MIA: Geschichte: Sowjetische Geschichte: 100 Jahre Russischer Revolution: Die Geschichte der Februarrevolution
Nikolaus II., der letzte Zar Russlands, etwa um 1909. Quelle: Wikimedia Commons |
Die Tatsache, dass der wichtigste Streik in der Weltgeschichte mit Textilarbeiterinnen in Petrograd am Internationalen Frauentag 1917 (23. Februar nach dem alten julianischen Kalender) begann, war kein Zufall. Diese Frauen, die bis zu dreizehn Stunden am Tag arbeiteten, während ihre Männer und Söhne an der Front waren, waren in einem Leben gefangen, in dem sie allein für ihre Familien zu sorgen hatten und stundenlang bei Minustemperaturen Schlange stehen mussten in der Hoffnung, Brot zu bekommen. Wie Tsuyoshi Hasegawa in seiner definitiven Studie der Februarrevolution bemerkt: „Keine Propaganda war nötig, um diese Frauen zum Handeln anzustacheln.“
Die tiefe soziale Krise Russlands rührte aus dem Versäumnis des zaristischen Regimes her, irgendeine sinnvolle Reform durchzusetzen, und aus der ökonomischen Schere zwischen den Wohlhabenden und den übrigen Teilen der russischen Gesellschaft. Russland wurde von einem Autokraten, dem Zaren Nikolaus II., regiert, der die Duma wiederholt auflöste, ein machtloses Wahlgremium, das per Gesetz von Männern aus den besitzenden Klassen dominiert wurde.
Am Vorabend des Krieges stand die Streikaktivität auf fast dem gleichen Niveau wie während der Revolution von 1905, und die ArbeiterInnen errichteten Barrikaden auf den Straßen der Hauptstadt. Der Krieg gab dem Zarismus eine vorübergehende Atempause, aber die zunehmenden Militärverluste und etwa 7 Millionen Opfer brachten dem Regime beispiellose Vorwürfe der Korruption aus praktisch jedem Teil der Gesellschaft. So tief ging der Verfall, dass der künftige Premierminister, Prinz Lvow, eine Verschwörung anführte – allerdings ohne sie in Taten umzusetzen – um den Zar ins Exil abzuschieben und die Zarin in einem Kloster einzukerkern. Rasputin, ein Scharlatan, der sich als Mönch ausgab und der einen gewaltigen Einfluss im Zarenhof errungen hatte, wurde im Dezember 1916 nicht von Anarchisten, sondern von Monarchisten ermordet.
Unter den Linken waren die Bolschewiki die vorherrschende Kraft in einem breiteren Umfeld von RevolutionärInnen, das die größte Streikwelle in der Weltgeschichte anführte (die kriegsfreundlichen Teile der gemäßigten SozialistInnen hielten sich oft aus der Streikaktion heraus).
Jahrelang hatten sie gegen den Zarismus gekämpft. Dreißig politische Streiks wurden im halben Jahrzehnt seit dem Massaker von 270 ArbeiterInnen im Goldfeld an der Lena initiiert, und sie trotzten den wiederholten Wellen von Verhaftungen durch den zaristischen Geheimdienst (Ochrana). Die Aufgliederung der inhaftierten RevolutionärInnen in 1915 und 1916 zeigt die verhältnismäßige Stärke der Linken in Petrograd: Bolschewiki 743, Nichtparteimitglieder 553, SozialrevolutionärInnen (SR) 98, Menschewiki 79, Meschrajonzy 51, AnarchistInnen 39. Mit seinen etwa sechshundert Mitgliedern der Bolschewiki in den Metall-, Maschinenbau- und Textilfabriken in Wyborg war der Bezirk mit Abstand der militanteste während des Krieges.
Am 9. Januar 1917, dem zwölften Jahrestag des Massakers am Blutsonntag, das die Revolution von 1905 auslöste, streikten 142.000 ArbeiterInnen. Als die Duma am 14. Februar öffnete, legten noch weitere 84.000 ArbeiterInnen die Arbeit nieder in einer Aktion, die von den kriegsfreundlichen Menschewiki geführt wurde.
