Jasper Schaaf
De dialectisch-materialistische filosofie van Joseph Dietzgen


Zusammenfassung

Joseph Dietzgen (1828-1888)

Joseph Dietzgen war Philosoph und Gerber. Marx nennt ihn auf dem Haager Kongreß der Internationale 1872 ‘unseren Philosophen’, den Philosophen der Arbeiterpartei und erklärt einmal, daß Dietzgen einer der genialsten Arbeiter sei, die er kenne. Als Philosoph ist Dietzgen Autodidakt. Politisch spielt er 1886 in Chicago in der bekannten ‘Haymarket’-Affäre eine Rolle, die unter anderem den Anlaß für die spätere alljährliche Feier des Ersten Mai der internationalen Arbeiterbewegung bildet. Nach seinem Tod am 15. April 1888 wird Dietzgen neben den hingerichteten ‘Märtyrern’ von Chicago begraben.

Als einer der ersten veröffentlicht Dietzgen innerhalb der Arbeiterbewegung eine Rezension über ‘Das Kapital’. Es ist auffallend, daß er diesem Hauptwerk von Marx philosophische Ideen entnimmt. Dietzgens bekanntestes Werk ist ‘Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit’, das 1869 erscheint, nachdem er das Manuskript erst Marx und Engels hat lesen lassen.

Dietzgen hat in der Geschichte des marxistischen Denkens eine besondere Stellung inne. Sein Werk repräsentiert das stark wachsende Klassenbewußtsein seiner Zeit. Er orientiert sich an Marx’ Werk in einer Periode, in der von einer systematischen Verarbeitung von dessen Ideen noch kaum die Rede sein kann. Als einer der wenigen innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung dieser Zeit beschäftigt er sich ausführlich mit Philosophie. Indem er vor allem auf Feuerbach, Marx, dem Kantianismus und der naturwissenschaftlichen Entwicklung weiterbaut, plädiert der ‘autodidaktische Handwerker’ Dietzgen für eine materialistische Dialektik und eine dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie. Dietzgen betrachtet diese als Beitrag zu einer ‘proletarischen Logik’, einer Theorie, die als ‘höchstes’ philosophisches Bewußtsein das System der Verhältnisse von Sein und Denken ausdrückt.

Fragen in Bezug auf Dietzgens Philosophie

Dietzgens Philosophie ist monistisch. Diese Untersuchung will darlegen, wie Dietzgen das Verhältnis von Einheit und Verschiedenheit als erkenntnistheoretisches und ontologisches Problem behandelt. Wie formuliert Dietzgen die Einheit alles dessen, was ist, und was ist der Stellenwert und die Rolle des Erkenntnisprozesses innerhalb dieser Einheit? Diese Fragen werden als Ausgangspunkt für folgende Fragestellung benutzt: Welche Position nimmt Dietzgens Denken hinsichtlich der Philosophie von Feuerbach und der von Marx und Engels ein? Diese Frage ist im Licht der Geschichte der Arbeiterbewegung von Bedeutung. Am Anfang dieses Jahrhunderts steht Dietzgens Werk zur Diskussion. Manche meinen, daß Dietzgen der Philosophie Feuerbachs nichts hinzufügt; andere finden ihn den marxistischen Philosophen schlechthin. Es betrifft hier eine Diskussion, die nicht abgeschlossen ist. Eine Erhellung der Standpunkte in dieser Diskussion wird in dieser Studie in einer Analyse von Dietzgens Philosophie selbst gesucht.

Hinzukommende Fragen betreffen das Verhältnis zu Kants Erkenntnistheorie, zum naturwissenschaftlich und darwinistisch orientierten Materialismus sowie Dietzgens religiös-kritische und ethische Ideen.

Dietzgens Philosophie

Denken wird von Dietzgen als das Aufsteigen des Besonderen zum Allgemeinen charakterisiert; es ist die Systematisierung besonderer Fakten. Systematisierung ist der Kern des Erkenntnisprozesses und der Wissenschaft. Durch das Denken wird ein allgemeiner Begriff für die Einheit der vielen sinnlich gegebenen Erscheinungen gefunden. Dietzgen bezeichnet seine Philosophie als Erkenntnistheorie, ohne dabei die Philosophie zu einer Theorie des Erkenntnisprozesses zu reduzieren. In kritischem Sinne ist Kant in Dietzgens Erkenntnistheorie unverkennbar vorhanden. Als kritische Reaktion auf das kantianische ‘Ding an sich’ nimmt Dietzgen jedoch die bestehende Welt als Ausgangspunkt allen Denkens und Handelns und formuliert die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt. Hinter dem erkenntnistheoretischen Interesse befindet sich ein tiefgehendes Interesse an Fragen der Freiheit und Gerechtigkeit. Innerhalb der Arbeiterbewegung ist Dietzgen einer der ersten, der sich, seitdem sich die Tendenz ‘zurück zu Kant’ abzeichnet, nachdrücklich vom Kantianismus distanziert.

