Rudolf Rocker

 

Auszug über Nestor Machno


Aus: Rudolf Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten (S. 330–7).
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Es war, wenn ich mich recht entsinne, Anfang 1923, daß der bekannte Freischarenführer Nestor Machno nach Berlin kam und eine kurze Zeit bei uns verweilte Ich hatte bereits manches gehört von dem Rebellen, der drei Jahre lang die Seele der großen insurrektionellen Volksbewegung in der Ukraine war und durch seine Tatkraft und Entschlossenheit geradezu Unglaubliches geleistet hat. Als er mich das erste Mal in der Begleitung Wollins besuchte, fühlte ich mich ein wenig enttäuscht, einen kleinen Mann vor mir zu sehen, dessen äußere Erscheinung mit allem, was ich von ihm gehört hatte, in gar keinem Verhältnis stand. Nur das energische kühngeschnittene Gesicht mit den düster blickenden Augen verriet, welche unbändigen und fabelhaften Kräfte in diesem Mann lebten. In der Tat gab es wohl wenig Menschen, die auf ein so wildbewegtes und abenteuerliches Leben zurückblicken konnten. Nestor Iwanowitsch Machno wurde im Oktober 1889 im Dorf Gulai-Pole in der Provinz Jekaterinoslaw geboren. Es kam aus einer armen bäuerlichen Familie, und da sein Vater starb, als Nestor ein Kind von elf Monaten war, lernte er früh im Kreis seiner Mutter und seiner übrigen Geschwister das Leben von seiner bittersten Seite kennen. Schon als Kind von sieben Jahren mußte er als Hirt zum Unterhalt der Familie beitragen und verdiente späterhin sein Leben als einfacher Feldarbeiter bei den reichen Gutsbesitzern der Umgegend. Die sehr mangelhafte Volksschule seines Dorfes konnte er nur während der Wintermonate besuchen, so daß seine Erziehung kaum über die primitivsten Kenntnisse des Lesens und Schreibens hinausging. Machno war ein geborener Rebell, der sich früh gegen die „Tyrannei der Umstände“ aufbäumte, unter denen er zu leben gezwungen war. Doch erst nach dem Ausbruch der Revolution von 1905 bekam er erste Fühlung mit der äußeren Welt und schloß sich als Siebzehnjähriger den Kommunistischen Anarchisten an. Von Natur aus wagemutig bis zur Verwegenheit, beteiligte er sich an einer ganzen Reihe revolutionärer und gefahrvoller Unternehmungen, bis er 1908 der zaristischen Polizei in die Hände fiel. Im selben Jahr wurde er wegen seiner Zugehörigkeit zur anarchistischen Bewegung und wegen verschiedener terroristischer Akte zum Tode verurteilt; doch wurde das Urteil infolge seiner Unmündigkeit vor dem Gesetz bald darauf in lebenslängliche Zwangsarbeit geändert. Seine Strafe verbüßte er im Butyrkagefängnis in Moskau. Da er sich häufig gegen die Erniedrigungen auflehnte die er über sich ergehen lassen mußte, wurde er oft bestraft und war die ganze Zeit seiner langen Gefangenschaft mit Ketten an Händen und Füßen gefesselt. Durch den Aufenthalt in der eiskalten Zelle hatte sich Machno eine Lungentuberkulose zugezogen, von der er sich Zeit seines Lebens nicht mehr erholte. Doch wenn er während seiner Gefangenschaft auch viel Grausames erdulden mußte, so wurde ihm auch manche Gelegenheit geboten, seine geistige Entwicklung zu fördern. Wie den meisten politischen Gefangenen in der Zeit des Zarismus, so wurde auch ihm das Gefängnis zu einer Schule, wo er seine freien Stunden zu nützlicher Arbeit verwenden konnte. Unter der Anleitung von anderen Gefangenen erlernte er die Grammatik der russischen Sprache und las eine Anzahl Bücher über kulturgeschichtliche und wirtschaftliche Fragen.