Die zunehmende Nahrungsmittelknappheit brachte die Regierung dazu, auf dem Land Getreide zu beschlagnahmen. Als die Petrograder Bäckereien schlossen und die Lagerbestände auf einen Vorrat für wenige Wochen schrumpften, verschärften die zaristischen Behörden die Krise indem sie behaupteten, es gäbe keinen Nahrungsmangel. Die Ochrana berichtete über zahlreiche Zusammenstöße zwischen der Polizei und den Arbeiterinnen in den Brotschlangen. Die Mütter, die „ihre halb-verhungernde und kranke Kinder ansehen, sind vielleicht der Revolution viel näher als die Herren Miljukow, Roditschew und Co., und natürlich sind sie auch viel gefährlicher.“
Am 22. Februar forderte der Bolschewik Kajurow in einer Rede bei einer Versammlung von Frauen aus dem Wyborg diese dazu auf, nicht am Internationalen Frauentag zu streiken und die „Anweisungen der Partei“ zu befolgen. Zum Ärger von Kajurow – später schrieb er, dass er darüber „empört“ war, dass die bolschewistischen Frauen die Richtlinien der Partei ignorierten – streikten am nächsten Morgen fünf Textilwerke.
Die Anstifterinnen im Newaer Fadenwerk riefen: „Raus auf die Straßen! Hört auf! Uns reicht’s!“, stießen die Türen auf und führten Hunderte von Frauen zu den Metall- und Maschinenfabriken in der Umgebung. Eine große Menge von Frauen bewarf das Nobelmaschinenwerk mit Schneebällen und überzeugte die ArbeiterInnen dort sich sich ihnen anzuschließen. Sie winkten mit ihren Armen und schrien: „Kommt heraus! Hört mit der Arbeit auf!“ Frauen marschierten auch zum Eriksonwerk, wo Kajurow und andere Bolschewiki sich kurz mit den SRs und Menschewiki im Betrieb trafen und einstimmig beschlossen, andere ArbeiterInnen zu überzeugen sich ihnen anzuschließen.
Die Polizei berichtete über die Mengen von Frauen und jüngeren Arbeitern, die „Brot“ forderten und revolutionäre Lieder sangen. Während des Marsches packten Frauen die roten Fahnen der Männer: „Es ist unser Feiertag. Wir werden die Fahnen tragen.“ Bei der Liteiny-Brücke blockierte sie die Polizei, und trotz der mehrmaligen Versuche der Demonstrierenden die Polizeikette zu stürmen gelang es ihnen nicht, ins Stadtzentrum zu marschieren. Bis zum späten Nachmittag überquerten Hunderte von ArbeiterInnen das Eis und wurden von der Polizei angegriffen. Im Zentrum schafften es „ein Tausend, überwiegend Frauen und Jugendliche,“ zum Newski-Prospekt. Jedoch wurden diese auseinandergetrieben. Die Ochrana berichtete, dass die Demonstrationen so provokativ gewesen wären, dass es „nötig war, überall Polizeitruppen zu verstärken.“
Sechzigtausend der 78.000 Streikenden waren aus dem Wyborg-Bezirk. Obwohl Parolen gegen den Krieg und gegen den Zar gerufen wurden, war die wichtigste Forderung die nach Brot. Die zaristischen Behörden betrachteten dies in der Tat nur als einen Brotaufstand, obgleich sie durch das Zögern ihrer vertrauten Kosak-Truppen, die Demonstrierenden anzugreifen, beunruhigt waren. In jener Nacht trafen sich die Bolschewiki des Wyborg-Viertels und beschlossen, einen dreitägigen Generalstreik mit Demonstrationen zum Newski zu organisieren.
Am nächsten Tag verdoppelte sich die Streikbewegung auf 158.000, was sie zum größten Streik des Krieges machte. Fünfundsiebzigtausend ArbeiterInnen aus dem Wyborg streikten, wie auch zwanzigtausend aus den Petrograder-, Vassilevski-, und Moskauer-Bezirken, plus neuntausend aus Narva. Die jungen proletarischen Straßenkämpfer übernahmen die Führung und kämpften gegen die Polizei und die Truppen bei den Brücken und um die Kontrolle über den Newski im Stadtzentrum.