Seit 1887 kommt in Dietzgens Werk immer deutlicher die Notwendigkeit, ontologische äußerungen zu machen, zum Ausdruck. Diese Urgenz entsteht als Reaktion auf das Aufkommen des neukantianischen und agnostizistischen Denkens. Der Widerhall dieser Auffassungen innerhalb der Arbeiterbewegung nötigt ihn, direkter auf die agnostizistische Stellungnahme einzugehen. Auch reagiert er auf E.du Bois-Reymond, der auf Grund der Entwicklung der Naturwissenschaften folgert, daß bestimmte philosophische Kernprobleme unauflöslich seien, woraus folgen würde, daß die menschliche Erkenntnis prinzipiell begrenzt sei. Als Reaktion auf den Agnostizismus begibt Dietzgen sich auf das Glatteis der Metaphysik. Will man die These, daß der Bereich der Erkenntnis prinzipiell beschränkt ist, widerlegen, dann muß das Gegenteil begründet werden. Dietzgen gründet seine Idee einer prinzipiell unbegrenzten Erkenntnis auf der Welt selbst. Der materialistisch verstandene ‘Gesamtzusammenhang’ bestimmt das Denken. Erkennbarkeit beinhaltet Erkenntnis der unendlichen Totalität; eine prinzipielle Begrenztheit kann hier nicht vorhanden sein. Vorhanden ist ein historisch gegebenes Unverstandensein. Dies gehört zu dem Prozeß der Annäherung, in dem das Denken die Welt immer mehr begreift, wenn auch in diesem Prozeß zugleich immer besser verstanden wird, wie unvollkommen jede bestehende Erkenntnis ist.

Dietzgens Werk wird manchmal spinozistisch interpretiert, und zwar wegen des Nachdrucks auf dem universellen dialektischen Zusammenhang alles dessen, was existiert. Wenn er an manchen Stellen Spinozas Philosophie positiv beurteilt, ist es nicht sosehr der Spinozist Dietzgen, der seine Quelle verehrt, sondern eher der autodidaktische Monist aus dem 19. Jahrhundert, der sieht, wie ein philosophischer Vorgänger auf seine eigene Weise mit den gleichen Problemen beschäftigt war.

In Dietzgens Materialismus bestimmt der Gesamtzusammenhang das Denken. Dies setzt eine objektive Dialektik voraus, die die subjektive Dialektik umfaßt. Dies Erkennen einer objektiven Dialektik ist in seiner Ausarbeitung jedoch problematisch. Die objektive Dialektik als Determinante der Erkenntnisprozesses wird zu wenig belichtet. Dietzgens Erkenntnistheorie akzentuiert dadurch den subjektiven Aspekt. Die Wirklichkeit scheint im Erkenntnisprozeß beinahe ausschließlich passiv mitzuspielen. Auf einer konkreten Ebene, zum Beispiel bei der Erklärung ethischer Auffassungen, schenkt Dietzgen – auf Grund von Feuerbachs Philosophie und Marx’ historischem Materialismus – jedoch sehr wohl der Art und Weise Aufmerksamkeit, wie Erscheinungsformen der objektiven Wirklichkeit den Inhalt und die Entwicklung des Denkens bestimmen.

Dietzgen betont in seiner Abweisung eines beschränkten, naturwissenschaftlich orientierten Materialismus zugleich die Notwendigkeit, die Philosophie weiterzuentwickeln. Er sieht die Aktualität eines kritischen philosophischen Materialismus, eines Materialismus, der Kants Philosophie kritisch verarbeitet und nicht stillschweigend negiert hat. Der subjektive Aspekt muß seine volle Anerkennung erlangen, gerade in einer materialistischen Philosophie.

In Dietzgens Erkenntnistheorie sind eine erkenntnistheoretische und eine ontologische Perspektive vorhanden. Der Prozeß der Erkenntniserwerbs wird von Dietzgen als Widerspiegelungsprozeß und zugleich als Aktivität des Denkens verstanden. Die Dinge werden im Denken subjektiv reproduziert und führen gleichsam ein neues, subjektives Dasein. Jeder Abstraktion durch das Denkvermögen liegt die reale Widerspiegelung zugrunde. Das Denken verbindet die Dinge, die als das Besondere in de Sinnlichkeit quasi getrennt sind, wiederum miteinander; auf diese Weise kann die Totalität rekonstruiert werden. Das Denken übersteigt die direkte Empirie, ist in diesem Sinne ‘metaphysisch’, ein Terminus, den Dietzgen jedoch in diesem positiven Sinne sparsam verwendet.