Als endlich 1917 der Märzaufstand in Moskau seiner Gefangenschaft ein Ende setzte, eilte Machno sofort in sein Dorf zurück und entwickelte eine fieberhafte Tätigkeit. Er organisierte die armen Bauern und Feldarbeiter der Umgegend und bildete einen Bauern- und Arbeiterrat in seinem Rayon. Dabei sollte er bald entdecken, daß ihm eine Fähigkeit innewohnte, von der er bisher keine Ahnung hatte. Als nach dem Friedensvertrag von Brest-Litovsk im März 1918 die Deutschen und Österreicher die ganze Ukraine besetzten und der Regierung des Hetmans Skoropadski ihren Schutz gewährten, organisierte Machno eine revolutionäre Freischar und zog sich mit dieser unter fortgesetzten Kämpfen auf Taganrok und Zarizyn zurück. Doch schon im August desselben Jahres erschien er wieder in seinem Heimatbezirk, obgleich die Regierung ihn für vogelfrei erklärt hatte, und führte nun einen unerbittlichen Kampf gegen die großen Grundbesitzer und die Truppen der reaktionären Rada. Von nun an kämpfte Machno gegen alle Feinde des Volkes: gegen die Deutschen und Österreicher und die Truppen Skoropadskis, gegen die konterrevolutionären Erhebungen von Petljura, Denikin und Wrangel und später auch gegen die Rote Armee, als die bolschewistische Regierung das Abkommen brach, das sie mit ihm getroffen hatte. Die deutsche Militärverwaltung hatte einen Preis auf seinen Kopf gesetzt, und da sie ihn selbst nicht fassen konnte, nahm sie Rache, indem sie das Haus seiner Mutter verbrannte und seinen älteren Bruder Emeljan, einen Kriegsinvaliden, erschießen ließ.

Machno bewährte sich in allen diesen Kämpfen als ein Meister des Kleinkrieges und entwickelte sich zu einem Guerillaführer großen Stils. Seine Armee selbst war ein seltsames Gebilde; sie war überall und nirgends. Oft schien sie ganz von der Bildfläche verschwunden zu sein oder verteilte sich in kleine Gruppen im Land. Doch sobald Machno eine große Aktion eingeleitet hatte und das Signal gab, strömten ihm Tausende von aufständischen Bauern zu, die sich seiner Führung anvertrauten. Nur so läßt sich erklären, daß er vom November 1918 bis zum Juni 1919 eine Front von über hundert Kilometer Länge gegen die disziplinierten Truppen Denikins halten konnte. Als er endlich gezwungen war, unter fortgesetzten Kämpfen den Rückzug anzutreten, weil die Hilfe, die man ihm versprochen hatte, nicht eintraf, gelang es Denikin, bis nach Criol vorzudringen und damit Moskau selbst zu bedrohen. Erst als Machno im September und Oktober 1919 die stärkste Artilleriebasis Denikins in der Ukraine nehmen, seine Reserven der Vernichtung preisgeben und seiner Armee jede Zufuhr abschneiden konnte, war die Niederlage Denikins besiegelt.

Daß Machno sich drei Jahre im Feld behaupten und immer wieder breite Volksschichten seiner engeren Heimat zum Widerstand begeistern konnte, verdankte er dem Umstand, daß ihm die Arbeiter und ärmeren Bauern treu ergeben waren und in ihm den Hüter und Beschützer ihrer sozialen Belange erblickten. Da er selbst aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung hervorgegangen war, war er durch Überlieferung und Erfahrung mit ihnen verwurzelt. [ ... ]

Den roten Machthabern im Kreml und besonders Trotzki war diese Bewegung von Anfang an ein Dorn im Auge, Trotzki schon deshalb, weil er es als Kriegsminister schwer verwinden konnte, daß außerhalb der bolschewistischen Diktatur noch eine große und mächtige Volksbewegung bestand, die seiner Machtbefugnis nicht unterworfen war und trotzdem große und entscheidende militärische Erfolge zu verzeichnen hatte. Solange die Bolschewisten von der Gegenrevolution selbst noch schwer bedroht waren, konnten sie es natürlich nicht wagen, gegen Machno und seine Anhänger zu einem großen Schlag auszuholen – um so weniger, als ihnen die Machnowtstschina im Kampf gegen Petljura, Grigorjeff und Wrangel die besten und, im Fall Denikin, sogar entscheidende Dienste leistete, die keine Sophistik aus der Welt schaffen konnte. So war denn auch die Stellung der bolschewistischen Presse Machno gegenüber sehr verschieden und wechselte beständig, je nach den Umständen. Solange man Machno brauchte, wurde er in den kommunistischen Blättern als der „große Volksheld der Ukraine“, der „wahre Hüter der Arbeiter- und Bauernrevolution“ gefeiert und bis in die Wolken erhoben. Kaum aber war die jeweilige Gefahr beseitigt, so wurde er in denselben Blättern als „gewöhnlicher Bandit“, „Organisator von Judenpogromen“ und „Konterrevolutionär“ angeprangert. Dieses Spiel wiederholte sich dreimal in drei Jahren. Am abscheulichsten in dieser Hinsicht benahm sich Trotzki, der es sogar fertigbrachte, die Machnowtstschina als Instrument der Großbauern (Kulaki) zu bezeichnen, das diesen die Herrschaft über ganz Rußland verschaffen sollte; eine handgreifliche Lüge, denn Trotzki wußte ganz genau, daß die großen Grundbesitzer in der Ukraine zur Zeit der deutsch-österreichischen Invasion auf der Seite der fremden Eindringlinge und des Hetmans Skoropadski standen, die Machno aufs grimmigste bekämpft hatte; auch machten sie bei allen konterrevolutionären Erhebungen sofort gemeinschaftliche Sache mit Petljura, Denikin und Wrangel, gegen die Machno und seine Bewegung drei Jahre lang einen Kampf bis aufs Messer führte.