Beim Aviaz-Werk forderten Vertreter der Menschewiki und SRs die Entlassung der Regierung und flehten die ArbeiterInnen an, sich nicht auf verantwortungslose Aktivitäten einzulassen. Sie drängten darauf zum Taurischen Palais zu marschieren, wo die Mitglieder der Duma verzweifelt versuchten den Zarismus dazu zu bewegen Zugeständnisse zu machen. Die Bolschewiki im Eriksonwerk forderten die ArbeiterInnen dazu auf, zum Kasaner Platz zu marschieren und sich für die bevorstehenden Kämpfe mit der Polizei mit Messern, Geräten und Eis zu bewaffnen.
Eine Masse von 40.000 Demonstrierenden kämpfte an der Liteiny-Brücke mit der Polizei und den Soldaten, wurden allerdings wieder zurückgestoßen. 2.500 Erikson-ArbeiterInnnen wurden von Kosaken auf dem Sampsonjewski-Prospekt konfrontiert. Die Offiziere stürmten durch die Menschenmenge, aber die Kosaken folgten vorsichtig durch den Korridor, der gerade von den Offizieren geöffnet worden war. „Einige von ihnen lächelten,“ erinnerte sich der Kajurow, „und einer von ihnen zwinkerte den ArbeiterInnen gut zu.“ An vielen Orten ergriffen die Frauen die Initiative: „Wir haben Männer, Väter und Brüder an der Front ... ihr habt auch Mütter, Frauen, Schwestern, Kinder. Wir fordern Brot und ein Ende des Krieges.“
Die Demonstrierenden versuchten nicht, sich mit der verhassten Polizei zu verbrüdern. Jugendliche stoppten Straßenbahnen, sangen revolutionäre Lieder und bewarfen die Polizei mit Eis und Bolzen. Nach einigen Stunden überquerten tausende ArbeiterInnen das Eis. Heftige Kämpfe fanden zwischen den Demonstrierenden und der Polizei um die Kontrolle über den Newski statt. In der Zwischenzeit schafften es ArbeiterInnen, Kundgebungen bei den traditionellen revolutionären Schauplätzen, auf dem Kazaner Platz und bei der berühmten „Nilpferd“-Statue von Alexander III. auf dem Snamenskaja-Platz abzuhalten. Die Forderungen wurden politischer als die RednerInnen nicht nur Brot verlangten, sondern auch den Krieg und die Autokratie anprangerten.
Am 25. wurde der Streik zum Generalstreik mit über 240.000 FabrikarbeiterInnen, denen sich Büroangestellte, LehrerInnen, KellnerInnen, Studierende und sogar SchülerInnen anschlossen. Die Taxifahrer gelobten nur die „AnführerInnen“ der Revolte zu fahren.
Die ArbeiterInnen fingen wieder damit an, sich bei ihren Arbeitsplätzen zu versammeln. Bei einer ausgelassenen Versammlung beim Parvianenwerk im Wyborg forderten die bolschewistischen, menschewistischen und sozialrevolutionären RednerInnen dazu auf, zum Newski zu marschieren. Ein Redner schloss mit dem revolutionären Vers ab: „Aus dem Weg, obsolete Welt, von oben bis unten verfault. Das junge Russland ist auf dem Marsch!“
Es gab siebzehn gewaltige Zusammenstöße zwischen Demonstrierenden und der Polizei, und Soldaten und ArbeiterInnen konnten erfolgreich GenossInnen befreien, die von der Polizei verhaftet worden waren. Die Aufständischen gewannen die Oberhand und überwältigten die zaristischen Kräfte auf vielen Brücken oder überquerten das Eis in Richtung Zentrum. Nachdem sie die Kontrolle über den Newski gewonnen hatten, versammelten sich die Demonstrierenden wieder beim Snamenskaja-Platz. Die Polizei und Kosaken peitschten die Menschenmenge, aber als der Polizeichef in die Menge stürmte, wurde er getötet – durch einen Kosaksäbel. Wieder spielten die Arbeiterinnen eine wesentliche Rolle: „Legt eure Bajonette ab,“ forderten sie. „Schließt euch uns an.“
Bis zum Abend war die Wyborg-Seite unter der Kontrolle der Aufständischen. Demonstrierende hatten die Polizeireviere geplündert, die Revolver und Säbel von den zaristischen Wächtern ergriffen und die Polizei und die Gendarmen in die Flucht gejagt.
