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<< III. Die Demokratie | V. Der Arbeitszwang >>
Der Demokratie setzen die Bolschewiki die Forderung der Diktatur entgegen. Aber sie äußern sich über sie so widerspruchsvoll, daß es schwer ist, ein klares Bild dessen zu gewinnen, was sie unter der Diktatur verstehen. Sie berufen sich auf Marx und Engels, die von der Diktatur des Proletariats sprachen. Leider haben diese ihr Wort nie näher erläutert. Sie gebrauchten es eben nur in gelegentlichen Bemerkungen. Für die Bolschewiks ist es aber zum Programm geworden.
Indessen nicht bloß auf Marx und Engels beruft sich Trotzki, sondern auch auf mich. Im Jahre 1910 schrieb ich in meinem Weg zur Macht:
„So sehr Marx und Engels dafür waren, die Differenzen bürgerlicher Parteien zur Förderung proletarischer Zwecke zu benutzen, so sehr sie das Wort von der „reaktionären Masse“ bekämpften, so haben sie doch das Wort von der Diktatur des Proletariats geprägt, das Engels noch 1891, kurz vor seinem Tode verfocht, das Wort von der politischen Alleinherrschaft des Proletariats als der einzigen Form, in der es die politische Macht auszuüben vermöge.“ (S. 20)
Trotzki zitiert den Schluß dieses Satzes und knüpft daran folgende Bemerkung:
„So schrieb Kautsky vor ungefähr zehn Jahren: Für die einzige Form der Macht des Proletariats hielt er nicht die sozialistische Mehrheit im demokratischen Parlament, sondern die politische Alleinherrschaft des Proletariats, seine Diktatur.“ (S. 8)
Danach hätte ich eigentlich immer das jetzige, politische System des Bolschewismus vertreten, lange, ehe dieser selbst daran dachte. Erst just in dem Moment, wo die Bolschewiks die Konstituante, für die sie selbst gekämpft, auseinanderjagten, habe ich meinen früheren Standpunkt verlassen und mich zur Demokratie bekehrt!
Das Kunststück dieser Darstellung bringt Trotzki einfach dadurch zustande, daß er mir unterschiebt, wenn ich das Wort „Diktatur“ als „Alleinherrschaft“ auffasse, so setze ich es damit in Gegensatz zu einer sozialistischen Mehrheit im demokratischen Parlament. In Wirklichkeit ist mir natürlich nie eingefallen, etwas derartiges zu behaupten. Wenn die sozialistische Partei die Mehrheit im Parlament einer demokratischen Republik hat, herrscht das Proletariat allein, ohne von andern Klassen abhängig zu sein. Die Stelle, an der sich der von mir zitierte Satz befindet, handelt nicht etwa von der Frage, ob Demokratie oder nicht. Darüber gab es damals unter uns nicht zwei Meinungen. Sondern um die Frage, ob eine Koalitionspolitik ein Mittel proletarischer Machtentfaltung sei. Und da erklärte ich, wirkliche Macht kann das Proletariat nur durch ein rein sozialistisches Ministerium entfalten, die Koalitionspolitik sei kein Mittel, das den Kampf des Proletariats um die politische Macht überflüssig mache.
Wenn Trotzki die letzten meiner Arbeiten aus deren „übergroßer Anzahl“ gelesen hat, wird er finden, daß ich auch heute noch der Ansicht bin, man fasse die Forderung der Diktatur, die Marx aufgestellt, am besten als Alleinherrschaft auf, ausgeübt durch eine Mehrheit im demokratischen Staate.
Wenn Trotzki aus meinen eigenen Worten das Gegenteil dessen herausliest, was ich sagen wollte, kann man sich denken, wie vertrauensvoll wir seine Auslegung der Worte unserer toten Meister hinzunehmen haben, die nicht mehr imstande sind, sich selbst gegen alßu kühne Auslegungskünste zu wehren.
Sie haben, wie gesagt, leider ihr Wort von der Diktatur des Proletariats nicht ausdrücklich erläutert. Und doch geben uns ihre Schriften Mittel in die Hand, herauszufinden, unter welcher Staatsverfassung sie sich das Wirken der proletarischen Diktatur vorstellten.
Engels hat 1891 in seinem Vorwort zur dritten deutschen Auflage des Bürgerkrieg in Frankreich erklärt:
„Die Pariser Kommune: das war die Diktatur des Proletariat.“
Marx selbst schildert in dieser Schrift die Grundsätze, auf denen die Verfassung der Kommune aufgebaut war:
„Das erste Dekret der Kommune war die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk (die Nationalgarde).“
„Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten ... Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt ... Die Kommune sollte die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein und das stehende Heer auf dem Lande durch eine Volksmiliz mit äußerst kurzer Dienstzeit ersetzt werden ... Die wenigen aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrig blieben, sollten nicht ... abgeschafft, sondern an kommunale, d. h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden.“ (S. 46, 47)
Das war die Verfassung, in der die Diktatur des Proletariats verwirklicht werden sollte!
Ich gehe nicht auf weitere Details dieser Verfassung ein, z. B. darauf, daß „die Kommune nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein sollte, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit“. Mir erscheint die Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen gesetzgebender und vollziehender Tätigkeit nicht sehr zweckmäßig, da jede dieser Tätigkeiten andere Qualitäten und andere Arbeitsbedingungen voraussetzt. Doch kommt es hier darauf nicht an. Nicht das ist entscheidend, wie in der Kommune die Demokratie organisiert sein sollte, wohl aber, daß die Kommune nichts anderes war, als eine Demokratie. Eine Demokratie in so hohem Maße, daß Stimmen laut geworden sind, die in den hier zitierten Sätzen eine vollständige Preisgabe der Staatsgewalt, eine Kapitulation vor dem Anarchismus sähen. Dieser Ansicht war auch Mehring, allerdings erst in seinen letzten Lebensjahren, in denen er eine auffallende Sympathie für Bakunin gegenüber Marx bekundete.
Diese Auffassung geht entschieden zu weit. Sicher aber bezeugen die zitierten Ausführungen, daß Marx für das Stadium, das Engels als die Diktatur des Proletariats bezeichnete, eine äußerst schwache Zentralregierung ohne stehendes Heer, ohne politische Polizei und mit nur wenigen Funktionen vorsah, sowie eine Wahl der Beamten durch das allgemeine Stimmrecht.
Wenn das keine Demokratie, und zwar extreme Demokratie ist, dann weiß ich nicht, was eine Demokratie sein soll. Eine Verbeugung vor dem Anarchismus ist diese weitgehende Demokratie jedoch nicht.
Unter dem Einfluß des Studiums der französischen Revolution, war Marx in seinen sozialistischen Anfängen zu einer Auffassung gekommen, die sich in manchem mit der jakobinischen und blanquistischen berührte. Unter ihrem Einflusse schrieb er noch im März 1850 in der Ansprache der Zentralbehörde an den Kommunistenbund über die Aufgaben der Kommunisten in dem demnächst erwarteten, erneuten Ausbruch der Revolution:
„Die Demokraten werden entweder direkt auf die Föderativrepublik hinarbeiten oder wenigstens, wenn sie die eine unteilbare Republik nicht umgehen können, die Zentralregierung durch möglichste Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Gemeinden und Provinzen zu lähmen suchen. Die Arbeiter müssen diesem Plane gegenüber nicht nur auf die eine und unteilbare deutsche Republik, sondern auch in ihr auf die entschiedenste Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht hinwirken. Sie dürfen sich durch das demokratische Gerede von Freiheit der Gemeinden, von Selbstregierung usw. nicht irre machen lassen. Wie in Frankreich 1793 ist heute in Deutschland die Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei.“
Zu dieser Auffassung paßte sehr gut das Wort von der Diktatur des Proletariats.
Aber weitere Studien und wohl auch englische Erfahrungen haben Marx zu einer fundamentalen Wandlung seiner Anschauungen über die Gestaltung der revolutionären Staatsgewalt geführt, wie schon die eben zitierten Sätze über die Kommune von 1871 bezeugen.
Auch sonst zeigt sich Marx in späterer Zeit als der Gegner jeder starken Staatsgewalt. So sagt er in dem berühmten Brief, zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms von 1875:
„Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln.“
Und an einer späteren Stelle heißt es:
„Ganz verwerflich ist eine Volkserziehung durch den Staat ... Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schulen auszuschließen.“ (Neue Zeit, IX, 2, S. 572, 574)
Wenn Marx so sehr für die Demokratie gegen eine starke Staatsgewalt auftritt, so bekehrt er sich damit natürlich nicht zum „demokratischen Wunderglauben“, den er ausdrücklich verspottet, den Glauben jener
„vulgären Demokratie, die in der demokratischen Republik das tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, daß gerade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist.“
Aber nicht minder wendet er sich gegen „den Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat“.
Parallel mit der Wandlung der Auffassungen über die Staatsgewalt ging die andere, von der Engels in der so vielberufenen Einleitung zu den Marxschen „Klassenkämpfen“ in Frankreich, am Vorabend seines Todes sprach. Er zeigte dort, daß sich unter dem Einfluß des allgemeinen Stimmrechts, sowie der militärischen Technik (auch des Verkehrswesens) die Bedingungen für den revolutionären Kampf des Proletariats gänzlich geändert hätten. Um 1848 hätten die Revolutionäre, auch Marx und Engels, noch geglaubt, eine Revolution könne nur eine der Minderheit sein. Die des Proletariats werde nach dem Siege schon umschlagen in die Revolution der Mehrheit.
„Die Geschichte hat uns allen, die ähnlich dachten, Unrecht gegeben. (S. 13) Heute dagegen, sehen die Sozialisten mehr und mehr ein, daß für sie kein dauernder Sieg möglich ist, es sei denn, sie gewinnen vorher die große Masse des Volkes.“ (S. 20)
Trotz dieser großen und tiefgehenden Wandlungen haben Marx und Engels später noch von der Diktatur des Proletariats gesprochen. Aber sie kann unmöglich mehr in einem jakobinischen Sinne verstanden werden.
Wie darf sich aber heute der Bolschewismus auf die Pariser Kommune und den Marx von 1871 berufen?
Die Kommune und Marx forderten Aufhebung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch eine Miliz. Die Sowjetregierung begann mit der Auflösung der alten Armee. Aber sie hat die rote Armee geschaffen, eine der stärksten stehenden Armeen in Europa.
Die Kommune und Marx forderten Aufhebung der Staatspolizei. Die Sowjetrepublik hat die alte Polizei nur aufgelöst, um den Polizeiapparat der Tschreswitschaika (oder abgekürzt „Tscheka“) einzurichten, eine weit umfassendere, schrankenlosere und grausamere politische Polizei als sie der französische Bonapartismus oder die russischen Zaren besaßen.
Die Kommune und Marx forderten Ersetzung der staatlichen Bureaukratie durch vom Volk nach allgemeinem Stimmrecht erwählte Beamte. Die Sowjetrepublik hat die alte zaristische Bureaukratie beseitigt, aber an ihrer Stelle eine neue, ebenso zentraliserte gesetzt, mit noch weit größeren Befugnissen, als die frühere, da das ganze wirtschaftliche Leben durch sie zu regeln ist, sie nicht nur über die Freiheit, sondern auch die Existenzquellen der Bevölkerung verfügt. Nirgends ist dem Staat mehr die Gesellschaft untergeordnet, als in Rußland.
Marx sagt in seinem Bürgerkrieg:
„Der gerade Gegensatz des Kaisertums war die Kommune.“ (S. 45)
Die Sowjetrepublik hat dagegen in den Mitteln und Methoden der Regierung begonnen als der Gegensatz zum Zarismus, um zu seiner Übertrumpfung zu gelangen. Es gehört das zu den vielen Wandlungen, die der Bolschewismus durchgemacht – immer unter Berufung auf die gleichen Marxschen Schriften.
Die Bolschewiks mögen einwenden, daß die Verfassung der Kommune, die Marx so pries, in einem modernen Großstaat nicht durchführbar sei. Darüber wird sich manches sagen lassen. Aber es ist eine grobe Fälschung, wenn sie sich für die Diktatur, die sie üben, auf Marx und die Pariser Kommune berufen. Denn die haben das gerade Gegenteil dessen gefordert, was der Bolschewismus durchgeführt hat.
So klar die Praxis der Diktatur in Sowjetrußland ist, so unklar und widerspruchsvoll die Theorie, durch die sie begründet werden soll. Die Bolschewiks klammern sich an Vorbilder, bekunden aber über diese ganz erstaunliche Vorstellungen. Sie berufen sich auf die Pariser Kommune. Aber wenn deren demokratische Verfassung dargelegt wird, suchen sie auf folgende Weise zu entwischen:
„Genosse Lenin hat Kautsky schon darauf hingewiesen, daß die Versuche, die Kommune als Ausdruck der formalen Demokratie hinzustellen, eine direkte theoretische Charlatanerie sind. Die Kommune war, nach den Traditionen und dem Plan ihrer leitenden politischen Partei, der Blanquisten, der Ausdruck der Diktatur der revolutionären Stadt über das ganze Land.“ (Trotzki, S. 62, 63)
Welche Charlatanerie – natürlich auf meiner Seite! Allerdings, von der Pariser Kommune von 1793 konnte man sagen, sie übe eine „Diktatur der revolutionären Stadt über das ganze Land aus“. Aber dazu gehörte, daß die Regierung und die Nationalversammlung in Paris saßen und durch Paris bestimmt wurden, daß die Dirigenten der Armee in Paris waren und daß die Landbevölkerung gegenüber dem gewaltigen, einheitlichen Paris zerklüftet und gespalten dastand.