Will man sich über den wahren Charakter jener maßlosen Verleumdungen, welche die bolschewistische Presse in jenen Jahren über Machno und seine Bewegung verbreitete, von wo sie in die kommunistische Presse der ganzen Welt übergingen, ein klares Bild machen, so braucht man bloß den Vertrag zu lesen, den die bolschewistische Regierung im Oktober 1920 mit Machno abgeschlossen hatte. Dieser Vertrag kam zustande, als die Regierung von dem Weißen General Wrangel schwer bedrängt wurde und sich deshalb zu einem Bündnis mit Machno entschließen mußte. Der politische Teil jenes Vertrages wurde im Auftrag der Sowjetregierung von J. Jakowlew unterzeichnet; für die Machnowzys zeichneten Kurilenko und Popoff. Der militärische Teil des Vertrags, in dem die technischen Bedingungen des militärischen Zusammenwirkens festgelegt wurden, wurde für die Sowjetregierung von Frunse, dem Kommandanten der Südfront, und den beiden Mitgliedern des revolutionären Kriegssowjets an der Südfront, Bela Kun und Gussew, gezeichnet, während für die Machnowzys Kurilenko und Popoff auch für diesen Teil des Abkommens ihre Unterschrift leisteten. Im politischen Teil verpflichtete sich die Sowjetregierung, sofort alle gefangenen Anarchisten und Machnowzys, sofern sie die U.S.S.R. nicht mit den Waffen in der Hand bekämpft hatten, in Freiheit zu setzen und ihnen völlige Versammlungsfreiheit, Freiheit der Presse und ungestörte Mitarbeit in den Sowjets zu garantieren. Tatsächlich wurde damals eine große Anzahl bekannter Anarchisten freigelassen, aber nur, um, nachdem die militärische Gefahr beseitigt war, von neuem verhaftet zu werden.

Kann man auch nur für einen Augenblick annehmen, daß die Sowjetregierung einen so weitgehenden Vertrag mit Machno abgeschlossen hätte, wenn ihre Vertreter wirklich überzeugt gewesen wären, daß Machno in der Tat ein „Bandit“, ein „Pogromtschik“, ein „Konterrevolutionär“ war? [ ... ]

Daß es den Machthabern im Kreml niemals ernst mit ihrem Vertrag war, zeigte sich, als mit der Niederlage Wrangels, zu der Machno nicht wenig beigetragen hatte, die letzte Weiße Armee endgültig geschlagen war. Kaum war auch diese Gefahr Überwunden, da griff die Rote Armee plötzlich ihre früheren Verbündeten an, was sicher auf vorherige Verabredung geschah. Machno, der in den schweren Kämpfen mit Wrangel große Verluste erlitten hatte, war dem neuen Angriff nicht mehr gewachsen. Umzingelt von einigen Kavalleriedivisionen der Roten Armee, schlug er sich mit einem kleinen Häuflein unter ständigen Kämpfen bis zur rumänischen Grenze durch. Beim überschreiten der Grenze wurde die kleine Schar sofort entwaffnet und in einem Lager untergebracht, bis es Machno im Frühjahr 1922 gelang, zu fliehen und nach Polen zu entkommen. Dort wurde er abermals festgenommen und wegen angeblicher Verletzung polnischer Interessen vor Gericht gestellt, aber später freigesprochen und aus der Haft entlassen. Er wendete sich dann nach Danzig, wo er von neuem verhaftet und interniert wurde. Mit der Hilfe einiger deutscher und russischer Kameraden gelang es ihm jedoch, aus dem Lager auszubrechen. Damals kam er nach Berlin, wo er aber nur einige Wochen blieb, bis er nach Paris reisen konnte.