Der Aufstand drängte Nikolaus II an den Rand eines Abgrundes. „Ich befehle, dass die Unruhen in der Hauptstadt morgen enden,“ verkündete er und befahl, dass der Kommandant der Petrograder Garnison, Chabalow, die Massen durch Waffengewalt auseinandertreiben sollte. Chabalow war skeptisch („Wie wäre es möglich, sie am nächsten Tag aufhalten?“), dennoch nahm er den Befehl an. Im Rathaus forderte der Innenminister Protopopow die Verfechter der Autokratie dazu auf, die Unruhen zu unterdrücken: „Beten Sie und hoffen Sie auf den Sieg,“ sagte er. Früh am nächsten Morgen wurden Proklamationen verbreitet, die Demonstrationen verboten und warnten, dass das Edikt durch Waffengewalt durchgesetzt werden würde.
Früh am Sonntag, den 26., verhaftete die Polizei den Kern des Petersburger Komitees der Bolschewiki zusammen mit anderen SozialistInnen. Fabriken wurden geschlossen, Brücken hochgezogen und das Stadtzentrum in ein bewaffnetes Lager verwandelt. Chabalow schickte ein Telegramm ans Hauptquartier, dass es „seit heute früh in der Stadt ruhig ist.“ Kurz nach diesem Bericht überquerten Tausende von ArbeiterInnen das Eis und tauchten beim Newski auf, wo sie revolutionäre Lieder sangen und Parolen riefen, aber die Soldaten schossen systematisch auf sie.
Einheiten aus dem Wolynski-Regiment hatten die Aufgabe, Kundgebungen am Snamenskaja-Platz zu verhindern. Berittene Patrouillen peitschten die Menschenmenge, schaffte es aber nicht, sie aufzulösen. Daraufhin befahl der Kommandant den Truppen zu schießen. Obwohl einige Soldaten in die Luft schossen, wurden fünfzig Demonstrierende auf dem Snamenskaya-Platz und in der Umgebung getötet, und die zerstreuten ArbeiterInnen versteckten sich in Häusern und eilten in Cafés. Der Großteil des Gemetzels wurde von zarentreuen Eliteeinheiten begangen, die zur Schulung von Unteroffiziern benutzt wurden.
Doch unterdrückte der Aderlass den Aufstand nicht.
Ein Polizeibericht beschreibt den erstaunlichen Grad der Widerstandsfähigkeit und der Opferbereitschaft der Aufständischen:
„Im Zuge der Unruhen wurde als generelles Phänomen beobachtet, dass die randalierende Mobs einen extremen Trotz gegenüber den Militärpatrouillen aufzeigten, die sie mit aus der Straße ausgegrabenen Steinen und Eismassen bewarfen, als sie dazu aufgefordert wurden, sich aufzulösen. Als Warnschüsse in die Luft abgegeben wurden, löste sich die Masse nicht nur nicht auf, sondern antwortete darauf mit Lachen. Nur als man mit geladenen Patronen in die Mitte der Masse schoss, wurde es möglich, den Mob aufzulösen, die Beteiligten ... versteckten sich in den Höfen der umliegenden Häuser, und sobald das Schießen aufhörte, kamen sie wieder heraus auf die Straße.“
ArbeiterInnen appellierten an die Soldaten, ihre Waffen abzulegen, versuchten ins Gespräch mit ihnen zu kommen, was einen Kampf um die Herzen der Soldaten bedeutete. Wie Trotzki bemerkte: „In dieser engen Berührung der Arbeiter und Arbeiterinnen mit den Soldaten unter unausgesetztem Geknatter der Gewehre und Maschinengewehre entschied sich das Schicksal der Macht, des Krieges und des Landes.“
Am Abend des 26. trafen sich die führenden Bolschewiki des Wyborgs in einem Gemüsegarten am Rande der Stadt. Viele meinten, dass es an der Zeit wäre, den Aufruhr zu beenden, wurden aber überstimmt. Der heftigste Verfechter des fortgesetzten Kampfes wurde später als Agent der Ochrana enttarnt. Aus militärischer Perspektive hätte die Revolution schon am 26. ins Stocken geraten sollen. Aber die Polizei konnte die Revolte nicht ohne die Unterstützung von Ttausenden von Soldaten niederschlagen.