Wie ganz anders die Situation 1871. Die Regierung, die Nationalversammlung, die Kommandanten der Armee saßen außerhalb Paris und vereinigten alle Kräfte des Landes gegen die Hauptstadt. Die achtzig Jahre kapitalistischer Entwicklung und enger Anteilnahme weiter Kreise an der Politik seit der großen Revolution, waren nicht spurlos an der Landbevölkerung vorübergegangen. Aus dem halb revolutionären, halb reaktionären chaotischen Brei 1793, war sie zu einer soliden reaktionären Masse geworden, die das ihr verheizte Paris zu erdrücken drohte. Unter diesen Umständen wäre es heller Wahnsinn gewesen, hätten die Pariser Arbeiter versucht, eine Diktatur über Frankreich aufzurichten. Keiner der Führer der Kommune, der ernsthaft zu nehmen war, dachte auch nur im geringsten daran.
Nein, die Zeiten hatten sich völlig gewandelt. Die Pariser Erhebung von 1871 galt nicht mehr dem Streben, eine Diktatur der revolutionären Stadt über das reaktionäre Land herbeizuführen, sie entsprang vielmehr der Furcht, daß der revolutionären Stadt eine Vergewaltigung durch das reaktionäre Land drohe, und diese Diktatur abzuwehren, nicht die eigene aufzurichten, war das Streben der Kommunards. Dazu hätte die Verfassung vortrefflich gedient, die von den Männern der Kommune für ganz Frankreich vorgeschlagen wurde. Sie war dagegen völlig ungeeignet, eine Diktatur der Stadt über das Land herbeizuführen.
In ihrem Bestreben, mir „theoretische Charlatanerie“ nachzusagen, haben die Lenin und Trotzki vergessen, daß ein größerer „theoretischer Charles“, Karl Marx, in seiner Schrift über den Bürgerkrieg in Frankreich darauf hinweist, daß nach dem Plan der Kommunards die „formale Demokratie“, die sie in Paris einführten, für ganz Frankreich gelten sollte:
„In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die die Kommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt es ausdrücklich, daß die Kommune die politische Form selbst des kleinsten Dorfes sein sollte ... Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war.“ (S. 47)
Wie die Diktatur der Stadt über das Land herbeigeführt werden sollte, wenn der Staatsmacht jegliche Mittel genommen wurden, die sie der Nation gegenüber überlegen machen, bleibt ein Geheimnis Lenins und Trotzkis. Bei aller frechen Charlatanerie wage ich nicht, es lüften zu wollen.
Aber nehmen wir an, es wäre ebenso richtig, wie es falsch ist, daß es im Plan der Pariser Kommunards von 1871 lag, die Diktatur der Stadt über das Land aufzurichten, was beweist das für die Sowjetrepublik? Will sie desgleichen tun? Will sie nicht aufgebaut sein auf Arbeiter- und Bauernräten? Wenn die Bolschewiks, unter Berufung auf die Pariser Kommune jetzt plötzlich die Diktatur des Proletariats als Diktatur der Stadt über das Land definieren, muß man doch zur Ansicht kommen, daß die Sowjetleute selbst nicht recht wissen, welcher Art die Diktatur sein soll, die sie anstreben.
Wendet man sich aber von der Theorie zur Praxis der angeblichen Diktatur der Stadt über das Land in Rußland, so erscheint sie in sehr eigentümlichem Lichte: Die Städte entvölkern sich, die Städter ziehen scharenweise aufs flache Land, die Diktatoren fliehen vor ihrer eigenen Diktatur und suchen Zuflucht bei den Unterworfenen und Beherrschten!
In Wirklichkeit finden wir in Rußland eben gar keine Diktatur der Stadt über das Land, sondern eine Diktatur, die über der Stadt ebenso herrscht wie über dem Land, und sie beide bedrängt. Ihren Sitz hat diese Diktatur wohl in der Stadt, aber das bewirkt bloß, daß der gröfcte diktatorische Druck in der Stadt ausgeübt wird, die den Diktatoren viel näher liegt, viel leichter überschaut werden kann und viel gefährlicher ist, weil sich dort am ehesten eine Opposition zusammenzuballen vermag.
Für den Bauern dagegen war nach seinem eigenen Sprichwort ehedem nicht bloß der Himmel hoch, sondern auch der Zar weit, und heute sind ihm auch Lenin und Trotzki und die Tschekas weit ferner als den unglücklichen Bewohnern Moskaus.
Es ist eine alte Erfahrung des orientalischen Despotismus, daß sich sein Blutregime hauptsächlich an seiner nächsten Umgebung austobt, der Bauer in seinem Dorfe dagegen lebt ungefährdet, wenn nicht gerade eine Soldatenabteilung bei seinem Hause vorbeizieht, ihn plündert und sein Weib vergewaltigt. Von der alltäglichen Diktatur merkt er nur wenig.
Trotzdem finden wir doch, wie im zivilisierten Westeuropa auch im Orient, eine große Anziehungskraft der Städte auf die Landbevölkerung. Sie findet dort weit mehr Anregungen und Möglichkeiten des Emporkommens als in der dörflichen Enge. Es muß völlige Hoffnungslosigkeit in der Stadt herrschen, bitterstes Elend, grauenhaftester Druck, wenn nicht nur der Zuzug vom Lande in sie aufhören, sondern sogar ein fühlbarer Abfluß aus ihr eintreten soll.
Wenn wir diesen Zustand jetzt in Rußland finden, so beweist das, daß die dortige Diktatur ihresgleichen in der Geschichte nicht findet – zum mindesten nicht in den letzten Jahrhunderten.
Die bolschewistische Auffassung der Diktatur ist unklar und verworren, wenn sie als Klassendiktatur, als Diktatur des Proletariats erscheinen will. Aber sie gestaltet sich klar und einfach, wenn man die Diktatur im herkömmlichen Sinne nimmt, als Diktatur einer Regierung.
Eine Regierung ist eine diktatorische dann, wenn sie unbeschränkt herrscht. Außerdem gehört es zum Wesen der Diktatur, daß sie nur als vorübergehendes Regime gedacht ist Eine unbeschränkte Regierung, die als dauernde eingerichtet ist, nennt man eine despotische.
Im alten Rom, woher die Institution und ihr Name stammt, durfte der Diktator höchstens sechs Monate im Amte bleiben. Auch die Bolschewiks haben verkündet, daß ihre Diktatur nur eine vorübergehende sein solle. Sie würde ein Ende nehmen, sobald der Sozialismus durchgeführt und gesichert sei. Leider erklärten sie selbst, daß das nicht etwa sechs Monate, sondern ein Menschenalter dauern könne. So lange dachten sie also selbst in ihrer Illusionenmaienblüte werde die Diktatur dauern. Seitdem hat Lenin gefunden, daß es so schnell nicht geht, wie er meinte, und bei dem Zustande Rußlands zunächst noch die Wiedereinführung einer Art Kapitalismus erforderlich sei. Damit ist die Durchführung des Sozialismus ins unabsehbare verschoben. Wenn nun die Diktatur mit dem Übergangsstadium zum Sozialismus untrennbar verknüpft ist, wird ihre Dauer zu einer endlosen, und ihr Charakter kommt dem des gewöhnlichen Despotismus bedenklich nahe.
Der Despotismus bildet den Höhepunkt im Kampf der Staatsmacht gegen die primitive Demokratie. Kapitalistische Industrie und kapitalistischer Verkehr mit ihrem Gefolge von wachsendem, erstarkendem Proletariat und steigender Intelligenz der Massen unterwühlen ihn unaufhaltsam. Nur in den rückständigsten Gegenden kann er sich heute noch halten. Der sprichwörtliche orientalische Despotismus ist sehr ins Wanken geraten.
Unaufhaltsam marschiert die Demokratie vorwärts, erringt und vermehrt sie eine Freiheit nach der andern. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist die Sicherung der Minderheiten und der Einzelpersönlichkeit gegen Vergewaltigung durch Organe der Staatsgewalt.
Für diesen Prozeß ist Trotzki blind. Für ihn existiert nur absolute Unfreiheit oder absolute Freiheit auf allen Gebieten. Daß das Proletariat und die unteren Klassen imstande sind, noch vor der völligen Durchführung des Sozialismus den großen Herren und Ausbeutern einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen, ihr Belieben einzuschränken, sie selbst zu erziehen, davon scheint er keine Ahnung zu haben. Er meint:
„Um das Individuum heilig zu machen, muß das gesellschaftliche Regime abgeschafft werden, das dieses Individuum ans Kreuz schlägt. Diese Aufgabe aber kann nur durch Eisen und Blut erfüllt werden.“ (S. 48)
Bürgerkrieg und Terrorismus, endlose Menschenschlächtereien sind für Trotzki der Weg, Respekt vor dem Menschenleben zu erwecken und zu vertiefen. In der Tat, die Wege des Herrn sind wunderbar.
In Wirklichkeit sind die ökonomischen Bedingungen, welche die Demokratie hervorrufen, dieselben, die mit ihr auch den Respekt vor der menschlichen Persönlichkeit schon vor dem Sozialismus durch die Rückwirkungen des Kapitalismus erzeugen.
Doch gibt es auch Gegenwirkungen, die zeitweise so stark werden, daß die bürgerlichen Freiheiten mehr oder weniger eingeschränkt oder gar ganz aufgehoben werden. Da dies im modernen Staate nie ein dauernder Zustand werden kann, kann man solche Stadien wohl als diktatorische bezeichnen, obwohl diese Bezeichnung meist übertrieben sein wird.
Namentlich der Krieg, der alte Feind jeglicher Demokratie, führt stets zu einer Art Diktatur. Doch in keinem modernen Staate mehr zu der völligen Schrankenlosigkeit des Despotismus. In Deutschland, ebenso wie in Frankreich und England fuhr das Parlament fort, während des Krieges zu tagen und die Häupter der Opposition wurden höchstens in Schutzhaft gesetzt. Das Erschienen der gefangenen Gegner blieb dem Bürgerkrieg vorbehalten.
Aus den Praktiken des Bürgerkrieges schliefet man vielfach, daß auch die Revolution ebenso wie der Krieg den Terror und die Diktatur einer starken rücksichtslosen Zentralgewalt fordere. Diese Anschauung ist jedoch sehr irrig.
Im Gegensatz zu Kriegsregierungen sind Revolutionsregierungen in der Regel sehr schwach. So war es die Kerenskiregierung 1917 in Rußland, so die Regierung der Volksbeauftragten 1918 in Deutschland, so die provisorischen Regierungen von 1848, so auch die Regierungen der französischen Revolution von 1789 – 1792.
Das ist kein Zufall und nicht etwa der Schwächlichkeit einzelner Personen oder Parteien zuzuschreiben, sondern liegt in der Natur der Dinge. Eine Revolution ist die Folge des Zusammenbruchs eines alten Herrschaftsapparats. Ein neuer kann nicht sofort geschaffen und zu kräftigem Funktionieren gebracht werden. Ohne solchen Apparat schwebt aber eine Regierung in der Luft und ist weniger als eine andere zu diktatorischem Auftreten fähig.
Wir haben oben eine Stelle aus der Ansprache der Zentralbehörde an den Kommunistenbund vom März 1850 zitiert, in der es hieß:
„Wie in Frankreich 1793, ist heute in Deutschland die Durchführung der strengsten Zentralisation die Aufgabe der wirklich revolutionären Partei.“
Dazu bemerkt 1885 Friedrich Engels:
„Es ist heute zu erinnern, daß diese Stelle auf einem Mißverständnis beruht. Damals galt es – dank den bonapartistischen und liberalen Geschichtsfälschern, als ausgemacht, daß die französische zentralisierte Verwaltungsmaschine durch die Revolution eingeführt und namentlich vom Konvent als unumgängliche und entscheidende Waffe bei Besiegung der royalistischen und föderalistischen Reaktion und des auswärtigen Feindes gehandhabt worden sei. Es ist jetzt aber eine bekannte Tatsache, daß während der ganzen Revolution bis zum 18. Brumaire die gesamte Verwaltung der Departements, Arrondissements und Gemeinden aus, von den Verwalteten selbst gewählten Behörden bestand, die innerhalb der Staatsgesetze sich mit vollkommener Freiheit bewegten; daß diese, der amerikanischen ähnliche, provinzielle und lokale Selbstregierung gerade der allerstärkste Hebel der Revolution wurde.“ (Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln, neuer Abdruck, Zürich 1885, S. 82)
Namentlich gilt dies für die Zeit von 1789 bis zum Ausbruch des Krieges, 1792. Bis dahin fehlt nicht nur eine zentralisierte Verwaltungsmaschine, sondern auch eine starke, straff disziplinierte Armee, also jedes Mittel für die Regierung, diktatorische Gewalt auszuüben. Die große Wucht der revolutionären Bewegung wurde nicht durch die Aktion einer unwiderstehlichen Regierung hervorgerufen, sondern entsprang daraus, daß die große Masse der Bevölkerung sich einmütig in gleicher Richtung bewegte, gegen die feudalen Privilegien und die königliche Macht. Diese Wucht der Revolution hatte wohl etwas diktatorisches an sich, aber da sie von der Masse der Bevölkerung ausging, war sie nicht unverträglich mit der Demokratie, sondern fand vielmehr in ihr die ihr am besten entsprechenden Formen für ihre Betätigung. Wohl wurde die Demokratie zeitweise durchbrochen durch Insurrektionen und Gewalttaten. Diese dienten entweder der Verteidigung der Demokratie, wie der Bastillesturm, oder dem raschesten Zerstören alter Bedrückungsmechanismen. Der Neuaufbau entsprang nicht den Gewalttaten, sondern der Demokratie, und wäre ohne sie unmöglich gewesen.