Während seines kurzen Aufenthalts besuchte er uns oft, und da zu jener Zeit Arschinoffs Buch über die „Machnowstschina“ noch nicht gedruckt war, erfuhren wir durch ihn manche interessanten Einzelheiten. Was mir bei Machno besonders auffiel, war eine seltsame Erregung darüber, daß ihn die Bolschewisten in der ganzen Welt als „antisemitischen Pogromhelden“ verschrien hatten. Daß man ihn als einfachen Räuber, Konterrevolutionär und Verteidiger der Kulaki angeprangert hatte, schien auf ihn keinen besonderen Eindruck zu machen; aber daß man ihn für die zahllosen Judenpogrome verantwortlich zu machen suchte, die in jenen Jahren fast in allen Teilen der Ukraine von wirklichen Konterrevolutionären verursacht wurden, war ihm unerträglich. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an eine Szene, die sich in unserer Wohnung abspielte. Machno kam abends zu Besuch, und auch Mark Mratchny war anwesend. Wie immer, so drehte sich auch an jenem Abend unser Gespräch um die große Aufstandsbewegung in der Ukraine, von der ich soviel wie möglich zu erfahren wünschte. Dabei fand auch die Verleumdung der Bolschewiki über die angeblichen antisemitischen Bestrebungen der „Machnowstschina“ Erwähnung. Als bei dieser Gelegenheit Mratchny, gewiß ohne jede Absicht, Machno zu verletzen, der Meinung Ausdruck gab, daß im Krieg kein Armeeführer imstande sei, für die Handlungen jedes Mannes in seinem Heer einzustehen, wurde Machno plötzlich sehr erregt und sagte: „Dann sind Sie also auch der Ansicht, daß die Beschuldigung der Bolschewiki auf Wahrheit beruht und wir tatsächlich Pogrome angezettelt hätten?“ Mratchny war betroffen, da ihm gewiß kein Gedanke ferner lag als dieser; er antwortete aber sehr ruhig: „Ich verstehe nicht, Machno, wie Sie aus meinen Worten solche Schlüsse ziehen können. Ich wollte lediglich feststellen, daß es schwarze Schafe in jeder Bewegung gibt, für deren Handlungen man diese nicht verantwortlich machen kann. Sie wissen doch selbst am besten, daß sogar Soldaten der Roten Armee an Judenpogromen teilgenommen haben und dafür erschossen wurden, ohne daß man für solche Ausschreitungen die bolschewistische Regierung verantwortlich machen könnte. Dies und nichts andres war der Sinn meiner Worte. Ich habe nicht einmal behauptet, daß einzelne Ihrer Leute an solchen Akten teilgenommen haben, weil mir dazu alle Unterlagen fehlen. Ich wollte nur sagen, daß, selbst wenn Einzelakte dieser Art vorgekommen sind, man die ganze „Machnowstschina“ nicht danach beurteilen dürfe.“ Doch Machno gab sich mit dieser logischen Erklärung nicht zufrieden.

[ ... ] Machno blieb nicht lange in Berlin und fuhr bald nach Paris. Nach einigen Monaten erhielt ich einen Brief, dem ein Bild von ihm und seiner Frau und Tochter beigelegt war. Was ich später noch von ihm hörte, geschah durch Wollin und Briefe anderer Genossen, die mit ihm in Paris bekannt waren.

Es war nichts Gutes. Machnos Aufenthalt in Paris gestaltete sich zu einem langen peinvollen Niedergang. Zwar hegte er zunächst noch immer die Hoffnung, daß er früher oder später nach Rußland zurückkehren könnte, bis er sich, wie so viele andere, allmählich davon überzeugen mußte, daß daran nicht mehr zu denken war. Die Unkenntnis der Sprache und die neue, fremdartige Umgebung, in die er sich nicht einzufinden wußte, machten ihm die Lage doppelt schwer. Er war krank und lebte unter sehr kärglichen Verhältnissen, die ihn auch moralisch schwer bedrückten und ihm seine letzten Jahre vergällten. Kurz vor dem Sturz der spanischen Monarchie trugen sich einige spanische Kameraden mit dem Gedanken, Machno als militärischen Führer für eine Aufstandsbewegung im Norden Spaniens zu gewinnen. Doch der schwerkranke Mann war dazu nicht mehr fähig. Er hätte auch wahrscheinlich in einem fremden Land, dessen Sprache und Verhältnisse ihm gänzlich unbekannt waren, schwerlich leisten können, was ihm auf heimatlicher Erde möglich war. Nach unserer Flucht aus Deutschland sahen Milly und ich ihn das letzte Mal in Paris. Die tückische Krankheit hatte seine körperlichen Kräfte schon so verwüstet, daß wir ihn kaum wiedererkannten. Während seiner letzten Jahre versuchte er, die Geschichte seiner Kämpfe in der Ukraine niederzuschreiben, konnte aber das Werk nicht mehr vollenden. Der erste Band erschien in russischer und französischer Sprache. Zwei weitere Bände auf russisch erschienen erst nach seinem Tod im Juli 1935. [...]

 


Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021