Am vorigen Nachmittag waren ArbeiterInnen zur Barracke des Pawlowski-Regiments gezogen: „Erzählt euren Genossen, dass die Pavlowskis auch auf uns schießen – wir sahen Soldaten in eurem Uniform beim Nevski“. Die Soldaten „sahen alle verzweifelt und blass aus.“ Ähnliche Bitten hallten durch Baracken anderer Regimenter. An diesem Abend waren Soldaten aus dem Pawlowski-Regiment die Ersten, die sich den Aufständischen anschlossen (nachdem sie begriffen hatten, dass sie isoliert waren, kehrten sie jedoch in ihre Baracke zurück und neununddreißig Anführer wurden inhaftiert).
Am frühen Morgen des 27. erreichte der Aufstand das Wolynski-Regiment, dessen Ausbildungskorps auf die Demonstrierenden am Snamenskaja-Platz geschossen hatte. Vierhundert meuterten und sagten ihrem Leutnant, „Wir werden nicht länger schießen und wir wollen auch nicht das Blut unserer Brüder vergeblich vergießen.“ Als er darauf antwortete, indem er den Befehl des Zaren vorlas, dass die Rebellion zu unterdrücken sei, wurde er ohne Formalitäten erschossen. Andere Soldaten des Wolynski-Regiments schlossen sich der Rebellion an und zogen dann zu den benachbarten Baracken des Preobrazhenski- und des Litauischen Regiments, die auch meuterten.
Ein Teilnehmer beschrieb später die Szene folgendermaßen: „Ein Lastwagen voller Soldaten, die mit Gewehren bewaffnet waren, teilte die Menge, als er über die Sampsonjewski raste. Rote Fahnen wehten auf den Bajonetten der Gewehren, etwas, das nie zuvor gesehen worden war ... die Nachricht, die der Lastwagen übermittelte – dass die Truppen gemeutert hatten – breitete sich wie ein Lauffeuer aus.“ Obgleich eine Strafeinheit unter der Führung von General Kutepow stundenlangungehindert umherzog – und auf Demonstrierenden und Lastwagen voller Arbeiter schoss –, schrieb Kutepow, bis zum Abend habe sich: „ein großer Teil meiner Truppe mit der Menge vermischt.“
Am Morgen war General Chabalow um die Stadtbaracken herumstolziert und hatte den Soldaten mit der Todesstrafe gedroht, sollten sie rebellieren. An jenem Abendschickte General Iwanov, dessen Truppen unterwegs waren, um die Zarentreuen zu unterstützen, ein Telegramm an Chabalow, um die Situation einzuschätzen:
Ivanow: In welchen Stadtteilen wird die Ordnung aufrechterhalten?
Chabalow: Die Ganze Stadt ist in der Gewalt der Revolutionäre.
Ivanow: Arbeiten sämtliche Ministerien?
Chabalow: Die Minister sind von den Revolutionären verhaftet.
Ivanow: Welche Polizeibehörden stehen im Augenblick zu Ihrer Verfügung?
Chabalow: Keine.
Ivanov: Welche technischen und wirtschaftlichen Institution des Kriegsamtes unterstehen Ihrem Befehl?
Chabalow: Keine.
Nachdem er sich über die Situation informiert hatte, entschloss sich General Ivanow zum Rückzug. Die militärische Phase der Revolution war zu Ende.
Das Paradox der Februarrevolution bestand darin, dass sie zwar den Zarismus beseitigte, ihn aber durch eine Regierung von nichtgewählten Liberalen ersetzte, die über ebenjene Revolution, die sie an die Macht gebracht hatte, entsetzt waren. Am 27. „wurden Seufzer gehört ... ‚Sie ist angekommen‘, oder auch offene Ausdrücke der Angst ums eigene Leben,“ schrieb ein liberaler Duma-Abgeordneter. Dies wurde kurz durch die frohen, aber unzutreffenden Neuigkeiten unterbrochen, dass „die Unruhen bald niedergeschlagen werden“ würden. Ein weiterer Beobachter führte an, „man [war] entsetzt, erschüttert, man [fühlte] sich gekettet an ein feindliches Element, das irgendeinen unbekannten Weg ging“.