Indes, die schöne Zeit der Revolution, in der die große Mehrheit der Volksmasse froh des überwundenen Druckes einträchtig nach Neuem strebt, dauert nie lange. Bald machen sich im Volke Klassenunterschiede und Klassengegensätze geltend. Diese wurden 1792 sehr verschärft, als die französische Republik in Krieg mit dem monarchistischen Europa geriet. Gleichzeitig aber wurde durch ihn die Staatsgewalt ungemein gestärkt. Freilich wurde nicht sobald die Staatsverwaltung zentralisiert, wohl aber seit 1792 das Heer vermehrt und wieder neu diszipliniert, daneben aber auch ein System politischer Polizei entwickelt. Damit erst wurde die Möglichkeit einer Art Diktatur gegeben. Zunächst waren es die Proletarier und Halbproletarier von Paris, die sich in ihren Sektionen organisierten und durch den Druck ihrer bewaffneten Scharen, der zeitweise die Form der Insurrektion annahm, Regierung und Parlament beherrschten und durch diese die Armee gegen den äußeren wie gegen den inneren Feind dirigierten.
Diese Zustände hatte man vor allem im Auge, wenn man von der Diktatur des Proletariats sprach. Aber sie kennzeichnen keineswegs die gesamte Revolution, sondern nur die Zeit ihres Ausgangs. Die Waffen, die sich das Regime der Schreckensmänner schmiedete, kehrten sich schließlich gegen ihre eigene Herrschaft, sobald die Proletarier ermüdeten und die Armee genügend diszipliniert war, daß sie sich gegen den noch kampflustigen Teil der Pariser Radikalen verwenden ließ. Die Diktatur hat Frankreich zum Siege, aber die Revolutionäre zu ihrem Untergang geführt.
Die Erhebungen von 1848 und 1871 erzeugten in keiner Weise diktatorische Formen. Die Diktaturen, die an ihrem Ende standen, waren von vornherein solche der Gegenrevolution, des siegreichen Militärs.
Wie in den früheren Revolutionen, waren auch 1917 in Rußland, 1918 in Deutschland die Regierungen, wie schon bemerkt, nichts weniger, als von diktatorischer Kraft. Was damals unwiderstehlich wirkte, war wie 1789 die Wucht der Massen, die diesmal ihren vornehmsten Ausdruck fand in den Arbeiterräten. Die Proletarier standen diesmal von Anfang an an der Spitze der Bewegung, gaben ihr Schwung und Richtung. In den Arbeiterräten von 1917 und 1918 zeigte sich anfangs die revolutionäre Kraft ebenso gewaltig, wie 1789 in den Kommunen Frankreichs.
Aber eine Diktatur der Arbeiter erstand daraus in Deutschland nicht und konnte nicht entstehen. In Frankreich folgte 1792 der Krieg der Revolution, die drei Jahre vorher ausgebrochen war. In Deutschland folgte die Revolution einem vierjährigen Kriege. Die Revolution hatte in Frankreich die unteren Klassen gekräftigt und in machtvollen Organisationen vereinigt, vor allem im Klub der Jakobiner. Der Krieg hatte in Deutschland das Proletariat erschöpft und gespalten. In Frankreich waren 1792 die Bauern uneinig, halb für die Revolution, halb für die Reaktion gewonnen. In Deutschland waren sie 1918 geschlossen reaktionär und vortrefflich organisiert.
Unter diesen Umständen mußte jeder Versuch, die Diktatur einer revolutionären Minderheit über die Mehrheit aufzurichten, von vornherein als heller Wahnsinn erscheinen. Die proletarischen Parteien hatten nur Aussicht, sich zu behaupten und den Vormarsch zum Sozialismus anzutreten, wenn es ihnen gelang, sich zu einer einheitlichen Front zusammenzuschließen und die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen. Die demokratische Republik zu sichern, das ist die wichtigste Aufgabe der Revolutionäre geworden.
Das wäre diesen auch von Anfang an völlig klar gewesen, wenn nicht das Beispiel Rußlands sie verwirrt hätte. Dort erstand aus der Revolution seit dem Herbst 1917 eine Diktatur, wie sie zentralisierter, umfassender, unumschränkter die Welt noch nicht gesehen hat. Diese Diktatur wurde nicht als ein Ausnahmefall angesehen, der einer außerordentlichen Situation entsprang, sondern als die Form, die jedes revolutionäre Regime naturnotwendig annehmen müsse.
Wie wenig das stimmt, haben wir eben gesehen.
Woher rührt aber die Diktatur in Rußland und was erreicht sie?
Die Form, welche die revolutionäre Diktatur in Rußland angenommen hat, hängt eng zusammen mit der Eigenart nicht nur Rußlands, sondern auch der bolschewistischen Partei. Um diese zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen und wieder zur Schreckensherrschaft von 1793 zurückgreifen.
In ihr hatten zum erstenmal in der Weltgeschichte die unteren, proletarischen oder dem Proletariat nahestehenden Klassen einen modernen Großstaat beherrscht. Die Wiederherstellung dieses proletarischen (Heldenzeitalters wurde das Ziel der Sehnsucht der Vorkämpfer der Ausgebeuteten und Unterdrückten.
Aber wie es erreichen? Das souveräne Mittel der Pariser Sektionen war der bewaffnete Aufstand gewesen. Einen solchen Aufstand der unteren Klassen herbeizuführen, wurde als die wichtigste Aufgabe der Revolutionäre angesehen. Aber woher hatte der Aufstand seine unwiderstehliche Kraft genommen? Daher, daß die Pariser Massen in wildester revolutionärer Erregung waren, so daß sie sich in großer Zahl und kraftvollem Ungestüm auf den Gegner warfen, der gering an Zahl und ohne überlegene Bewaffnung war. Als die ewige Erregung die Massen ermüdete und ihnen eine überlegene Armee entgegentrat, versagte das Mittel des Aufstandes.
Die Nachfahren der Schreckensmänner von 1793 und ihrer kraftvollsten Organisation, des Jakobinerklubs, fanden eine starke Regierung vor, die über eine zuverlässige Armee verfügte. Dabei aber ging das Einerlei des Produktionsprozesses seinen Gang für die arbeitenden Klassen, durch keine gewaltsamen Ereignisse unterbrochen, die hätten aufrüttelnd wirken können. Die stumpfe Altäglichkeit ließ keinen Sturm und Drang in den Massen aufkommen.
Diese Verhältnisse hätten jeden Gedanken an Aufstand ersticken müssen, wenn nicht der Gegensatz zwischen der stoßen Vergangenheit und der trostlosen Gegenwart immer wieder aufstachelnd gewirkt hätte. Doch waren es in der Regel nur wenige, besonders kühne oder besonders phantastische, zu Illusionen veranlagte Persönlichkeiten, die sich dazu gedrängt fühlten, immer wieder den Versuch eines Aufstandes zu unternehmen.
Es gehörte dazu der Glaube, daß die Masse immer geneigt sei, sich zu empören, daß es nur an dem Anstoß fehle, wenn sie ruhig bleibe. Die Aufrührer merkten nicht den fundamentalen Unterschied zwischen 1793 und später: damals hatten die Massen selbst zum Aufstand gedrängt. Nun mußten sie dazu gedrängt werden.
Das Mißverhältnis in der Bewaffnung war zu offenbar, als daß sie es hätten übersehen können. Doch hoffte man es überwinden zu können, dadurch, daß die Aufrührer den Aufstand vorbereiteten, Waffen ansammelten, überraschend losbrachen, also das Militär überrumpelten, es unsicher machten, durch ihre Anfangserfolge die Massen mit sich fortrissen und durch deren Wucht die schwankenden Soldaten entweder zu sich herüberzogen oder doch einschüchterten.
Alles das setzte eine geheime Organisation voraus, eine Verschwörung zur Veranstaltung von Putschen.
Die erste derartige Verschwörung tauchte schon 1796 auf, es war der von Babeuf begründete Geheimbund der „Gleichen“, der entdeckt und mühelos im Blute seiner Begründer erstickt wurde (1797).
Doch gelang es einigen Mitgliedern der Verschwörung sich zu retten. Sie blieben ihrer Überzeugung treu und waren nicht wenig daran beteiligt, daß der Gedanke, Aufstände zum Umsturz der Regierung und zur Eroberung der politischen Macht in Geheimgesellschaften vorzubereiten, nicht ausstarb und immer wieder Anhänger fand.
Die Pariser Verschwörungen, die die Politik des Jakobinerklubs, freilich auf sehr veränderter Basis fortsetzen, wollten, erhielten Anregungen durch gleichzeitige Verschwörungen in Italien, die nationalen Interessen dienten, und nach dem Sturz Napoleons auf den Sturz der Habsburger und ihrer Verbündeten hinarbeiteten. Die „Carbonari“ wurden die Vorbilder für ähnliche Verbindungen in Paris, wo sie jedoch immer mehr sozialistischen Charakter annahmen, bis in der Zeit von 1830 bis 1848 die Geheimbünde, zeitweise unter Blanquis Führung, wachsenden Einfluß auf das proletarische Denken in Frankreich gewannen, trotz aller Niederlagen, in denen die gelegentlich hervorgerufenen Putsche endigten.
In der Verschwörung wurde ein eigenartiger Typus des Revolutionärs erzeugt. Zum Gelingen der Verschwörung war strengste Geheimhaltung notwendig, aber auch eine eiserne Disziplin. Das Mitglied durfte seine Oberen nicht kennen. Das leitende Komitee wurde nicht von den Mitgliedern erwählt, sondern es setzte sich selbst ein, bestimmte seine Helfer und diese warben Mitglieder, denen das Komitee verborgen blieb, damit keiner es verraten könne. Blinder Gehorsam gegenüber einer unbekannten, unkontrollierbaren Leitung, das war die erste Bedingung für jedes Mitglied der Verschwörung. Ebenso wichtig wurde eiserne Willenskraft und Rücksichtslosigkeit. Der Verschwörer setzte stets sein eigenes Leben aufs Spiel, er mußte in jedem Moment bereit sein, fremde Menschenleben zu opfern, die die Sache gefährdeten. Nicht notwendig dagegen waren politische und soziale Klarheit und Einsicht. Die brauchte bloß das leitende Komitee, in dessen Hände die Mitglieder der Verschwörung ihr Schicksal legten. Kritischer Sinn wurde direkt verpönt, denn Diskussionen und Streitigkeiten im Schoße der Geheimgesellschaft oder gar Zweifel an der Weisheit der Führung konnte man absolut nicht brauchen. Die Parole der Verschwörer mußte sein: Alles oder nichts. Wenn ihnen bei dem ersten Versuch offener Aktion nicht der völlige Umsturz der Regierung gelang, harrte ihrer der Tod. Ein schrittweises Vorwärtskommen war für sie unmöglich. Beim ersten Sprung mußten sie ihr Opfer fällen oder untergehen.
Das war die Psychologie der Verschwörer, und die Verschwörung war die einzige Form der Opposition für die zum Kampf entschlossenen Teile des Proletariats auf dem Festlande Europas nach dem Zusammenbruch der französischen Schreckensherrschaft bis in die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein.
Doch spielten die Proletarier in den meisten Verschwörungen nicht die entscheidende Rolle. Mindestens ebenso sehr wie Industriearbeiter waren Intellektuelle an ihnen beteiligt, vornehmlich Studenten und Advokaten ohne Klienten, Ärzte ohne Patienten, Journalisten ohne Leser usw., kurz Bohemiens aller Arten. Die Studenten, hauptsächlich aus der Bourgeoisie stammend, reproduzieren stets deren Politik, aber, weil noch nicht durch Erfahrungen gewitzigt, durch geschäftliches Tun abgelenkt, durch Familiensorgen zur Vorsicht gemahnt, mit überschäumendem Radikalismus. Sie bilden heute in Deutschland den wildesten Teil der Deutschnationalen, sie waren in Frankreich, solange dessen Bourgeoisie oppositionell war, stark revolutionär gesinnt und lieferten viele Verschwörer. Für die meisten wurde das nur ein kurzes Übergangsstadium, ein jugendlicher Sport, den man aufgab, als man Würden und Ämter bekam. Aber manche blieben in dem Treiben hängen und wurden zu Verschwörern von Beruf.
So unzureichend das Wissen der meisten dieser Intellektuellen sein mochte, sie waren darin den Arbeitern in der Regel überlegen und fühlten sich als deren geborene Führer.
Viel unabhängiger von dieser Führung war eine andere Form der proletarischen Opposition, die sich in England bildete, wo eine offene Bewegung und Organisation der Massen bessere Vorbedingungen fand. Die Bedeutung der Chartisten und der Gewerkschaften wurde früh von Marx und Engels erkannt, die ebenso durch diese Organisationen und Bewegungen, wie durch das Studium der französischen Revolution und ihrer Vorläufer zur Erkenntnis des Klassenkampfes kamen. Nach dieser Erkenntnis entspringen die großen Kämpfe des Proletariats aus den sozialen Bedingungen, unter denen es lebt. Und nur solche proletarische Kämpfe können historische Bedeutung bekommen, die spontan aus den vorhandenen sozialen Gegensätzen entspringen. Aufgabe der Vorkämpfer des Proletariats, der Sozialisten, ist es nicht, es durch ihre Initiative zu Kämpfen zu drängen, sondern nur, den Proletariern in ihrem, den Verhältnissen entspringenden Ringen, Einheitlichkeit und Planmäßigkeit zu verleihen, also sie aufzuklären über das Wesen der Gesellschaft, über die Aufgaben, die sie ihnen stellt, die Mittel zur „Lösung der Aufgaben, die sie ihnen bietet, und ihre Kräfte zu organisieren und zu konzentrieren auf das jeweilig Notwendige und Erreichbare.
Massenorganisation und Massenagitation waren von diesem Standpunkt aus unentbehrlich. Beide waren nicht erreichbar durch Geheimbündelei, sondern nur auf legalem Boden. Jede Möglichkeit eines solchen, wie gering sie sein mochte, mußte ausgenutzt werden.
Von den Fähigkeiten der Massen hing ihre eigene Befreiung ab. Kein diktatorisch waltendes Komitee konnte ihnen diese Fähigkeiten beibringen, sie mußten sie selbst erwerben. Die Sozialisten hatten dabei zu helfen, das besagte aber, daß für sie Wissen und Klarheit zu den ersten Bedingungen gehörten. Klarheit war nicht zu erreichen ohne Diskussion, und die Fähigkeiten der Selbstbefreiung nicht ohne die Gewohnheiten der Selbstverwaltung, also der Demokratie.
