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<< Vorrede | 1-II. Bauer u. Industrie >>
Es ist die kapitalistische Produktionsweise, welche die heutige Gesellschaft beherrscht. Es ist der Gegensatz zwischen der Kapitalistenklasse und dem Lohnproletariat, der unser Zeitalter bewegt und ihm sein Gepräge verleiht. Aber die kapitalistische Produktionsweise ist nicht die einzige Form des Produzirens, die sich in der bestehenden Gesellschaft findet; neben ihr sind noch Reste vorkapitalistischer Produktionsweisen anzutreffen, die sich bis heute erhalten haben; und bereits sind auch Keime einer neuen, höheren Produktionsweise in manchen Formen der Staats- und Gemeindewirthschaft und des Genossenschaftswesens zu entdecken. Es ist aber auch der Gegensatz zwischen der Kapitalistenklasse und dem Lohnproletariat nicht der einzige soziale Gegensatz unserer Zeit. Neben und zwischen diesen beiden Klassen sind noch zahlreiche andere vorhanden – unter ihnen die Spitzen wie der Bodensatz der Gesellschaft, hier die Monarchen mit ihren Höflingen, dort die verschiedenen Arten des Lumpenproletariats –, Klassen, die theils Produkte vorkapitalistischer Gesellschaftsformen sind, theils durch die Bedürfnisse des Kapitalismus selbst erzeugt oder wenigstens in ihrem Wachsthum gefördert werden. Diese mannigfaltigen, theils aufsteigenden, theils absteigenden Klassen, mit ihren höchst verschiedenartigen Interessen, die beständig wechseln, sich mit den Interessen der Kapitalisten einerseits, der Proletarier andererseits, aufs Vielfältigste kreuzen und verschlingen, ohne sich jemals mit einem dieser Interessen völlig zu decken, sie sind es, die den politischen Kämpfen unserer Zeit ihren unstäten Charakter voll der sonderbarsten Ueberraschungen verleihen.
Der Theoretiker, der die Grundgesetze erforschen will, die das Leben der heutigen Gesellschaft beherrschen, darf sich von dieser Fülle der Escheinungen nicht beirren lassen. Er muß die kapitalistische Produktionsweise in ihrer Eigenart, in ihren klassischen Formen, gänzlich losgelöst von den sie umgebenden Resten und Keimen anderer Produktionsformen erforschen. Der praktische Politiker dagegen beginge einen gewaltigen Fehler, wollte er Kapitalisten und Proletarier als allein wirkende Faktoren der heutigen Gesellschaft betrachten und von allen anderen Klassen absehen.
Das Kapital von Marx handelt nur von Kapitalisten und Proletariern. Im 18. Brumaire und in Revolution und Kontrerevolution in Deutschland von demselben Verfasser spielen dagegen neben Kapitalisten und Proletariern auch Monarchen und Lumpenproletarier, Bauern und Kleinbürger, Bureaukraten und Soldaten, Professoren und Studenten eine Rolle.
Von diesen Zwischenschichten hat die Bauernschaft, vor Kurzem noch der größte Theil der Bevölkerung unserer Staaten, bei den demokratischen und revolutionären Parteien unseres Jahrhunderts stets ein besonderes Interesse erregt. Für sie, die den Städten entsprangen, war der Bauer ein mystisches, unbegreifliches, ja mitunter recht unheimliches Wesen. Er, der ehedem die Kirche, das Fürstenthum, den Adel am kraftvollsten bekämpft, hing nun am zähesten an diesen Institutionen; mit derselben Kraft, mit der andere Klassen für ihre Emanzipation stritten, trat er oft für seine Ausbeuter ein; die Waffen, die ihm die Demokratie brachte, wandte er nur zu oft gegen sie.
Der Sozialdemokratie bereitete der Bauer anfangs wenig Sorgen. Sie ist keine demokratische Volkspartei im bürgerlichen Sinne des Wortes, keine Allerweltsbeglückerin, die den Imteressen aller Volksklassen, wie gegensätzlich sie auch sein mögen, gerecht zu werden sucht, sondern eine Partei des Klassenkampfes. Die Organisirung des städtischen Proletariats nahm sie in den ersten Jahren ihres Bestehens völlig in Anspruch. Und sie erwartete, die ökonomische Entwicklung werde ihr auf dem Lande ebenso vorarbeiten wie in der Stadt, und der Kampf zwischen Kleinbetrieb und Großbetrieb zur Verdrängung des ersteren führen, so daß es ihr dann leicht fallen würde, auch an rein proletarische Partei die Masse der Landbevölkerung zu gewinnen.