Während der Revolution „war die Stellung der Bourgeoisie ziemlich klar; sie war in der Lage auf der einen Seite Abstand von der Revolution zu halten und sie an den Zarismus zu verraten und auf der anderen sie für ihre eigenen Zwecke auszunutzen.“ Dies war die Einschätzung Suchanows, eines Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, dessen Sympathien den Menschewiki gehörten und welcher eine entscheidende Rolle bei der Machtübertragung an die Liberalen spielen sollte.
Dabei bekam reichlich Hilfe von gemäßigteren SozialistInnen. Der führende Menschewik Skobelew wandte sich an Rodsianko, den Vorsitzenden der vierten Duma, um sich einen Raum im Taurischen Palais zu verschaffen. Seine Absicht war es, einen Sowjet der ArbeiterInnendeputierten zu organisieren, um die Ordnung zu wahren. Kerenski beschwichtigte Rodsiankos Ängste, die Sowjets könnten gefährlich werden, indem er ihm erzählte: „jemand muss die ArbeiterInnen anführen.“
Im Gegensatz zu dem ArbeiterInnenrat vom Jahr 1905, der als Mittel des Klassenkampfes entstand, wurde der Sowjet vom 27. Februar erst nach dem Aufstand gebildet, und die führende Mitglieder seines Exekutivkomitees waren fast ausschließlich Intellektuelle, die nicht an der Revolution teilgenommen hatten.
Es gab auch weitere Unzulänglichkeiten: Die Vertreter der 150.000 Soldaten in Petrograd waren überpropotional vertreten in diesem ArbeiterInnen- und Soldatensowjet. Der Sowjet setzte sich überwiegend aus Männern aus, und die wenige Frauen, die es unter den 1.200 Delegierten (eventuell 3.000) gab, waren bedauerlicherweise unterrepräsentiert. Der Sowjet diskutierte nicht einmal die Demonstration für das Frauenwahlrecht am 19. März, an der 25.000 Menschen teilnahmen, einschließlich Tausenden von Arbeiterinnen.
Der Petrograder Sowjet billigte in der Tat den berühmten Befehl Nr. 1 – der die Soldaten dazu befähigte, ihre eigene Komitees zu wählen, um ihre Einheiten anzuleiten und den Offizieren und der provisorischen Regierung nur dann zu gehorchen, wenn ihre Befehle nicht denen des Sowjets widersprachen – dieser Befehl wurde aber auf Initiative der radikalen Soldaten selbst erlassen.
Doch zwang die Bildung des Sowjets die Liberalen und ihren SR-Verbündeten Kerenski zu handeln. Rodsianko argumentierte, „wenn wir nicht die Macht übernehmen, werden Andere es tun,“ da schon „einige Schurken in den Fabriken gewählt worden“ waren. „Wenn wir nicht sofort eine provisorische Regierung bilden“, schrieb der Kerenski, „wird der Sowjet sich als oberste Herrschaftsgewalt der Revolution ausrufen.“ Dem Plan nach sollte eine selbst-nominierte Gruppe, die sich selbst als das Provisorische Komitee ausgab, als Gegengewicht zum Sowjet wirken. Aber die Verschwörer vertrauten ihrem eigenen Plan nicht wirklich; sie ließen also die führenden Menschewiki und Sozialrevolutionäre ihre Drecksarbeit machen.