Auch dort, wo die Demokratie im Staate noch nicht erreichbar war und die Möglichkeiten offener Organisation und Propaganda noch nicht bestanden, wo die Arbeiter sich nur geheim zu organisieren vermochten, mußten diese Organisationen von dem neuen, marxistischen Standpunkte aus nicht diktatorisch, sondern demokratisch mit den Möglichkeiten ausgiebiger Diskussion eingerichtet sein.
Als Marx und Engels zu dieser Auffassung kamen, waren sie zunächst noch insofern in den jakobinischen Vorstellungen befangen, als sie die Befreiung des Proletariats wohl von seiner Selbsttätigkeit, seiner Massenorganisation und Massenaktion abhängig machten, dabei aber doch annahmen, daß die Revolutionäre als Minderheit im Staate die politische Macht erobern und sich dienstbar machen könnten.
Diese Auffassung haben sie erst später aufgegeben. Aber von vornherein traten sie der Putschmacherei durch Verschwörungen entgegen. Unter ihrem Einflüsse legte der Bund der Kommunisten, der seit 1840 als Nachfolger des Bundes der „Gerechten“ eine Verschwörergesellschaft gewesen war, allmählich die Verschwörungsformen ab, und als er ihnen vollständig entsagte, 1847, traten Marx und Engels ihm bei.
Doch fand der Gegensatz der neuen Auffassung des Klassenkampfes zum alten Blanquismus zunächst noch keine Gelegenheit, sich zu entfalten. Der Sturm des Jahres 1848 ging rasch vorüber und in den Jahren der Reaktion lag lange jede Art proletarischer Betätigung darnieder.
Aber als die erste Internationale aufkam, zeigte sich bereits der Gegensatz der beiden Methoden. So sehr das französische Kaiserreich jede proletarische Bewegung unmöglich zu machen suchte, es sah sich doch gezwungen, den Gewerkschaften ein klein bißchen Bewegungsfreiheit einzuräumen. Das benutzten die Internationalisten, in Frankreich zuerst vornehmlich Anhänger der Lehre Proudhons, die alle Kraft auf die Gründung von Gewerkschaften aufwandten. Die Blanquisten denunzierten das den revolutionären Arbeitern als ein Paktieren mit dem Kaiserreich, als einen Verrat an der Revolution. Ja, es hat eine Zeit gegeben, wo diese Anklage gegen Marx selbst erhoben wurde.
Die Verschwörer kannten eben, wie schon bemerkt, nur die Losung: Alles oder nichts. Jede legale Betätigung der Massen war ihnen ein Dorn im Auge, weil sie deren Interesse von der illegalen Tätigkeit abzulenken drohte. Und wenn die Anhänger der offenen Massenorganisation sich hüteten, ohne Not die Reaktion zu provozieren und dadurch die Möglichkeiten offener Massenbetätigung einzuengen, so lag den Verschwörern daran nicht das mindeste. Je größer die Reaktion, desto mehr blieb den Arbeitern nichts anderes übrig, als die Verschwörung. Die Blanquisten hielten sich angesichts dieser Gegensätze lange von der Internationale fern, die Marxscher Geist durchwehte. Auf die Dauer vermochten sie sich jedoch selbst nicht dem Einfluß der neuen Verhältnisse zu entziehen. Der Verschwörertypus trat bei ihnen immer mehr zurück, sie näherten sich dem Marxschen Standpunkt immer mehr und traten der Internationale bei. Ja, bei deren Ende waren sie es, die den Marxschen Standpunkt verteidigten gegenüber dessen Gegnern, unter denen jetzt die Proudhonisten zu finden waren, die ihrerseits eine Wandlung durchgemacht hatten unter dem Einfluß des russischen Verschwörertums.
Um dieselbe Zeit, in der nach der Reaktion, seit 1849 im Westen zuerst wieder die, wenn auch bescheidenen Möglichkeiten öffentlicher Massenorganisationen und öffentlicher sozialistischer Tätigkeit erstanden, traten im russischen Reiche die ersten stärkeren Regungen der Selbstbetätigung der Gesellschaft auf, die jedoch im Polizeistaat kaum die Möglichkeit öffentlicher Kundgebung fanden. Was an energischen Oppositionselementen den Verfolgungen der Polizei entging, konnte im Lande nur bleiben und weiter wirken auf unterirdischen Wegen. So bildete sich nun in Rußland der Verschwörertypus, in dem der Rückständigkeit des Landes und der größeren Grausamkeit der Unterdrückung entsprechend die Merkmale des Verschwörertums noch schroffer zutage traten, als in Frankreich und Italien.
Die auffallendste Persönlichkeit dieser Art war damals Netschajeff.
Axelrod kennzeichnet ihn folgendermaßen:
„Netschajeff war einer der hervorragendsten Vertreter der revolutionären Bewegung Rußlands im siebenten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts. Diese Bewegung war damals erst im Entstehen und umfaßte hauptsächlich, ja fast ausschließlich, die Jugend der Hoch- und Mittelschulen Petersburgs, Moskaus und anderer Universitätsstädte.
„Mit eisernem Willen und unbeugsamer Energie begabt, schreckte Netschajeff vor keinem Mittel zurück, um diese jugendlichen Elemente als lebendes Material und blindes Werkzeug für seine revolutionären Ziele zu benutzen. Jedes Mittel schien ihm gerechtfertigt, das seinen Zwecken djente. Er griff zur Lüge, zum Betrug, zur Verleumdung solcher Revolutionäre, deren Einfluß auf die radikalen und demokratischen Intellektuellen er fürchtete; ja er scheute nicht zurück vor der moralischen und politischen Ruinierung, ja selbst der Ermordung einflußreicher Intellektueller, die ihm bei seinem Streben nach unbeschränkter Diktatur über die Revolutionäre in den Weg traten.“ (Observation sur la tactique des socialistes dans la lutte contre le bolchewisme, Paris 1921, S. 6 und 7 Note.)
Eine Zeitlang kam auch Bakunin unter den Einfluß Netschajeffs. Aus dieser Zeit stammt eine an die russischen Offiziere gerichtete Proklamation vom Januar 1870, gezeichnet Michael Bakunin.
Dort wird von der bevorstehenden Revolution gesprochen – für die Verschwörer ist die Revolution immer bevorstehend, denn sie haben keine Zeit zu warten. Eine geheime Organisation sei nötig, die Revolution zu leiten.
„Wer kein Tor ist, wird begriffen haben, daß ich von einer vorhandenen und in diesem Augenblick tätigen Organisation sprach, die in ihrer Disziplin, in der leidenschaftlichen Hingebung and Selbstverleugnung ihrer Mitglieder und in dem blinden Gehorsam gegen ein einziges allwissendes, doch von niemand gekanntes Comite ihre Stärke findet.
Die Mitglieder dieses Comités haben vollständig auf ihre eigene Persönlichkeit Verzicht geleistet; das gibt ihnen das Recht, von allen Mitgliedern der Organisation eine gleiche, absolute Entsagung zu verlangen ...
Wie die Jesuiten, aber nicht zum Zwecke der Knechtung, sondern der Emanzipation des Volkes, hat jeder von ihnen selbst auf den eigenen Willen verzichtet.“
Bakunin darf jedoch nicht mit Netschajeff identifiziert werden. Er war stärker als dieser von Westeuropa beeinflußt. Nicht alle Elemente der Opposition, die in Rußland aufgekommen waren, blieben dort. Viele flohen und bildeten eine Emigration, die russischem Fühlen und Denken treu blieb, aber doch dem Einfluß des Westens sich nicht entziehen konnte. Durch die Verhältnisse ihres Heimatlandes zum schroffsten Widerstand gegen alles Bestehende aufgestachelt, war ihnen nichts revolutionär genug. Den radikalsten Bewegungen schlössen sie sich am liebsten an. Obwohl die Verhältnisse Rußlands eben erst für eine bürgerliche Revolution reiften, wurden die russischen Emigranten mit Vorliebe Sozialisten. Einer der hervorragendsten unter ihnen war Bakunin, der schon 1840, mit 26 Jahren, nach Berlin gekommen und seitdem fast ausschließlich in Westeuropa gelebt hatte, mit Ausnahme des Jahrzehnts von 1851-1861, das er in Rußland verbrachte, zum Teil im Gefängnis, zum Teil in Sibirien. Westeuropa hatte also an seiner Bildung ungefähr ebenso großen Anteil wie Rußland.
Er blieb auch im Ausland den russischen Verschwörermanieren treu. Im Jahre 1864 gründete er eine geheime Gesellschaft, die „Allianz der revolutionären Sozialisten“, während er in Italien weilte, dem Vaterland der Carbonari.
In demselben Jahre aber erstand in England die „Internationale“. Als sie eine Macht geworden war, 1868, schloß sich Bakunin ihr an. In ihr kam er in engste Verbindung mit den Anfängen offener Massenbewegungen und Massenorganisationen.
In Frankreich hatten sie unter dem Einfluß des Proudhonismus den Charakter unpolitischer, gewerkschaftlicher Bewegungen angenommen. Damit mochte sich Marx abfinden, solange das Kaiserreich eine erfolgreiche politische Tätigkeit nicht erwarten ließ. Aber bereits kämpften in England und Deutschland die Arbeiter um das allgemeine Wahlrecht, lange konnte der Kampf zwischen dem Proudhonismus, der jedem Kampf um die Staatsgewalt abhold war, und dem Marxismus, der den Klassenkampf als politischen Kampf betrachtete, nicht ausbleiben.
Bakunin stand dem Marxismus ablehnend gegenüber durch seine Verschwörermanieren. Er verstärkte noch diesen Gegensatz, indem er dort, wo er mit der Massenbewegung zu rechnen hatte, ihren unpolitischen Charakter unterstützte.
Er versuchte eine Bastardierung von Proudhonismus und Blanquismus. Er entnahm dem ersteren die Idee der Anarchie, vergröberte sie aber im Sinne völliger Ungebundenheit einer wild erregten, aufgepeitschten, zu jeder Zerstörung bereiten Volksmasse. Doch die Leitung dieser unorganisierten, chaotischen Masse sollte durch die streng disziplinierte Verschwörung einer kleinen Minderheit in die Hand genommen werden, die sich selbst zum Diktator über die Gesamtbewegung einsetzte.
Diese Auffassung wurde noch gefördert dadurch, daß in den Verschwörungen Rußlands, wie Italiens und Frankreichs die Intellektuellen dominierten, die von vornherein eine gewisse Überlegenheit über die noch ungebildete Masse besaßen.
So entwickelte das Auftauchen Rußlands in der Internationale die Ansatzpunkte zu einem neuen Typus der Verschwörung.
Der neue Typus kennzeichnete sich dadurch, daß der Geheimbund eine Verschwörung nicht bloß gegenüber den Regierungen, sondern auch gegenüber den Parteigenossen darstellte, die er leiten wollte, ohne daß sie es merkten. Außerdem unterschied er sich vom Blanquismus dadurch, daß die Verschwörer des einen Rußland sich herausnahmen, die Proletarier aller Länder zu dirigieren, und zwar auf Grund von Denkweisen und Erfahrungen des rückständigsten Landes.
Das konnte Marx nicht ruhig hinnehmen. Schon am 29. April 1870 hatte Engels ihm geschrieben:
„Eine kostbare Zumutung, daß, um Einheit ins europäische Proletariat zu bringen, es russisch kommandiert werden muß.“ (Briefwechsel, IV., S. 275)
Es kam zum Kampf zwischen Bakunin, dem Vertreter der Diktatur wie der Anarchie in der sozialistischen Bewegung, und Marx, der im Namen des von den Mitgliedern erwählten Generalrats die Sache der Demokratie in der Partei vertrat. In diesem Kampf ging die Internationale zugrund, die erste, aber leider nicht die letzte blühende Organisation des Proletariats, die dem Streben nach Diktatur erlag.
Als 1889 wieder eine neue Internationale erstand, fand sie eine gänzlich geänderte Situation vor. Der Marxismus hatte auf der ganzen Linie gesiegt, der Blanquismus (im alten Sinne) und der Anarchismus waren völlig abgetan, der Blanquismus als Verschwörung verschwunden, der Anarchismus auf winzige Minoritäten beschränkt.
Selbst in Rußland hatte sich der Marxismus durchgerungen, trotz der enormen Hindernisse, die ihm dort ökonomische wie politische Rückständigkeit bereitete. Die ökonomische Rückständigkeit sagte dem Marxisten, daß Rußland noch weit von der Reife für ein sozialistisches Gemeinwesen sei. Diese Rückständigkeit begünstigte bei dem ungeduldigen Teil der Sozialisten eine unmarxistische Denkweise, die in der Eigenart des russischen Bauern bessere Vorbedingungen des Sozialismus sah, als in einem entwickelten industriellen Kapitalismus mit starkem Proletariat, die beide in Rußland noch fehlten.
Auf der andern Seite ließ der Mangel an jeglicher politischen Freiheit immer wieder Verschwörungen auftauchen. Wohl stellte sich die Hoffnungslosigkeit jedes Putsches heraus. Doch machte das den Verschwörungen kein Ende, sondern gab ihnen blofc eine andere Richtung. An Stelle des Putsches fing man an, den individuellen Terror zu praktizieren. Der Typus des Verschwörers, der sich unter diesen Umständen entwickelte, war weit sympathischer als der Netschajeffs. Der individuelle Terror, das Attentat, bedarf keines so ausgedehnten Apparates, wie der Putsch. Einige wenige Menschen, ja selbst ein Vereinzelter, waren schon imstande, eine solche Tat zu begehen. Das entwickelte den Opfermut des einzelnen zur Heldengröße, dagegen beseitigte es jede Notwendigkeit einer Diktatur innerhalb der Organisation. Man bedurfte nicht mehr des blinden Gehorsams der Mitglieder gegenüber ihnen unbekannten Oberen, und da in so kleinen Zirkeln von Genossen, die einander aufs beste kannten, der Unterschied zwischen Kommandierenden und Kommandierten aufgehoben war, konnte sich auch nicht jene berechnende Kälte mancher Verschwörungschefs entwickeln, die in den Mitgliedern nur Kanonenfutter sieht, das unbedenklich vom Chef geopfert werden darf. Nicht andere, nur sich selbst lieferten die Helden jenes Terrors auf die Schlachtbank.