Dietzgen bezeichnet das Erkenntnisvermögen als ‘spiegelartiges Instrument’. Sein Monismus benachdruckt den totalen Zusammenhang alles Bestehenden. Dieser reale Zusammenhang setzt eine alles durchdringende Einheit voraus. Jeder Teil der Natur drückt auf spezifische Weise die ganze Natur aus. Dies Merkmal gilt auch für das Denken, das ebenfalls auf spezifische Weise die Realität ausdrückt. Jedes besondere Ding ist sich selbst oder Individualität, doch zugleich ist es Ausdruck des Kosmos, der sich fortwährend in Entwicklung befindet. Aus dieser ontologischen Perspektive einer universalen Relationalität betrachtet ist die erkenntnistheoretische Widerspiegelungsauffassung ein besonderer Fall des allgemeinen Verhältnisses vom Besonderen und Allgemeinen, in dem das Besondere das Allgemeine auf eine bestimmte Weise widerspiegelt.

Dietzgen ist einer der ersten ‘Marxisten’, der im Ansatz ethische Probleme theoretisch durchdenkt. Er erklärt die Sittlichkeit, ohne eine eigene praktische Ethik zu formulieren. Feuerbachs Philosophie und Marx’ Basis-überbau-These wirken weiter: Das materielle Sein bestimmt Leben und Denken. Man warf Dietzgen einen utilistischen Standpunkt vor. Ob er letztendlich einen utilistischen Ansatz ausschließt, ist die Frage. Dietzgen sieht in den materiell bestimmten Bedürfnissen und Gefühlen des Menschen die Basis der Ethik. Diese Bedürfnisse müssen befriedigt werden, um den allgemeinen humanen Fortschritt zu ermöglichen. Eine abstrakte Moral, die nicht auf wirklichen menschlichen Interessen und Gefühlen gegründet ist, lehnt er ab. Zur Förderung eines allgemeinen sittlichen Fortschritts muß man verstehen, wie ethische Begriffe eigentlich zustande kommen und was ihnen zugrundeliegt.

In Marx’ Werk ist ein engerer Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis als in Dietzgens Analyse vorhanden. Bei Dietzgen scheint es vor allem darum zu gehen, eine adäquate Methode zu finden, um Erkenntnis zu erwerben, wonach diese in die Praxis umgesetzt werden kann. Beide Momente des Verhältnisses Theorie-Praxis werden jedoch nicht im Zusammenhang untersucht. Es gibt jedoch einige Stellen, an denen Dietzgen mehr den Ideen von Marx gemäß denkt. Die Religion hat den Geist kultiviert, schreibt er, aber diese Kultur muß auf der Grundlage des Denkens die reale Welt kultivieren, also verändern. In Feuerbachs Philosophie wird die Idee materialistisch erklärt, doch in der weiteren Ausarbeitung seiner Schlußfolgerungen ist Feuerbach zwiespältig und wählt vor allem die Erneuerung des Denkens als Hauptziel. Die Erneuerung des Denkens geht bei Marx nicht ohne Erneuerung der Welt vor sich, ohne revolutionierende Praxis. Und für diese Praxis muß die Subjektivität materialistisch verstanden werden. Diese Einsicht scheint Dietzgen in einigen äußerungen zu teilen, wenn auch seine philosophische Ausarbeitung dieser Einsicht keineswegs abgerundet ist. Die Praxis wird in seiner Erkenntnistheorie nicht zum erklärenden Begriff entwickelt. Was dies anbetrifft, stimmt Dietzgens Philosophie nur teilweise mit Marx’ Position, wie sie sich in der Kritik an Feuerbach ausdrückt, überein. Erkenntnistheoretisch überherrscht bei Dietzgen eine Sicht, in der sich das Subjekt in einem sinnlichen, reflexiven Verhältnis zu einer scheinbar passiv vorhandenen Wirklichkeit befindet. Marx’ erste Feuerbach-These könnte sich auch auf Dietzgens Denken beziehen.

Dietzgens Diskurs ist logisch nicht sehr geschlossen, kennt Lücken und läßt manchmal verschiedene Interpretationen zu. Indem Dietzgen in Feuerbachs Begriff Sinnlichkeit einen Ausgangspunkt findet, wird es für ihn möglich, materialistisch zu philosophieren und zugleich der eigenen subjektiven Tätigkeit des Denkens als begriffsbildende Aktivität gerecht zu werden. Gleichzeitig enthüllt der Begriff Sinnlichkeit eine angreifbare Stelle in Dietzgens Denken, nämlich die Möglichkeit, dies naiv empiristisch zu interpretieren.

