist die Bourgeoisie wenig disponiert, sich für eine so weit reichende Demokratisierung des politischen Lebens zu begeistern, wie sie die Einführung eines unbeschränkten Frauenwahlrechts bedeuten würde. Sie legt sorgfältig wägend in die eine Schale den Nutzen, der ihr selbst unter der gegebenen geschichtlichen Situation aus der Neuerung zuwächsen kann, in die andere die Machtstärkung, alle Vorteile, die diese dem Proletariat bringt. Sie schreckt vor der Entfesselung der sozialen Gegensätze zwischen den Frauen und Männern der bürgerlichen Klasse zurück, welche der politischen Emanzipation des weiblichen Geschlechts auf dem Fusse folgt. Denn es ist klar: die bürgerlichen Frauen müssen die Spitzen ihrer po itischen Macht gegen die soziale und rechtliche Vorzugsstellung des männlichen Geschlechts kehren. Sie begehren ihren durch Mannesrecht unbeeinträchtigten Anteil an den sozialen Monopolen der besitzenden und herrschenden Klassen. So erklärt sich diese auffä.lige Erscheinung: Am Anfang der Entwicklungsreihe zur modernen Demokratie fordern einzelne weitausschauende, grossherzige Vorkämpfer der Bourgeoisie auch die volle politische Gleichberechtigung des Weibes, obgleich sie die Forderung lediglich ideologisch als Folgerung eines abstrakten Gleichheitsprinzips begründen können. Heute, wo die Produktionsbedingungen der kapitalistischen Ordnung hinter das ideologische Postulat die rechtfertigende und zwingende Macht gesellschaftlicher Wirklichkeiten stellen: heute tritt der Liberalismus bis hinauf zur bürgerlichen Demokratie weniger grundsätzlich und geschlossen als je für das volle Bürgerrecht des weiblichen Geschlechtes ein. Soweit er sich hier und da für die politische Emanzipation der Frau zu erwärmen beginnt, gilt seine laue Freundschaft weniger dem Recht des gesamten Geschlechts, der Persönlichkeit, als vielmehr der Macht des weiblichen Besitzes, wie sie im Damenwahlrecht ihren Ausdruck findet.

Allein der nämliche Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung, der die Kämpfer für Frauenrecht in dem Lager der Besitzenden zerstreut und lähmt, sammelt sie zu um so grösseren und überzeugteren Scharen in der Welt der Besitzlosen, auch damit die zwie-schlächtige Natur des geschichtlichen Lebens erhärtend, das nichts sterben lässt, ohne Neues zu gebären. Seine ureigensten Klasseninteressen erheben das Proletariat zum kraftvollsten und zuverlässigsten Kämpfer für eine politische Demokratie, die auch das Weib als gleichberechtigt wertet. Das aktive und passive Wahlrecht als ein Besitztitel des gesamten weiblichen Geschlechts ist eine der grundsätzlichen Hauptforderungen des sozialdemokratischen Programms, rückt mehr und mehr in den Vordergrund der Schlachten, die die Arbeiterklasse für die Demokratisierung der Gesellschaft schlägt. Im schweren Ringen um das kärgliche tägliche Brot, im rauhen Tosen der wirtschaftlichen und politischen Klassenkämpfe um Recht und Freiheit brechen die altersgrauen Vorurteile gegen das weibliche Geschlecht zusammen wie morsches Geäst, wenn der Frühlingssturm wildjauchzend die Erde fegt. Siegreich setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch die Proletarierin – mag sie als Erwerbsfrondende oder als Hausmutter unter das Jodi der kapitalistischen Klassenherrschaft gebeugt sein – diese Kämpfe bewusst und freudig mittragen muss. Das kann jedoch nur mit ganzer Kraft und höchstem Erfolg geschehen, wenn die Gesellschaft auch das Weib als Vollbürgerin anerkennt. Als Gleichverpflichtete für den Kampf ihrer Klasse muss die Proletarierin auch Gleichberechtigte in ihm sein, das heisst: Gleichgerüstete. Die Forderung einer Demokratie, welche das weibliche Geschlecht politisch emanzipiert, wird von der gleichen Erfahrung gestützt, die das politische Recht des Proletariers als soziale Lebensnotwendigkeit würdigen lehrte: von der geschichtlichen Tatsache, dass alle Klassenkämpfe zu politischen Kämpfen werden, die im Ringen um die politische Macht kulminieren. Sie erweist sich daher für die Arbeiterklasse als die folgerichtige Konsequenz, als die unerlässliche Ergänzung politischen Mannesrechts.