So sympathisch, ja begeisternd jene Aktionen wirkten, sie waren ebenso verurteilt, unfruchtbar zu bleiben, wie die Versuche, auf die Bauernschaft eine revolutionäre Bewegung zu begründen.
Eine feste Basis für Massenbewegungen erstand in Rußland erst mit der Entwicklung seiner Industrie und dem Erstarken seines Proletariats.
Damit bildeten sich die Bedingungen für den Marxismus auch in Rußland, der aufkam, nachdem sowohl das „Gehn ins Volk“ als der individuelle Terror ihre Unwirksamkeit dargetan hatten. Nachdem schon in der Mitte der siebziger Jahre die Anhänger Lawroffs versucht hatten, eine sozialistische Bewegung unter den städtischen Arbeitern zu entwickeln, entfalteten 1880 Plechanoff, Axelrod und Vera Sassulitsch das ausgesprochen marxistische Banner. Im Jahre 1883 gründeten die drei im Bunde mit L. Deutsch in der Schweiz die Gruppe der Befreiung der Arbeit. Doch erst in den neunziger Jahren gelangte diese zu Bedeutung. Nachdem sich schon in einzelnen Städten sozialdemokratische Arbeiterorganisationen gebildet hatten, kam es 1898 zum ersten Kongreß der Vertreter dieser Organisationen und zur Konstituierung der sozialdemokratischen Partei Rußlands. Unter ihren Vorkämpfern traten aus der jüngeren Generation besonders hervor Martoff und Lenin.
Welche Kraft die russische Sozialdemokratie bald erlangte, zeigte sich 1907 bei den Wahlen zur 2. Duma. Die Sozialdemokraten eroberten damals 69 Mandate, die Sozialrevolutionäre, die den Sozialismus vornehmlich auf die Bauernschaft stützen wollten und den individuellen Terror begünstigt hatten, nur 37.
Und doch war damals die Sozialdemokratie Rußlands bereits tief zerklüftet.
Wir haben schon gesehen, daß die Verhältnisse in Rußland dem Marxismus nicht günstig waren. Er wurde dort nicht von den Verhältnissen getragen. Wohl wurde es in Rußland mehr als anderswo Mode, sich auf Marx zu berufen, aber wirklich marxistisch zu denken, erforderte dort eine größere geistige Anstrengung und einen größeren Hunger nach Wahrheit, auch wenn sie unbequem sein mochte, als im kapitalistisch entwickelten Westen.
Das Aufkommen der proletarischen Massenbewegung machte bei dem Fehlen jeglicher politischen Freiheit die geheime Organisation nicht überflüssig, sondern vermehrte nur bedeutend ihre Aufgaben. Die geheime Organisation der Sozialdemokraten wollte keine blanquistische sein, nicht Putsche hervorrufen, sondern im Marxschen Sinne nur dazu dienen, Einheitlichkeit und Einsicht in die proletarische Massenbewegung zu bringen. Sie wollte auch nicht, wie der Bakunismus, die Entfesselung der Volksleidenschaften im Sinne der Anarchie. Die Gewinnung der Demokratie war ihr nächstes Ziel.
Doch hatten die geheimen Organisationen der russischen Sozialdemokratie mit den blanquistischen und bakunistischen Verschwörern das gemein, daß sie sich in der Mehrzahl aus Intellektuellen rekrutierten und daher der unwissenden Masse mit der Überlegenheit des Gebildeten gegenübertraten. Von vornherein durften sie sich als die gegebenen Führer des Proletariats fühlen. Dazu kam, daß die neuen Geheimorganisationen jetzt umfangreicher urden, als die früheren. Die Partei brauchte immer mehr Kräfte und gewann auch die Mittel, sie zu erhalten. Daraus erstand aber bei dem geheimen Charakter der Bewegung der Typus des berufsmäßigen Geheimbündlers.
Unter diesen Umständen bildeten sich wieder die Bedingungen für ein Verhältnis zwischen Geheimbund und Massenbewegung, wie es der Bakunismus angebahnt hatte. Die ungeheure Schwierigkeit der Parteiarbeit in Rußland hatte ein stetes Suchen und Tasten im Gefolge. Bei alle“ dem aber kristallisierten sich die verschiedenartigen Meinungen immer mehr zu zwei bestimmten Tendenzen: Eine, der Eigenart der russischen Verhältnisse mehr entsprechende, die in den Marxismus Denkweisen und Methoden des Verschwörertums hineintrug, und eine mehr westeuropäisch gerichtete, die den Marxismus im Sinne seiner Begründer auffaßte.
Vorkämpfer der ersteren Richtung wurde Lenin. Nachdem er mehrere Jahre lang mit Axelrod und Martoff zusammengegangen, wendete er sich 1903 gegen sie auf dem zweiten Kongreß der russischen Sozialdemokratie in London. Er entwickelte seinen Standpunkt dann in einem Buch, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte rückwärts, das von Rosa Luxemburg in der Neuen Zeit ausführlich besprochen wurde. (XXII, 2, S. 486 ff.) Ihre Darlegungen seien hier eingehender wiedergegeben. Sie geben eine vorzügliche, äußerst scharfsinnige Charakteristik der Leninschen Tendenzen und zeigen, wie diese schon fast zwei Jahrzehnte alt sind, aber auch früh erkannt und bekämpft wurden, und zwar von Elementen, die gleichzeitig im entschiedensten Kampf gegen alles begriffen waren, was ihnen als Opportunismus erschien.
Rosa Luxemburg schrieb (im Juli 1904):
„Das uns vorliegende Buch des Genossen Lenin, eines der hervorragenden Leiter und Streiter der Iskra (eine seit 1900 erscheinende sozialdemokratische Zeitschrift) in ihrer vorbereitenden Kampagne vor dem russischen Parteitag, ist die systematische Darstellung der Ansichten der ultrazentralistischen Richtung der russischen Partei. Die Auffassung, die hier in eindringlicher und erschöpfender Weise ihren Ausdruck gefunden hat, ist die eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung der organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär-aktiven Milieu ist, anderseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmte Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Partei. Es genügt, zu bemerken, daß zum Beispiel das Zentralkomitee nach dieser Auffassung die Befugnis hat, alle Teilkomites der Partei zu organisieren, also auch die persönliche Zusammensetzung jeder einzelnen russischen Lokalorganisation von Genf und Lüttich bis Tomsk und Irkutsk zu bestimmen, ihr ein selbstgefertigtes Lokalstatut zu geben, sie durch einen Machtspruch ganz aufzulösen und von neuem zu erschaffen und schließlich auf diese Weise indirekt auch die Zusammensetzung der höchsten Parteiinstanz, des Parteitages, zu beeinflussen. Danach erscheint das Zentralkomitee als der eigentliche aktive Kern der Partei, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Organe.“
Rosa Luxemburg zeigt dann, daß der Marxismus wohl eine gewisse Zentralisation der Partei bedingt, die aber ganz anderer Art sein müsse, als die von Lenin vorgeschlagene.
„Die sozialdemokratische Bewegung ist die erste in der Geschichte der Klassengesellschaften, die in allen ihren Momenten, im ganzen Verlauf auf die Organisation und die selbständige direkte Aktion der Masse berechnet ist. In dieser Beziehung schafft die Sozialdemokratie einen ganz anderen Organisationstypus, als die früheren sozialistischen Bewegungen, zum Beispiel die des jakobinisch-blanquistischen Typus.
Lenin scheint dies zu unterschätzen, wenn er in seinem Buche (S.140) meint, der revolutionäre Sozialdemokrat sei doch nichts anderes, als der „mit der Organisation des klassenbewußten Proletariats unzertrennlich verbundene Jakobiner“. In der Organisation und dem Klassenbewußtsein des Proletariats im Gegensatz zur Verschwörung einer kleinen Minderheit erblickt Lenin die erschöpfenden Unterschiedsmomente zwischen der Sozialdemokratie und dem Blanquismus. Er vergißt, daß damit auch eine völlige Umwertung der Organisationsbegriffe, ein ganz neuer Inhalt für den Begriff des Zentralismus, eine ganz neue Auffassung von dem wechselseitigen Verhältnis der Organisation und des Kampfes gegeben ist.“
Das wird von der Genossin Luxemburg weiter ausgeführt, dann fährt sie fort:
„Daraus ergibt sich schon, daß die sozialdemokratische Zentralisation nicht auf blindem Gehorsam, nicht auf mechanischer Unterordnung der Parteikämpfer unter ihrer Zentralgewalt basieren kann, und daß andererseits zwischen dem bereits in fester Partei, Kadres, organisierten Kern des klassenbewußten Proletariats und der vom Klassenkampf bereits ergriffenen, im Prozeß der Klassenaufklärung befindlichen umliegenden Schicht nie eine absolute Scheidewand aufgerichtet werden kann. Die Aufrichtung der Zentralisation in der Sozialdemokratie auf diesen zwei Grundsätzen – auf der blinden Unterordnung aller Parteiorganisationen bis ins kleinste Detail unter eine Zentralgewalt, die allein für alle denkt und schafft und entscheidet, sowie auf der schroffen Abgrenzung des organisierten Kerns der Partei von dem ihn umgebenden revolutionären Milieu, wie sie von Lenin verfochten wird, erscheint uns deshalb als eine mechanische Übertragung der Organisationsprinzipien der blanquistischen Bewegung von Verschwörerzirkeln auf die sozialdemokratische Bewegung der Arbeitermassen ...
„Der von Lenin befürwortete Ultrazentralismus scheint uns in seinem ganzen Wesen nicht von positiv schöpferischem, sondern von sterilem Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit, nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht die Entfaltung, auf die Schuhriegelung und nicht die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten.“
In einem zweiten Artikel erörtert Rosa Luxemburg die Leninsche Behauptung, seine Zentralisation sei eine Waffe gegen den Opportunismus. Sie zitiert Lenins Wort:
„Der Bureaukratismus ist entgegen dem Demokratismus, das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten.“ (S. 151)
Die Proletarier seien für die strengste Disziplin, die Akademiker, die Träger des Opportunismus, für das Gegenteil. Rosa Luxemburg beleuchtet die Schablonenhaftigkeit dieser Berufung auf die schwielige Arbeiterfaust und weist auf England hin, wo gerade die proletarischen Nurgewerkschafter die Hochburg des Opportunismus bildeten. Anderseits hat uns schon der Blanquismus gezeigt, der vorwiegend von Studenten getragen wurde, daß gerade einem noch unentwickelten Proletariat gegenüber die Diktatur einer Verschwörung ein Mittel der Beherrschung der Arbeiter durch die Akademiker wird.
Einen ähnlichen Gedankengang entwickelt auch die Genossin Luxemburg und sie kommt zu dem Ergebnis:
„Tatsächlich liefert nichts eine junge Arbeiterbewegung den Herrschaftsgelüsten der Akademiker so leicht und so sicher aus, wie die Einzwängung der Bewegung in den Panzer eines bureaukratischen Zentralismus, der die kämpfende Arbeiterschaft zum gefügigen Werkzeug eines Komitees herabwürdigt.“
Die Genossin Luxemburg weist dann weiter darauf hin, daß die einzelnen Richtungen der Arbeiterbewegung, auch die opportunistischen, den gegebenen jeweiligen Verhältnissen entspringen, und daß es sinnlos ist, sie durch ein Organisationsstatut unmöglich machen zu wollen. Sie kam zu dem Schluß:
„In diesem ängstlichen Bestreben eines Teils der russischen Sozialdemokraten, die so hoffnungsvoll und lebensfreudig aufstrebende russische Arbeiterbewegung durch die Vormundschaft eines allwissenden und allgegenwärtigen Zentralkomitees vor Fehltritten zu bewahren, scheint uns übrigens derselbe Subjektivismus mitzureden, der schon öfters dem sozialistischen Gedanken in Rußland einen Possen gespielt hat. Drollig sind fürwahr die Kapriolen, die das verehrliche menschliche Subjekt der Geschichte in dem eigenen geschichtlichen Prozeß mitunter auszuführen beliebt. Das von dem russischen Absolutismus ekrasierte, zermalmte Ich nimmt dadurch Revanche, daß es sich selber in seiner revolutionären Gedankenwelt auf den Thron setzt und sich für allmächtig erklärt – als ein Verschwörerkomitee im Namen eines nicht existierenden ‚Volkswillens’. Das ‚Objekt’ zeigt sich aber stärker, die Knute triumphiert bald, indem sie sich als der ‚legitime’ Ausdruck des gegebenen Stadiums des geschichtlichen Prozesses erweist. Endlich erscheint auf der Bildfläche als ein noch legitimeres Kind des Geschichtsprozesses – die russische Arbeiterbewegung, die den schönsten Anlauf nimmt, zum erstenmale in der russischen Geschichte nun wirklich einmal einen Volkswillen zu schaffen. Jetzt aber stellt sich das ‚Ich’ des russischen Revolutionärs schleunigst auf den Kopf und erklärt sich wieder einmal für einen allmächtigen Lenker der Geschichte – diesmal in der höchsteigenen Majestät eines Zentralkomitees der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Der kühne Akrobat übersieht dabei, daß das einzige Subjekt, dem jetzt die Rolle des Lenkers zugefallen, das Massen-Ich der Arbeiterklasse ist, das sich partout darauf versteift, eigene Fehler machen und selbst historische Dialektik lernen zu dürfen. Und schließlich sagen wir doch unter uns offen heraus: Fehltritte, die eine wirkliche revolutionäre Arbeiterbewegung begeht, sind geschichtlich unermeßlich fruchtbarer und wertvoller als die Unfehlbarkeit des allerbesten ‚Zentralkomitees’.“
Mit so beißendem Hohn begrüßte Rosa Luxemburg die ersten Regungen des Bolschewismus. Der Name dieser Richtung kam auf infolge des Londoner Kongresses von 1903, auf dem sich die Mehrheit für Lenins Organisationsplan aussprach (Bolschewik = Mehrheitler; Menschewik = Minderheitler). Die Mehrheit war nicht überwältigend – 26 gegen 25 Stimmen. Unter den 26 befand sich Plechanoff, der damals für Lenin eintrat, später aber seinen Irrtum erkannte. Hätte Plechanoff sich von vornherein gegen Lenin gewendet, wäre diesem die Mehrheit nicht zuteil geworden.