Die menschewistische Algebra der Revolution verlangte, dass die „Regierung, die an die Stelle des Zarismus tritt, ausschließlich bürgerlich sein müsste,“ schrieb Suchanow. „Die gesamte Staatsmaschinerie ... dürfte nur Miljukow unterstehen.“
Die Verhandlungen zwischen dem Exekutivkomitee des Sowjets und den nichtgewählten liberalen Führern fanden am 1. März statt. „Miljukow verstand durchaus, dass das Exekutivkomitee in der Lage war, um die Macht entweder an die Bürgerlichen zu übertragen oder nicht,“ allerdings, fügte Suchanow hinzu, „die Macht, die den Zarismus ersetzt, darf nur eine bürgerliche Macht sein ... Wir müssen den Kurs nach diesem Prinzip steuern. Sonst wird der Aufstand nicht erfolgreich sein und die Revolution fehlschlagen.“
Die SowjetführerInnen waren sogar bereit das Minimalprogramm der „drei Wale“, worauf sich alle revolutionäre Gruppen geeinigt hatten (den 8-Stundentag, die Konfiszierung des Grundbesitzes und eine demokratische Republik) aufzugeben, wenn die Liberale nur die Macht übernehmen würden. Voller Angst in der Aussicht regieren zu müssen, bestand Miljukow darauf, einen letzten Versuch zu machen, die Monarchie zu retten.
Erstaunlicherweise gaben die SozialistInnen nach und erlaubten dem Bruder des Zaren, Michail, selbst zu entscheiden, ob er regieren sollte oder nicht. Da seine persönliche Sicherheit nicht garantiert werden konnte, lehnte der Großfürst das Angebot höflich ab. Sämtliche dieser Verhandlungen in Hinterzimmern wurden natürlich außerhalb des Wirkungsbereichs des Sowjets geführt.
Das System der „Doppelherrschaft“, das aus dieser Diskussion hervorging – der Sowjet auf der einen Seite und die nichtgewählte provisorische Regierung auf der anderen – sollte acht Monate weiterbestehen.
Ziva Galili beschrieb diese Verhandlungen als „die Sternstunde der Menschewiki.“ Trotzki verglich sie mit einem Vaudevillestück, das in zwei Hälften geteilt war: „In einer baten die Revolutionäre die Liberalen, die Revolution zu retten; in der anderen baten die Liberalen die Monarchie, den Liberalismus zu retten.“
Warum ließen also die ArbeiterInnen und Soldaten, die so tapfer gekämpft hatten, um den Zarismus zu stürzen, zu, dass der Sowjet die Macht an eine neue Regierung übertrug, die die Besitzenden vertrat? Ein Grund dafür war, dass die ArbeiterInnen noch die Politik der verschiedenen sozialistischen Parteien verstehen mussten. Außerdem waren die Bolschewiki sich selbst nicht klar darüber, wofür sie kämpften, da sie teilweise ein (schnell veraltetes) Verständnis der Revolution als eine bürgerlich-demokratische beibehalten hatten, dessen Szenario beinhaltete, dass eine provisorische revolutionäre Regierung herrschen sollte. Was dies in der Praxis bedeutete, besonders nach der Bildung der Provisorischen Regierung, war offen für unterschiedliche Auffassungen.
Obwohl kämpferische Bolschewiki eine kritische Rolle während der Revolutionstage spielten, taten sie dies entgegen ihrer Führung. Im Februar streikten Textilarbeiterinnen trotz der Einwände der Parteiführung, die die Zeit als „noch nicht reif“ für militante Aktionen erachtete.
Die Führung des bolschewistischen Büros (Schliapnikow, Molotow und Salutski) war ebenfalls mangelhaft. Sogar nach dem Streik des 23. Februars argumentierte Schliapnikow, es sei zu früh um einen Generalstreik auszurufen. Das Büro schaffte es nicht, ein Flugblatt für die Soldaten zu produzieren und lehnte die Forderungen ab, die ArbeiterInnen mit Waffen für bevorstehende Kämpfe auszustatten.
Der Großteil der Initiative kam vom Wyborger Bezirkskomitee, das als tatsächliche Leitung der Parteiorganisation in der Stadt wirkte, oder von der Parteibasis – besonders am ersten Tag, als die Frauen die Richtlinien der Parteiführung ignorierten und eine entscheidende Rolle beim Entfachen der Streikbewegung spielten. Im März herrschten Verwirrung und Spaltung unter den Bolschewiki. Als der Petrograder Sowjet am 1. März die Macht an die Bourgeoisie übertrug, sprach sich keiner der sieben Bolschewiki im Exekutivkomitee dagegen aus. Als linke Bolschewiki im Sowjet einen Antrag vorstellten, der eine vom Sowjet gebildete Regierung einforderte, stimmten nur 19 dafür, und viele Bolschewiki stimmten dagegen. Am 5. März befürwortete das Petersburger Komitee die Forderung des Sowjets, dass die ArbeiterInnen zurück zur Arbeit gehen sollten, obschon der 8-Stundentag, eine der Hauptforderungen der revolutionären Bewegung, noch nicht eingeführt worden war.