Mit dem praktischen Klasseninteresse des Proletariats aber am Triumphe des Frauenwahlrechts verbinden sich starke ideelle Kräfte. Die der sozialistischen Geschichtsauffassung verdankte Einsicht in den gesellschaftlichen Werdegang, der das Wahlrecht zu einem Mittel sozialer Verteidigung und zu einer Anerkennung sozialer Mündigkeit des weiblichen Geschlechts macht und daher dessen Willen unwiderstehlich auf dieses Ziel konzentriert. Der aus der eigenen Klassenlage als Minderberechtigte, Unfreie emporsprossende soziale Gerechtigkeitssinn, der mit allen Unterdrückten und Beherrschten fühlen lässt, den das blutige Unrecht empört, dass das Weib wohl Pflichtenträgerin in der Gesellschaft, jedoch nicht Rechtgeniessende sein soll. Die aus dem proletarischen Drängen nach Mitarbeit an der gesamten Kultur geborene Ueberzeugung, dass der Gemeinschaft alle Kräfte und jede Eigenart ihrer Glieder nutzbar gemacht werden müssen. Wo die Banner der Sozialdemokratie wehen, wird daher auch für die volle politische Emanzipation des weiblichen Geschlechts gekämpft.

Die Sozialdemokratie lebt nicht aus der Hand in den Mund; ihr Ehrgeiz sind nicht die Tageserfolge; die Eroberung von Mandaten ist ihr nicht das höchste Ziel des politischen Arbeitens und Kämpfens. Sie scheut deshalb auch nicht dem Liberalismus gleich vor der Möglichkeit zurück, dass durch die Einführung des Frauenwahlrechts vorübergehend die reaktionären Parteien gestärkt werden können, eine Gefahr, die zumal dort ernst genug ist, wo der Klerikalismus die Geister in Banden hält. Sie weiss, dass jede Ausdehnung der politischen Rechte auf dem Kampfplatz Schichten bisher Rechtloser erscheinen lässt, die erst zum richtigen Gebrauch ihrer Macht erzogen werden müssen. Sie wertet darum das Frauenwahlrecht ebenfalls vor allem als ein bedeutsames Mittel zur politischen Sammlung und Schulung der proletarischen Frauenmassen. Auch an ihnen wird sich das wundervolle Wort Lassalles bewähren, dass das demokratische Wahlrecht der Lanze des Achilles gleich, weil es die Wunden heilt, die es schlägt.

In der Tat: das volle Bürgerrecht des weiblichen Geschlechts schafft den stärksten und anhaltendsten Anreiz, durch planmässige Aufklärung des weiblichen Proletariats den „Unverstand der Massen“ aus seinem letzten und festesten Bollwerk zu vertreiben. Die rechtlose Proletarierin lässt sich durch bürgerliche Wohltaten und Spielereien vom Kampfe ihrer Klasse fernhalten; durch die Losungen, die ihr aus dem Dunkel des Beichtstuhles zugeflüstert werden, lässt sie sich als Werkzeug von deren Todfeinden missbrauchen. Der Blick der proletarischen Vollbürgerin muss mit der Zeit unverwandt an dem Polarstern des proletarischen Klassenkampfes haften. Eine Kämpferin für den Sozialismus, wird sie im öffentlichen Leben stehen, eine Mutter und Erzieherin von künftigen Kämpfern für den Sozialismus, wird sie im Hause wirken. In diesen Zusammenhängen gefasst, weitet sich der Kampf für das Frauen wahlrecht zu einem Kampfe für Menschenrechte; so gesehen kann er nicht bloss Frauensache, muss er auch Männersache sein, das Werk des einen ungeteilten Proletariats, das seine Sturmkolonnen wider die kapitalistische Ordnung entsendet. Seine konsequente Demokratie wird den gewaltigen geschichtlichen Hammer schwingen, der in der sozialen Revolution den Boden frei legt für den stolzen Gesellschaftsbau des Sozialismus. Kommunismus und Demokratie werden in ihm dem Menschentum des Weibes die letzten sozialen Ketten abnehmen.

Auf dem Wege zu diesem hehren Ziel bildet der bevorstehende Frauentag der österreichischen und deutschen Sozialdemokratie eine nicht unwichtige Etappe. Er proklamiert den Kampf für das Frauen wahlrecht als einen geschichtlichen Rechtshandel der Menschheit. Er sammelt die Massen, die ihn zum Austrag bringen müssen. Er zeigt das Proletariat, die Lenden reisig gegürtet, als Preisfechter aller Rechtsforderungen, aller Kulturmöglichkeiten. Er entzündet eines jener Flammenzeichen, die da künden: Der Sozialismus ist der Menschheitsbefreier.


Zuletzt aktualisiert am 16. Dezember 2023