Doch das hätte nur die Namen der beiden Richtungen anders gestaltet, am Endergebnis selbst nichts geändert. Der Kongreß von London war einberufen worden, um die Einheit der Partei zu befestigen. Als er nach einer Dauer von mehr als einem Monat auseinanderging, hatte er die Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki besiegelt, eine Spaltung, die formell eine Zeitlang nicht zutage trat, sich aber tatsächlich immer mehr vertiefte. Auch die Revolution von 1905 brachte keine Besserung. Im Gegenteil. Durch die Revolution wurde der Umfang und die Intensität der Massenbewegung ungemein vergrößert. Aber die rasch einsetzende Reaktion machte nach wie vor die geheime Organisation nötig. Der Kampf der Geheimbünde um die Beherrschung der Massen bekam jetzt nur ein noch größeres Tätigkeitsfeld, er wurde immer intensiver.
Dabei wußte Lenin immer den Vogel abzuschießen. Rücksichtslos bekämpfte er alle Personen und Organisationen, die seiner Diktatur im Wege standen. Er war ein eifersüchtiger Gott, der keine anderen Götter neben sich duldete. Darin glich er absolutistischen Herrschern. Da ihm aber nicht die Machtmittel der Staatsgewalt zur Verfügung standen, griff er unbedenklich zur Waffe des Schwachen, zur Verleumdung. Noch andere Mittel kamen damals auf:
„Der Kampf um die Macht in der Partei, der objektiv ein Kampf um die weitere Bevormundung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung durch eine Gemeinschaft von ‚Berufsrevolutionären’ war, trug von dem Augenblick an eine verstärkte Demoralisierung in die Partei hinein, wo die erwähnten ‚Berufsrevolutionäre’ mit Hilfe bedeutender Geldmittel, über die sie verfügten, die Parteiorganisationen, die Dumafraktion, die Arbeiterpresse usw. in Abhängigkeit von sich zu bringen suchten.“ (Die Lage der Sozialdemokratie in Rußland, herausgegeben vom Boten des Organisationskomitees der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (Menschewiks), Berlin 1912, S.11. Am Boten arbeitete Trotzki mit, damals noch Menschewik.)
So war die Demokratie innerhalb der Bolschewistenorganisation beseitigt und durch die Diktatur des Zentralkomitees mit allen ihren Begleiterscheinungen ersetzt, lange ehe der Bolschewismus der Demokratie als Staatsform den Krieg erklärte. Er forderte sie, und zwar in weitestgehendem Maße, im Staate, solange er nicht selbst die Staatsmacht erlangt hatte. Als es ihm im November 1917 gelang, diese Macht durch einen Handstreich zu erobern, ging er sofort daran, die Verfassung des Staates der Verfassung der Partei anzupassen, die sich hinfort kommunistische Partei nannte. Sie hatte sich bis dahin als die einzige wirkliche sozialdemokratische Partei Rußlands ausgegeben, aber nun wurde dieser Name unvereinbar mit ihrer Aufhebung der Demokratie.
An die Vernichtung der anderen proletarischen Parteien konnte man nun mit besserem Erfolg als bisher gehen, da man jetzt neben der Verleumdung und Korrumpierung auch die direkte Unterdrückung, ja gänzliche physische Vernichtung der andersgesinnten Sozialisten durch den Terror in Anwendung bringen konnte.
Freilich, wenn man erwartet hatte, durch die Auflösung jeder anderen sozialistischen Partei die durch die Revolution entfesselten Arbeitermassen vollständig dem Einfluß der bolschewistischen Partei und ihres Zentralkomitees auszuliefern, so daß die Allmacht oder Diktatur der Arbeiter von selbst zur Diktatur des Zentralkomitees würde, so sah man sich darin enttäuscht. Um diese letztere Diktatur herbeizuführen, blieb nichts übrig, als zu den Methoden des alten Zarismus, wenn auch zunächst unter täuschenden Verhüllungen, zurückzugreifen. Es ist bezeichnend für die Rückständigkeit Rußlands und seines Proletariats, daß derartiges möglich wurde. Es bezeugt, wie tief der Zarismus in den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen – keineswegs aber Bedürfnissen wurzelte.
Eine neue Bureaukratie wurde im Staate eingerichtet, ganz nach dem Muster, das Lenin 1904 für die Parteiorganisation aufgestellt hatte. Wenn nach diesem Muster die Zentralbehörde der Partei alle Lebensäußerungen der Parteigenossen und der Arbeiterbewegung überhaupt zu überwachen, zu leiten, zu bestimmen hatte, so sollte die neue Bureaukratie alle Lebensäußerungen der gesamten Bevölkerung nicht nur im staatlichen Leben, sondern auch im Produktions- und Zirkulationsprozeß, ja das ganze soziale Leben, jegliches Denken und Fühlen der Massen überwachen, leiten und bestimmen. Wenn nach dem Worte der Bibel ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache fällt, so kann nach den Bestimmungen der Sowjetrepublik kein Nagel in eine Mauer eingeschlagen werden ohne den Willen der allmächtigen und allwissenden Sowjetbureaukratie.
Um jeden Widerstand gegen diesen ungeheuren Polypen unmöglich zu machen, wurde eine stehende Millionenarmee mit eiserner Disziplin geschaffen, und der riesenhafte Polizeiapparat der außerordentlichen Kommissionen (Tschekas), denen die Macht gegeben war, jeden ohne viel Federlesens aus dem Wege zu räumen, der für die Diktatoren unbequem oder auch nur verdächtig erscheint.
Und nachdem man so die Diktatur des Zentralkomitees aus der Partei in den Staat überbetragen hat, sucht man auch noch die gegebenen staatlichen Grenzen zu überschreiten. Selbständige Nachbarn werden mitten im Frieden überfallen und der moskowitischen Diktatur unterworfen – siehe die Kaukasusstaaten.
Und gleichzeitig versucht man, diese Diktatur in der Internationale aufzurichten, mit denselben Mitteln, mit denen die Bolschewiki vor ihrem Staatsstreich die andern Sozialisten Rußlands bekämpft hatten. Nur nimmt jetzt die Korrumpierung der dazu disponierten Elemente ungeheure Dimensionen an, da sie über den russischen Staatsschatz verfügt. Und wieder ist es eine Verschwörung, die die Leitung der Massen an sich zu reißen sucht. Unbekannte, niemand verantwortliche Sendlinge Moskaus sind es, die die kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands kontrollieren und dirigieren. Wogegen sich Engels 1870 gewendet, das ist jetzt in der Dritten Internationale erreicht: sie wird russisch kommandiert, von Diktatoren, die sie selbst nicht kennt. Stellt der Bolschewismus in Rußland eine Diktatur über das Proletariat vor, so in der Internationale eine Verschwörung gegen das Proletariat. Mit dem Verschwörertum ersteht auch wieder die alte Putschtaktik, die nie so leichtfertig und bedenkenlos die Massen als bloßes Kanonenfutter verbraucht hat, wie jetzt, unter Moskauer Führung.
Mögen die Massen demoralisiert, mögen sie geschlachtet werden, wenn sie nur die Macht des Moskauer Zentralkomitees befestigen. Dieses ist der Messias, der allein das Proletariat der Welt zu erlösen vermag. Die Devise der Ersten und der Zweiten Internationale, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, sie wird völlig verleugnet durch die Praxis der Dritten Internationale, die getragen wird von dem Grundsatz, daß die Befreiung der Arbeiterklasse der Welt nur erfolgen kann durch die Diktatur des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rußlands.
Die Abwendung von der Demokratie, die Sprengung der Konstituante, die Vernichtung aller Parteien, auch der proletarischen, außer der herrschenden kommunistischen, die Einführung eines blutigen Polizeiregiments, und schließliches Stocken des ganzen Verkehrs- und Produktionsprozesses, Hunger und Elend an allen Ecken und Enden, alle diese Ergebnisse des bolschewistischen Regimes wurden in Europa nur nach und nach bekannt und von den Sozialisten zumeist nicht geglaubt, die im Bolschewismus die erste rein proletarische Regierung in einem Großstaat mit Begeisterung begrüßten und alles, was zu Ungunsten des revolutionären Regimes sprach, mit Unglauben, als bürgerliche Lüge aufnahmen oder in einem milderen Lichte zu sehen trachteten. Wohl war die „formale“ Demokratie aufgehoben, die formelle Gleichberechtigung aller, umsomehr sollte nach den Berichten aus Moskau die Demokratie aller Werktätigen aufgerichtet und nur die Parasiten von den Bürgerrechten ausgeschlossen sein. Die Konstituante habe nicht zurecht bestanden, weil die Wahllisten der Spaltung der Sozialrevolutionäre nicht Rechnung trugen usw.
Um den bürgerlichen Lügen zu entgehen, glaubte man willig jedes bolschewistische Märchen von dem Verrat der Menschewiki und der rechten Sozialrevolutionäre, die sich als „Weißgardisten“ ins Lager der Gegenrevolution begeben hätten, was auch Trotzki noch behauptet. Man glaubte an den blühenden Zustand Rußlands und die kraftvolle Entfaltung seiner Arbeiterräte und ihrer Selbsttätigkeit.
Als aber die Wirklichkeit sich nicht mehr länger verschleiern ließ und die Bolschewiks selbst sie wenigstens zum Teil zugeben mußten, tröstete man sich damit, daß die wirtschaftliche Not bloß Folge des Kriegs, des auswärtigen wie des Bürgerkriegs, und der Blockade sei und mit deren Aufhören verschwinden werde. Der Terror aber – je nun, mit Rosenwasser werden Revolutionen nicht gemacht. Das Proletariat habe schon viel Elend und Blutvergießen über sich ergehen lassen müssen. Aber in der Regel habe es all das erlitten im Interesse seiner Ausbeuter und Bedränger, jetzt dagegen leide es für sich selbst; es nehme den Hunger auf sich, zerstöre die Demokratie, vernichte seine Gegner durch ein terroristisches Gewaltregiment, um einen Zustand herbeizuführen, in dem Wohlstand für alle, Freiheit für alle herrscht und jede Vergewaltigung für immer beseitigt ist.
In der Tat, brächte uns das bolschewistische Regime von Blut und Eisen, von Hunger und Angst auch nur einen Schritt weiter auf der Bahn zu einem solchen höheren sozialen Zustand, wir könnten, ja müßten uns mit ihm abfinden, als einer Operation, die schmerzlich ist, aber allein imstande, dem schwerkranken Patienten Gesundheit und Kraft zu gewinnen. Aber leider gehört das bolschewistische Verfahren zu jenen Eisenbartkuren, bei denen es am Schlusse heißt: Operation glänzend gelungen. Patient tot.
Als Krieg und Blockade vorüber waren, hieß es, daß nun der wirtschaftliche Aufschwung komme. Aber siehe da, er blieb so völlig aus, daß der Bolschewismus nach einem Jahr des Friedens sich genötigt sah, vor dem Kapitalismus zu kapitulieren. Nicht das werfen wir Lenin und seinen Leuten vor, daß sie den Kapitalismus für unabwendbar auf der Entwicklungshöhe Rußlands betrachten, sondern daß sie erst jetzt zu dieser Erkenntnis kommen, nachdem sie fast vier Jahre lang mit rücksichtslosester Energie in der entgegengesetzten Richtung gesteuert und jeden als Verräter und Renegaten gebrandmarkt haben, der die richtige Einsicht schon vorher besaß, was für einen geschulten Sozialisten nicht schwer war, da die Marxisten schon Jahrzehnte vorher die kommende russische Revolution als bürgerliche erkannt und bezeichnet hatten.
Vier Jahre Blut und Tränen und Ruin hätten die Bolschewiks Rußland erspart, wenn sie die menschewistische Selbstbeschränkung auf das Erreichbare besessen hätten, in der sich der Meister zeigt.
Doch sagt man, wenn der Bolschewismus auch zum Kapitalismus zurückkehren müsse, habe er doch nicht vergeblich gewirkt, denn er habe Rußland auf eine ökonomische Basis gestellt, auf der der staatliche regulierte Kapitalismus, der Staatskapitalismus, aufgebaut werde als eine höhere Form der heutigen Produktionsweise, eine Übergangsform zum Sozialismus.
Auch diesen letzten Trost muß man dem Bolschewismus nehmen. Seine Großtat besteht vielmehr darin, daß er alle die kümmerlichen Ansätze zerstörte, die er in Rußland für eine Entwicklung in der Richtung des Sozialismus vorfand.
Wir Marxisten sind uns einig darüber, daß der sozialistische Aufbau um so rascher und entschlossener vor sich gehen kann, je mehr die Großindustrie entwickelt, der Verkehr vervollkommt ist, je mehr die Städte über das flache Land überwiegen.