Das Parteibüro unter Schliapnikow näherte sich den Radikalen in Wyborg an, die die Herrschaft des Sowjets forderten. Als aber Kamenjew, Stalin und Muranow aus dem Exil in Sibirien zurückkehrten und am 12. März die Führung des Büros übernahmen, wandte sich die Politik stark nach rechts –zur Freude der Führung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre und zum Ärger vieler kämpferischen Parteimitglieder in den Betrieben, von denen einige den Ausschluss des neuen Triumvirats verlangten.
Lenin war unter den Zornigen. Am 7. März schrieb er aus der Schweiz, „Diese neue Regierung ist schon jetzt an Händen und Füßen vom imperialistischen Kapital gefesselt, von der imperialistischen Politik des Krieges und der Plünderung.“ Kamenjew argumentierte dagegen in der Prawda am 15. März, dass „freie Menschen fest an ihren Stellungen stehen, auf Kugeln mit Kugeln und auf Granaten mit Granaten antworten“ würden. Und Ende März sprach sich Stalin für die Vereinigung mit den Menschewiki aus und meinte, dass die Provisorische Regierung „die Rolle als Verteidigerin der Errungenschaften der Revolution angenommen hat.“
Lenin was so beunruhigt über die rechte Wende der Führung, dass er am 30. März schrieb, er würde lieber eine „sofortige Abspaltung mit jenen in unserer Partei, egal wem“, durchführen, „als Zugeständnisse an den Sozialpatriotismus Kerenskis und Co. zu machen.“ Es bedurfte keines Rechtsanwalts um die Worte Lenins oder das Ziel seiner Bemerkungen zu erklären. „Kamenjew muss begreifen, dass er eine welthistorische Verantwortung trägt.“
Das Wesen des Leninismus von 1905 betonte ein totales Misstrauen gegenüber dem Liberalismus als einer konterrevolutionären Kraft und eine scharfe Kritik jener SozialistInnen, die fest entschlossen waren, ihn zu besänftigen. Und doch stand Lenins eigene 1905er Formulierung, die eine provisorisch-revolutionäre Regierung forderte, um die bürgerliche Revolution durchzuführen, im Gegensatz zu dem, was er als Trotzkis „absurde und semianarchistischen Ideen“ bezeichnete, die eine sozialistische Revolution forderten. Lenin selbst bewegte sich nun in Richtung dieser absurden Idee vom Sozialismus, während die konservativen Altbolschewiki ihm verständlicherweise „Trotzkismus“ vorwarfen.
Aus vielerlei Hinsicht war der Staatsstreich des frühen März typisch für jene, die im Laufe des letzten Jahrhunderts stattgefunden haben – eine kleine nichtgewählte Clique riss die Macht an sich auf Kosten einer Bewegung, die sie an die Macht gebracht hatte. Es gab allerdings zwei größere Unterschiede. Erstens gab es eine Partei der arbeitenden Massen, die unerbittlich für ihre Interessen kämpfen würde. Und zweitens gab es die Sowjets.
Die Russische Revolution hatte gerade erst begonnen.
Übersetzung: Marcus Volodarsky
Redaktion: Einde O’Callaghan
Korrektur: Jasper Stange
Dieser Artikel erschien zuerst als Teil der Serie der Zeitschrift Jacobin Magazine über die Russische Revolution von 1917 unter dem Titel The Story of the February Revolution.
Kevin Murphy ist Historiker an der Universität Massachusetts Boston. Er ist auch Autor des Buchs Revolution and Counterrevolution: Class Struggle in a Moscow Metal Factory (Berghahn Books, 2005), das 2005 den renommierten „Deutscher Memorial Prize” gewonnen hat.
Zuletzt aktualisiert am 14. Juli 2017