Heute ist die Sozialdemokratie so mächtig angewachsen, daß die Städte ihr als Wirkungsfeld nicht mehr genügen; sobald sie aber aufs Land hinaus geht, stößt sie auf dieselbe geheimnißvolle Macht, die schon früheren demokratisch revolutionären Parteien so manche Ueberraschung bereitet hat. Sie sieht, daß der Kleinbetrieb in der Landwirthschaft keineswegs in raschem Verschwinden ist, daß die großen landwirthschafnichen Betriebe nur langsam an Boden gewinnen, stellenweise sogar an Boden verlieren. Die ganze ökonomische Theorie, auf die sie sich stützt, erscheint falsch, sobald sie versucht, dieselbe auf den Landbau anzuwenden. Sollte aber diese Theorie für die Landwirthschaft wirklich nicht gelten, so würde das nicht nur die bisherige Taktik, sondern die ganzen Grundsätze der Sozialdemokratie völlig umwandeln müssen. Sehr scharf hat W. Sombart diese Bedenken in seiner jüngsten Schrift hervorgehoben:
„Wenn sich Gebiete im Wirthschaftsleben finden, die dem Prozeß der Vergesellschaftung nicht unterworfen sind, und zwar deshalb nicht, weil hier die kleinbetriebliche Form unter Umständen höhere Bedeutung hat, leistungsfähiger ist als die großbetriebliche, wie dann? Das ist das ganze Problem, das heute als Agrarfrage der Sozialdemokratie vor Augen gestellt wird. Wird das gemeinwirthschaftliche Ideal, welches auf dem Großbetriebe beruht und damit auch das daraus gebildete Programm eine prinzipielle Veränderung erfahren müssen vor dem Bauernthum? Und wenn man thatsächlich dann zu der Einsicht gelangt, daß in der agrarischen Entwicklung keine Tendenz zum Großbetrieb besteht, aber in der Sphäre der agrarischen Produktion der Großbetrieb auch gar nicht durchgängig die höchste Betriebsform sei, so wird man sich vor die entscheidende Frage gestellt sehen: Sollen wir nun demokratisch in dem Sinne sein, daß wir jene kleinbetrieblichen Existenzen mit umfassen und dann unser Programm dahin abändern, daß wir von dem gemeinwirthschaftlichen Ziele Abstand nehmen, oder aber sollen wir proletarisch bleiben, dieses gemeinwirthschaftliche Ideal und Ziel im Auge behalten und dann jene Elemente von unserer Bewegung ausschließen? ...
„Ich habe hier von ‚wenn‘ und ‚aber‘ sprechen müssen und zwar aus dem Grunde, weil bis jetzt nach meiner Kenntniß noch nicht mit irgend welcher Gewißheit sich feststellen läßt, weder welches die Entwicklungstendenz im Agrarwesen ist, noch welche Betriebsform und ob überhaupt eine bestimmte, in der agrarischen Produktion die superiore ist. So viel ich aber sehe, versagt hier im Wesentlichen das Marxsche System; so viel ich sehe, sind die Deduktionen von Marx auf das Agrargebiet nicht ohne Weiteres übertragbar. Er hat Bedeutendes auch über die Agrarsachen gesagt, aber seine Theorie der Entwicklung, welche auf einer Zunahme des Großbetriebs, auf einer Proletarisirung der Massen beruht, und welche ans dieser Entwicklung den Sozialismus als nothwendig ableitet, diese ist klar nur für die Industrieentwicklung. Sie es für die agrarische Entwicklung nicht und mir scheint, daß mir die wissenschaftliche Forschung die Lücke auszufüllen vermögen wird, die jedenfalls besteht.“ (Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, S. 111)
Wir fürchten nur, daß wir in dieser Beziehung recht lange werden warten müssen. Die Streitfrage, ob große oder kleine Landgüter vortheilhafter sind, beschäftigt die Nationalökonomen seit mehr als einem Jahrhundert und es ist kein Ende des Streites abzusehen. Dies hinderte jedoch nicht, daß, während die Theoretiker sich über die Vorzüge der kleinen und großen Landgüter stritten, die Landwirthschaft eine gewaltige Entwicklung durchmachte, eine Entwicklung, die unbestreitbar und deutlich zu verfolgen ist. Aber, um diese zu sehen , darf man seinen Blick nicht ausschließlich auf den Kampf zwischen Groß- und Kleinbetrieb heften und man darf die Landwirthschaft nicht für sich allein betrachten, losgelöst vom Gesammtgetriebe der gesellschaftlichen Produktion.
Kein Zweifel, und das wollen wir von vornherein als erwiesen annehmen, die Landwirthschaft entwickelt sich nicht nach derselben Schablone, wie die Industrie; sie folgt eigenen Gesetzen. Aber damit ist keineswegs gesagt, daß die Entwicklung der Landwirthschaft einen Gegensatz bilde zu der der Industrie und mit ihr unvereinbar sei. Wir glauben vielmehr zeigen zu können, daß sie beide demselben Ziele zueilen, sobald man sie nicht von einander isolirt, sondern als gemeinsame Glieder einesGesammtprozesses betrachtet.
Die Marxsche Theorie der kapitalistischen Produktionsweise besteht doch nicht einfach darin, die Entwicklung dieser Produktionsweise auf die Formel: „Verdrängung des Großbetriebs durch den Kleinbetrieb“ zu. reduziren, so daß, wer diese Formel auswendig weiß, auch schon den Schlüssel zu der gesammten modernen Oekonomie in der Tasche hat.
Will man im Sinne der Marxschen Methode die Agrarfrage stndirei1, dann darf man sich nicht blos die Frage vorlegen, ob der Kleinbetrieb in der Landwirthschaft eine Zukunft hat; wir müssen vielmehr alle die Veränderungen untersuchen, denen die Landwirthschaft im Laufe der kapitalistischen Produktionsweise unterliegt. Wir müssen untersuchen, ob und wie das Kapital sich der Landwirthschaft bemächtigt, sie umwälzt, alte Produktions- und Eigenthumsformen unhaltbar macht und die Nothwendigkeit neuer hervorbringt.
Erst wenn wir diese Fragen beantwortet haben, können wir sehell, ob die Marxsche Theorie in der Landwirthschaft anwendbar ist, oder nicht, und ob die Aufhebung des Privateigenthums an den Produktionsmitteln gerade vor dem vornehmsten aller Produktionsmittel, dem Grund und Boden, Halt zu machen hat.
Unsere Aufgabe ist uns damit klar vorgezeichnet.
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Zuletzt aktualisiert am 26.2.2012