Was haben die Bolschewiks getan? Sie haben den Staat nach dem Muster ihrer Partei organisiert und die ganze Wirtschaft der Staatsgewalt untergeordnet, das heißt, den Produktions- und Verkehrsapparat in ein ungeheures Räderwerk verwandelt, dessen Reibungswiderstände so groß sind, daß sie fast alle gesellschaftliche Kraft aufzehren, so daß für die wirkliche Produktionstätigkeit nur verschwindend wenig übrig bleibt. Was Rosa Luxemburg 1904 der bolschewistischen Parteiorganisation entgegenhielt, gilt auch von ihrer Organisierung der Produktion: sie ist hauptsächlich darauf gerichtet, sie zu beherrschen, nicht sie anzuregen. Sie einzuengen, nicht sie zu entfalten. Ihre Kräfte zu schuhriegeln, nicht sie zu konzentrieren.
Die naturnotwendige Folge war, daß die großen Apparate, die am meisten diesen hemmenden und lähmenden Bedingungen unterworfen waren, am ehesten versagten, die Eisenbahnen und die Großindustrie. Nur jammervolle Reste fristen noch ein dürftiges Leben.
Besser erholten sich die Kleinbetriebe, die nicht so leicht bureaukratisch zu überwachen sind und weniger vom Verkehr abhängen. Der kleine Meister braucht bloß für den lokalen Markt zu arbeiten, seine Werkzeuge sind gering und leicht beweglich. Versagt der Verkehr, der Rohstoffe und Brennstoffe sowie Lebensmittel zu ihm bringen soll, dann kann er viel eher als der große Betrieb seine Werkstatt dorthin verlegen, wo Rohstoff, Holz und Lebensmittel nahe zur Hand sind.
So überwiegt heute in Rußland immer mehr das Handwerk und die Heimindustrie, und soweit sie einheimische Rohstoffe verarbeiten, wie Flachs, Holz, Leder, gedeihen sie besser auf dem flachen Lande und in Kleinstädten als in den bisherigen industriellen Zentren. Diese verfallen und entvölkern sich zusehends.
Auch die Lohnarbeiter fliehen die Städte, wo sie nur können. In Rußland ist die Kluft zwischen dem Bauern und dem städtischen Arbeiter noch nicht so tief wie im Westen. Noch viele dieser Arbeiter sind mit der Landwirtschaft vertraut, von der sie stammen, und haben persönliche Beziehungen zum Dorf. So ist es ihnen nicht schwer, von der Industrie zur Landwirtschaft zurückzukehren, die ihnen doch eher ihr tägliches Brot und eine warme Stube im Winter sichert.
Andere Arbeiter wandern von der Lohnarbeit in großen Betrieben ab und machen sich in industriellen Zwergbetrieben auf dem Lande selbständig. Nicht wenig muß sie auch die größere Bewegungsfreiheit auf dem flachen Lande dorthin treiben. Der polizeiliche Druck und die Spionage ist naturgemäß in den Städten am stärksten.
So bleibt in den letzteren nur, wer muß, vor allem die unglückseligen Intellektuellen, die weder ein Handwerk noch Landarbeit verstehen. Soweit sie ihre Rettung nicht in einer Stellung bei der Sowjetbureaukratie oder in Schiebergeschäften finden, verhungern sie schneller oder langsamer, je nach der Größe der Trümmer, die sie aus ihrem Schiffbruch gerettet haben und allmählich gegen Nahrungsmittel umtauschen.
Keine Großindustrie, kein Verkehr, fast die ganze werktätige Bevölkerung auf dem Lande, in den Städten nur Beamte, Parasiten und Bettler mit ihrem Anhang – das ist das Bild, das immer mehr das Sowjetrußlands wird. Es nähert sich damit immer mehr der ökonomischen Stufe, die das Reich im 18. Jahrhundert erreicht hatte. Es löst immer mehr die Elemente auf, aus denen allein, auf einer gewissen Höhe der Entwicklung, eine neue, der kapitalistischen überlegene Produktionsweise erstehen kann. Es bedeutet nicht nur keinen Fortschritt, sondern einen ungeheuren Rückschritt. Rußland ist heute viel weiter vom Sozialismus entfernt, als es vor dem Kriege war. In der Tat, welch gewaltige revolutionäre Leistung! Sie lohnt schon jenes unmenschliche Wüten, mit dem das Sowjetregime die heilige spanische Inquisition zu übertrumpfen trachtet!
Doch seine Erfolge in Rußland genügen ihm nicht. Allerdings fehlt ihm die Kraft, die europäische Großindustrie zu ruinieren, aus der der Sozialismus erwachsen soll. So versucht er wenigstens die proletarischen Massenorganisationen Europas zu ruinieren, die allein den Sozialismus zum Siege führen können.
Der große Gegensatz, der die europäische Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert durchzieht, kommt hier zu seinem größten und hoffentlich letzten Austrag.
Wir haben diesen Gegensatz schon beobachtet. Er zeigt sich zuerst in dem Unterschied zwischen dem englischen Chartismus und dem französischen Blanquismus: hier der Zusammenschluß aller Arbeiter, die für ihre Klasse zu kämpfen bereit sind, in einem großen Körper ohne Unterschied der Schattierungen, die sie trennen. Diese Schattierungen werden durch die Einheit der Organisation nicht unterdrückt, aber in ihrer Mitte ausgefochten, nicht als Gegensatz von Organisation zu Organisation. Gewinnung und Zusammenschluß der Massen zum Kampf ist da die erste Aufgabe der bewußten Klassenkämpfer.
In Frankreich finden wir dagegen die Verschwörung. Sie darf nicht zu zahlreich sein, sonst wird die Gefahr der Entdeckung zu groß. Sie kann nur gelingen bei unbegrenztem Glauben der Mitglieder an die Führer. Daher so viele Organisationen, als es Führer gibt, die einander aufs bitterste bekämpfen und die Reihen der zum Kampf bereiten Arbeiter zerklüften.
Als Erbteil dieses Stadiums erhält sich lange der Geist der Sektierei und Spaltung in der französischen Bewegung, bis 1905.
Marx und Engels hielten diesen Geist für einen Krebsschaden. Nichts lehnten sie entschiedener ab, als das Entarten des Marxismus zu einer Sektenbewegung. Daher ihre Gegnerschaft gegen den Lassalleanismus, der ihnen zu sektiererisch erschien, und ebenso gegen Hyndman in England.
Je mehr in Frankreich die proletarische Massenbewegung erstarkte, desto mehr schwand dort das Sektierertum. Es fand, wie wir gesehen, eine neue Stätte in Rußland, wo die Geheimbündelei eine Notwendigkeit war.
Von dort ausgehend, schlich sich sektiererischer Geist wieder nach dem Westen ein überall dort, wo das Prestige der russischen Revolutionäre sich geltend machte, und dieses war nicht gering seit der Revolution von 1905. Es wurde von den Bolschewiks nur zu gut ausgenützt. Als echte Verschwörer hassen sie eine große, umfassende Organisation, die verschiedene zum Klassenkampf bereite Schattierungen des Proletariats umfaßt. Sie wollen die proletarische Kampforganisation so klein, daß nur völlig ergebene Anhänger des Zentralkomitees sie füllen. Jede andere proletarische Organisation ist ihr Feind, und sie suchen sie zu zertrümmern. Das ist ihnen zum Glück nicht gelungen, aber ihr Einfluß reichte hin, das Proletariat in den entscheidenden Tagen der Revolution zu verderblichem Bruderkampf innerhalb der eigenen Reihen zu hetzen, es zu schwächen und dadurch unfähig zu machen, seinen Sieg soweit auszunutzen, als die Verhältnisse es sonst gestattet hätten.
Am meisten geschädigt wurde durch das Eingreifen des Bolschewismus das Proletariat Frankreichs, das dank seiner jakobinischen und blanquistischen Reminiszenzen besonders wenig Widerstandskraft gegenüber der bolschewistischen Phraseologie an den Tag legt. Selbst Genossen, die von der Dritten Internationale als verächtliche Verräter behandelt werden, können es nicht über sich bringen, den Arbeitern Frankreichs die russischen Verhältnisse ganz unbemäntelt zu schildern. Sie fürchten, dadurch die russische Revolution zu schädigen. Als wenn nicht die Bolschewiks deren gefährlichste Feinde wären. Die sozialistische Revolution hängt ab von der Entwicklung der Produktivkräfte, der Zahl und den Fähigkeiten des industriellen städtischen Proletariats. Wer diese Faktoren schädigt, wirkt gegenrevolutionär und mag er noch so viele Bourgeois plündern oder erschienen. Unser Lehrer heißt Karl Marx und nicht Max Hölz.
Lenin selbst hat anerkannt, daß es so wie bisher nicht weitergeht. Er will dem Kapital neue Entwicklungsmöglichkeiten in Rußland geben. Aber er weigert sich bisher (Juli 1921) noch hartnäckig, dem, was vom Proletariat noch übrig geblieben ist, die Möglichkeit freier Entfaltung seiner durch polizeilichen Druck verkümmerten Fähigkeiten zu geben. Fürchtet er die proletarische Freiheit mehr als die kapitalistische oder glaubt er umgekehrt die Arbeiter schlechter behandeln zu dürfen als die Kapitalisten?
Was immer aber er noch gewähren mag, es ist sehr wohl möglich, daß es zu spät kommt. Der Karren steckt schon zu tief im Sumpfe, als daß er rasch herausgezogen werden könnte. Die ökonomische Lage Sowjetrußlands ist jedoch eine so verzweifelte, daß sie kein längeres Warten verträgt.
Wir müssen mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur in absehbarer Zeit rechnen. Ein bestimmter Termin läßt sich nicht nennen. Er kann über Nacht kommen oder noch länger dauern, als anscheinend zu erwarten ist. Eines aber steht fest: der Bolschewismus hat seine Gipfelhöhe überschritten und befindet sich auf dem Abstieg, dessen Tempo naturgemäß sich immer mehr beschleunigt.
So tritt an uns die bange Frage heran, was an seine Stelle treten wird. Er selbst hat auf das eifrigste dafür gesorgt, daß sein Erbe gar leicht von einer Diktatur anderer Art angetreten, der rote Terror durch weißen ersetzt wird.
Wir haben ja gesehen, daß der Bolschewismus den Verkehr und die Großindustrie zerstört hat, die nicht nur die Elemente des Sozialismus bilden, sondern vor ihm schon den Fortschritt der Demokratie unwiderstehlich machen. Indem der Bolschewismus Rußland ökonomisch den Zeiten Peters und Katharinas nähert, nähert er es auch politisch jener Epoche. Das ist augenblicklich für die Diktatoren des Bolschewismus bequem; sie finden im Lande keine Klasse, keine Partei, die imstande wäre, ihnen offen Trotz zu bieten. Doch derselbe Umstand begünstigt auch die Diktatur ihrer Nachfolger.
Immerhin ist anzunehmen, daß sie nicht so stark sein wird wie die bolschewistische selbst.
Man darf am ehesten erwarten, daß die jetzige Diktatur durch innere Streitigkeiten im kommunistischen Lager selbst aus den Fugen geht. Die Kommunisten haben ihre bisherige Sicherheit verloren. Die einen suchen und tasten nach neuen Wegen, die andern erwarten die Rettung nur von unbeugsamster Konsequenz in der bisherigen Richtung. Je stärker die Notlage wächst, desto zahlreicher werden diejenigen werden, die nach neuen Wegen suchen. Desto verschiedenartiger aber die Wege, auf die man hinweist. So muß die Haltlosigkeit im kommunistischen Lager wachsen und seine Zuversicht schwinden.
Das kann nicht ohne Rückwirkung bleiben auf die Stützen der Diktatur, Bureaukratie und Armee, die viele Elemente in ihren Reihen zählen, denen der Bolschewismus verhakt ist, dem sie nur der Not gehorchend dienen. Auch deren Reihen müssen sich zusehends zerklüften. So kann es ohne jede auswärtige Intervention, die in diesen Zersetzungsprozeß bloß hemmend eingreifen würde, zu einer Neuauflage des 9. Thermidor oder, mit besserem Erfolg als ehedem, des Dekabristenaufstands kommen, der bald (1925) seinen hundertsten Jahrestag feiert.
Sollte es so kommen, dann ist nicht zu erwarten, daß die neuen Herren jemals jene Geschlossenheit erlangen, die der Bolschewismus bis in die jüngste Zeit bewahrte. Dazu werden der Elemente, die durch den Umsturz freigesetzt werden, zu viele und zu verschiedenartige sein. Auch eine Säbelherrschaft, wie in Ungarn, ist nicht wahrscheinlich, dazu ist die russische Armee und ihr Offizierkorps aus zu heterogenen Elementen zusammengesetzt.
Was eher zu erwarten ist, als eine Diktatur, droht freilich nicht besser zu sein, vielmehr schlimmer. Es droht die Gefahr, daß die neue Regierung äußerst schwach sein wird, so daß sie Pogromen gegen Juden und Bolschewisten nicht wehren kann, selbst wenn sie möchte.
Dabei droht die Auflösung des Landes in völlige Anarchie. Das festeste ökonomische Band, das einen modernen Staat zusammenhält, der intensive Verkehr zwischen Stadt und Land, der jeden dieser Faktoren in engste Abhängigkeit vom andern bringt, ist durch den Bolschewismus zerstört worden. Die Stadt hat dem Bauern nichts mehr zu bieten, jedes Dorf lebt sein eigenes Leben; die Stadt erhält sich nicht durch Warenaustausch mit dem Lande, sondern durch gelegentliche Plünderungen desselben, vollzogen von Requisitionskommandos. Da geht lalles staatliche Bewußtsein verloren. Bricht die jetzige Diktatur zusammen, die bisher mit den eisernen Klammern einer streng disziplinierten Armee das Land zusammenzuhalten vermochte, dann zerfällt es in ein Chaos von Trümmern.