Feuerbachs Nachdruck auf der Sinnlichkeit beinhaltet das Risiko einer Vernachlässigung der Erkenntniskritik Kants. Dietzgen schließt sich zwar dem Terminus Sinnlichkeit bei Feuerbach als Begriff stark an, von dem aus wichtige philosophische Probleme analysiert werden können, doch er nimmt eine kritische Analyse des Denkprozesses vor.

Die Dialektik des Besonderen und des Allgemeinen innerhalb des Prozesses des Erkenntniserwerbs und bei der Bildung allgemeiner Begriffe, Dietzgens subjektive Kritik am mechanischen und naturwissenschaftlichen Materialismus und die monistische Kritik am subjektiven Idealismus und Agnostizismus sind drei Wege zu Entwicklung einer dialektisch-materialistischen Erkenntnistheorie und Ontologie. Eine dialektische Ontologie ist bei ihm die Frucht einer erkenntnistheoretischen Problemstellung. Der erkenntnistheoretische Einstieg bietet Dietzgen den Zugang zu einer tiefgreifenden Analyse der materiellen Einheit alles Bestehenden.

Wenn man sein Werk übersieht, kann man feststellen, daß Dietzgen sich, was die Formulierung einer materialistischen Dialektik anbetrifft, ‘zwischen’ Feuerbach und Marx befindet, doch es ist eine theoretische Beziehung mit Marx’ Werk vorhanden.

Dietzgenismus als Revisionismus

In der Periode der II. Internationale entstehen Diskussionen über die Bedeutung von Dietzgens Werk. Diese führen jedoch nicht zu einer eindeutigen Interpretation. Neben anderen revisionistischen Strömungen entsteht der sogennante ‘Dietzgenismus’. Einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung ist Dietzgens Sohn Eugen. Der Dietzgenismus ist eine der Auffassungen, die von der These ausgehen, daß sich Marx’ Verdienste vor allem auf die Formulierung des historischen Materialismus beschränken, und daß sein Werk nicht ausreichend philosophisch unterbaut ist. Der Dietzgenismus meint, daß Dietzgens Werk wie kein anderes als philosophisches Fundament des wissenschaftlichen Sozialismus geeignet ist.

Es gibt zur Dietzgen-Diskussion einen relativ wichtigen Beitrag aus den Niederlanden. H. Roland Holst wird in der Literatur manchmal als Dietzgenistin betrachtet, während bei A. Pannekoek viele Spuren einer Dietzgen-Rezeption sichtbar sind. Die vorliegende Untersuchung gelangt zu der Schlußfolgerung, daß eine Qualifizierung von Roland Holst als Dietzgenistin nicht zurecht ist. über Pannekoek dahingegen wird gesagt, daß er sehr wohl dazu beitrug, Dietzgens Denken als die marxistische Philosophie schlechthin zu propagieren. Pannekoek sondert Marx und Engels einerseits und Dietzgen andererseits auf höchst getrennten Bereichen voneinander ab: im historischen Materialismus bzw. im dialektischen Materialismus.

Dietzgens Beitrag zu einem wissenschaftlichen Sozialismus

Als einer der ersten bezeichnet Dietzgen den sich an Marx orientierenden Sozialismus konsequent als ‘den wissenschaftlichen Sozialismus’. Es ist nahezu sicher, daß er der erste ist, der die Philosophie der Sozialdemokratie schriftlich den dialektischen Materialismus nennt. Engels schreibt in ‘Ludwig Feuerbach’, daß die materialistische Dialektik merkwürdigerweise nicht nur von Marx und ihm selber, sondern auch von Dietzgen aufs neue entdeckt wurde, unabhängig von ihnen und von Hegel. Die vorliegende Untersuchung zeigt auf, daß Dietzgens Wiederentdeckung nicht völlig unabhängig von ihnen stattfindet.

Seit den dramatischen Entwicklungen in Osteuropa stehen alle aktuellen und ideologischen Diskussionen in einem neuen Licht. Es ist ein neues konsistentes theoretisch-politisches Bild nötig, will man an der Bedeutung sozialistischer Ideale festhalten. Dies bedeutet ebenfalls die Notwendigkeit eines offenen Lesens der Werke derer, die zum Sozialismus und Kommunismus beitrugen. In diesem Rahmen kann man Dietzgen als ein ursprünglich und selbstbewußt denkendes Mitglied der Arbeiterklasse lesen. Er war ein sich an Marx orientierender Sozialist, der niemals sein eigenes Denken ausschaltete und auch in Zeiten, in denen der Sozialismus unter schwerem Druck stand, an sozialistischen und alten humanistischen Idealen festhielt.