Das sind keineswegs lachende Aussichten, und man versteht, daß es Sozialisten gibt, die sagen, so schlimm der Bolschewismus sein mag, was ihm zu folgen droht, ist noch schlimmer, und darum müssen wir ihn verteidigen als das kleinere Übel.
Das wäre ganz richtig, wenn die Wahl von uns abhinge. Aber es ist der Bolschewismus selbst, der sein eigenes Grab gräbt, und je länger er am Ruder bleibt und seine bisherige Politik fortsetzt, desto furchtbarer der Zustand, der seinem schließlichen Ende folgen wird.
Indessen besteht zum Glück nicht bloß die Alternative zwischen dem roten und dem weißen Schrecken, sei es einer Diktatur, sei es der Anarchismus. Eine dritte Möglichkeit bietet sich: nicht der Sturz des Bolschewismus, sondern sein Verzicht auf die Alleinherrschaft; die Koalition mit den andern sozialistischen Parteien, den Menschewiks und den Sozialrevolutionären; die Gewährung freier Bewegung an Arbeiter und Bauern und damit der Demokratie. Durch diese Maßnahmen würde ein Regime geschaffen von erheblich breiterer Basis als das bisherige. Es böte größere Widerstandskraft gegenüber allen Gefahren, die die russische Republik bei ihrer verzweifelten ökonomischen Lage bedrohen. In dem Maße, in dem es die kommunistische Diktatur aufhebt, würde es auch jede gegenrevolutionäre Diktatur unmöglich machen oder mindestens erschweren, aber auch der Anarchie erfolgreicher entgegenwirken. Die Bolschewiks würden wohl ihre Allmacht verlieren, aber doch einen Anteil an der Macht bewahren, während sie heute von völliger politischer und physischer Vernichtung bedroht werden.
Freilich, welches absolute Regime hätte je freiwillig auf seine Allmacht verzichtet, auch wenn die Klugheit es noch so sehr gebot! Eben lese ich in der Wiener Roten Fahne vom 29. Juni einen Vortrag Bucharins über die „neue ökonomische Orientierung Sowjetrußlands“:
„Das Staatsruder sichern, keine politischen Konzessionen und möglichst viele ökonomische. Die Opportunisten denken von uns, wir würden erst ökonomische und dann politische Konzessionen machen. Aber wir machen ökonomische Konzessionen (den Kapitalisten – K.), um keine politischen machen zu müssen (den Arbeitern – K.). Keine Koalitionsregierung (es handelt sich hier nicht um eine Koalition zwischen bürgerlichen und sozialistischen Parteien, sondern um eine Koalition der Sozialisten unter einander – K.) oder dergleichen, nicht einmal eine Gleichberechtigung zwischen Bauern und Arbeitern. Das können wir nicht.“ –
Sic volo, sic jubeo!
Das verrät nicht viel Erkenntnis dessen, was not tut. Die Bucharin, Lenin, Trotzki geben einem Bourbonen, Habsburger, Hohenzollern im zähen Festhalten an ihrer Allmacht nichts nach. Es macht keinen großen Unterschied, ob sie ihre Souveränität von Gottes Gnaden oder des Proletariats Gnaden herleiten. Denn jenes Proletariat, das ihnen die Diktatur für immer übergeben haben soll, ist ebenso eine fiktive Größe, wie der Gott, dessen Stellvertretung auf Erden die genannten Dynastien übernommen hatten.
Allen diesen Herrschaften war der feste Entschluß gemein, lieber das ganze Volk „auf der Strecke zu lassen“, als nur ein Jota ihrer Herrlichkeit aufzugeben. Aber mitunter konnten sie auch anders, wenn es sein mußte. Und so mögen auch noch Umstände eintreten, die etwas an der menschenfreundlichen Entschlossenheit der Bolschewiki ändern, lieber Rußland ruinieren zu lassen, als daß sie sich mit den andern Sozialisten verständigen.
Wohl wirkt das Verschwinden eines großen Teils der energischsten und intelligentesten Arbeiter aus den Städten und die wachsende Apathie der Massen einer jeden Wiederbelebung der Demokratie entgegen. Doch niemals ist in einem Gemeinwesen eine Tendenz allein tätig, ihre wirkliche Politik ist stets das Ergebnis des Aufeinanderwirkens mannigfacher Tendenzen, deren Kraft zeitweise erheblich wechselt. Die schon erwähnte Zerklüftung im kommunistischen Lager wirkt auf die demokratischen Tendenzen der in den Städten noch zurückbleibenden Arbeiter entschieden belebend.
Überdies irren die Bolschewisten sehr, wenn sie glauben, Ökonomie und Politik willkürlich trennen zu können so daß sie sich retten, wenn sie einseitig bloß ökonomische Konzessionen machen, oder wenn sie gar vermeinen, ökonomische Konzessionen seien das Mittel, um politische herumzukommen.
Will Rußland aus seinem trostlosen Zustand wieder in die Höhe kommen, bedarf es dringend ausländischer Hilfe, ausländischen Kapitals. Der Goldschatz wird bald erschöpft sein, was Rußland an Produkten abzugeben hat, ist minimal. Nur eine auswärtige Anleihe kann ausreichende Hilfe bringen.
Eine Anleihe gewähren aber Kapitalisten nur einem Regierungssystem, zu dessen Dauer sie Vertrauen haben. Sie haben nichts gegen Diktatur und Absolutismus und geben ihm gern Kredit, wenn sie erwarten, daß er am Ruder bleibt. Zu der kommunistischen Diktatur haben sie dieses Zutrauen nicht und darum wird es ihr kaum gelingen, zu annehmbaren Bedingungen eine erhebliche Anleihe zu erlangen. Eine Regierung, die nicht eine herkömmliche, eine traditionelle, sondern eine revolutionäre ist, wird keinen Kredit finden, wenn sie sich nicht auf die Mehrheit einer freigewählten Volksvertretung berufen kann, die hinter ihr steht.
Aber zu seinem Wiederaufbau bedarf Rußland nicht bloß ausländischen Kapitals. Das bolschewistische Regime hat binnen wenigen Jahren den Bestand an qualifizierten Arbeitern zur Auflösung gebracht, den die industrielle Entwicklung des letzten halben Jahrhunderts in Rußland allmählich entwickelt hat. Überall mangelt es an qualifizierten Arbeitern und das ist vielleicht das größte Hindernis für eine Belebung der russischen Industrie. Daran wird sie selbst dann kranken, wenn sie über genügendes Rohmaterial und Brennstoffe verfügt. Sie bedarf auswärtiger qualifizierter Arbeiter ebenso sehr, wie ausländischen Kapitals. Noch weniger als die Kapitalisten, werden sich aber die Arbeiter in Massen einfinden, solange nicht ein demokratisches Regime herrscht. Glauben die Lenin, Trotzki, Bucharin usw., Arbeiter, die an westeuropäische Kultur und Freiheit gewöhnt sind, werden sich freiwillig in die Hölle der russischen Stadt begeben, aus der die Arbeiter des eigenen Landes fliehen, wo sie nur können, obwohl sie der Zarismus nicht gerade verwöhnt hatte? Die russischen Emigranten im Bolschewismus müssen blind für die Dinge in Westeuropa gewesen sein, wenn sie sich einbilden, können, westeuropäische Arbeiter würden sich jemals die Infamie einer Tscheka gefallen lassen; würden sich in Gewerkschaften einsperren lassen, in denen sie das Maul zu halten haben, deren Leiter von der Staatsgewalt ernannt werden; würden sich mit der Beschränkung auf die Regierungspresse zufrieden geben; würden alle die unzähligen Schuhriegeleien durch die Bureaukratie ruhig hinnehmen. Nur eine Knechtsseele kann als Arbeiter sich im jetzigen Rußland wohlfühlen. Wen es bisher angezogen hat, das waren Literaten und dergleichen, die in das Gefolge der Diktatoren aufgenommen wurden, wo sie eine Schicht von Herren und Parasiten darstellen. Die Arbeiter, die durch die Berichte einer verlogenen Presse verführt, nach Rußland kamen, um dort von ihrer Hände Arbeit zu leben, haben stets auf das rascheste wieder reißaus genommen.
Rußland braucht dringend ausländische qualifizierte Arbeiter. Es bekommt sie nicht eher, als es zu den Formen eines demokratischen Gemeinwesens gelangt ist.
Also das, was man mit den ökonomischen Konzessionen erreichen will, wird nicht erreicht, wenn man nicht politische hinzugesellt.
Anderseits, wäre es möglich, ohne politische Konzessionen genügend viel Kapitalien und Arbeiter nach Rußland zu locken, um die Industrie wieder in Gang zu setzen, so müßte damit die Arbeiterschaft so sehr erstarken, daß ihr Druck im Sinne der Demokratie unwiderstehlich wird. Umsomehr, da dann durch den engeren Austauschverkehr zwischen Stadt und Land auch die demokratische Bewegung der Bauern erhöhte Kraft erlangen müßte. Die Massen in Rußland haben ihr Zutrauen zum Kommunismus und seiner Diktatur verloren, sie verlangen nach Selbstbetätigung und Selbstentwicklung.
Ökonomische und politische Konzessionen bedingen einander also, sie sind eng miteinander verbunden. Es ist noch nicht abzusehen, ob es den nach der Demokratie verlangenden Elementen gelingen wird, rechtzeitig den Bolschewismus zu Konzessionen zu zwingen, die eine friedliche Festsetzung der Demokratie und eines proletarischbäuerlichen Regimes etwa nach dem Muster ermöglichen, das Georgien vor dem bolschewistischen Banditeneinfall bot, oder ob der Bolschewismus mit dem verbohrten Eigensinn, der ihn auszeichnet, alle politischen Konzessionen solange zurückweist, bis er alle demokratischen Elemente gründlich zerstört hat, so daß seinem dann unvermeidlichen Fall nur noch weiße Diktatur oder Anarchie greuelvollster Art folgen kann.
Auf jeden Fall aber ist die Pflicht der Sozialisten Westeuropas gegeben. Um dieser weißen Diktatur und Anarchie vorzubeugen, haben sie nicht den Bolschewismus zu stützen, sondern die dem Bolschewismus entgegenwirkenden Elemente des demokratischen Sozialismus. Die bolschewistische Diktatur hat alles zerstört, was an ökonomischen und politischen Vorbedingungen des Sozialismus in Rußland schon entwickelt war. Ein Sieg der Demokratie würde wenigstens den allmählichen Wiederaufbau dieser Vorbedingungen ermöglichen. Gelingt es der Demokratie nicht, dem Kommunismus Konzessionen abzuzwingen, dann steht dem armen, gequälten Volk Rußlands der Niedergang in die brutalste und finsterste Barbarei bevor.
Dafür hat die bolschewistische Diktatur den Weg gebahnt.
Angesichts dessen muß das Schlagwort von der Diktatur des Proletariats, trotzdem Marx und Engels es akzeptiert haben, sehr in Mißkredit geraten.
Schlagworte lassen sich in der Politik ebensowenig entbehren als Abstraktionen in der Wissenschaft. Es wäre zu ermüdend und langweilig, wollte ein Politiker immer alle Elemente seines Denkens weitläufig auseinandersetzen. Er muß sie mitunter in einzelnen Brennpunkten konzentrieren, von denen aus sie als Schlagworte seine Politik scharf beleuchten. Aber das tritt nur dann ein, wenn das Schlagwort so klar und eindeutig ist, daß es im Hörer oder Leser dieselben Gedankenverbindungen wachruft, von denen der Redner oder Schreibende geleitet wird. Ist das nicht der Fall, dann wirkt das Schlagwort nicht erleuchtend, sondern verdunkelnd, dann erzeugt es Mißverständnisse und Konfusion.
Nun hat das Wort von der Diktatur des Proletariats von vornherein daran gelitten, daß es vieldeutig war.
Marx und Engels haben es auch nie hervorgehoben, sondern nur gelegentlich gebraucht. Es findet sich in keiner ihrer programmatischen Kundgebungen, auch nicht im Kommunistischen Manifest, obwohl sie zur Zeit seiner Abfassung blanquistischem Denken in manchem noch näher standen, als später. Sie sprechen dort stets nur von der „Herrschaft“ des Proletariats. So sagen sie unter anderem in dem Abschnitt Proletarier und Kommunisten:
„Der erste Schritt in der Arbeiterrevolution ist die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.“
„Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsmittel in den Händen des Staates, das heißt, des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskraft möglichst zu vermehren.“
Also nur von der Herrschaft, nicht von der Diktatur des Proletariats sprachen sie dort. Vielleicht fühlten sie selbst, daß das Wort von der Diktatur zu sehr Mißdeutungen ausgesetzt war. Diese Möglichkeit sprach dagegen, das Wort in der Agitation vor Massen, die unser Programm, unsere Lehre nicht kannten, in Anwendung zu bringen. Jetzt ist noch ein neues, schweres Bedenken dazugekommen. Politische Schlagworte erhalten ihre Bedeutung weit mehr aus der Geschichte, als aus dem Lexikon. Die Geschichte hat das Wort von der Diktatur des Proletariats zum Kennzeichen des Bolschewismus gemacht, es in den Augen der Massen ebenso unzertrennlich mit ihm verknüpft, wie die Bezeichnung als Kommunisten.
Marx und Engels haben sich Kommunisten genannt und doch lehnt heute jeder diese Bezeichnung ab, der die Verderblichkeit der bolschewistischen Auffassung erkannt hat, auch wenn er noch so sehr auf Marx schwört. So haben wir auch allen Grund, auf den Gebrauch des Schlagworts von der Diktatur des Proletariats zu verzichten, das stets mißverständlich war und bis zum Jahre 1917 nur in der polemischen, nicht in der agitatorischen Literatur des Marxismus eine Rolle spielte. Die Sprache des Kommunistischen Manifestes kann und soll uns vollständig genügen, das nicht von der Diktatur spricht, sondern von der Herrschaft des Proletariats auf Grund der von der Revolution erkämpften Demokratie.
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Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012