Karl Kautsky


Von der Demokratie zur Staatssklaverei



V. Der Arbeitszwang

a) Der Arbeitermangel

Wir haben gesehen, daß eines der Hauptgebrechen der russischen Großindustrie der Verlust zahlreicher qualifizierter Arbeiter ist. Das geben die Bolschewiks selbst zu. In seinem eben erwähnten Vortrag sagt Bucharin:

„Nur die schlechteren Elemente blieben in den Fabriken.“

Er sagt nicht, in welcher Beziehung sie „schlechter“ sind, ob ökonomisch minder leistungsfähig oder politisch weniger für den Bolschewismus begeistert. Er wird wohl beides im Auge haben.

Die Erscheinung erklärt er ungefähr ebenso wie ich. Er sagt:

„Bei uns hungert die Arbeiterschaft, weil die Produktionszirkulation zwischen Stadt und Land gehemmt ist. Diese ökonomischen Zustände haben ihre sozialen Folgen. Wenn die Großindustrie in so schlechtem Zustand ist, dann suchen die Arbeiter einen Ausweg, in dem sie zum Beispiel in den großen Metallfabriken auf eigene Faust kleine Gebrauchsartikel herstellen, die sie selber verkaufen. Durch solche Methoden deklassiert sich das Proletariat selbst. Wenn auf diese Weise der Arbeiter am freien Handel interessiert wird, dann fühlt er sich als Kleinproduzent, als Kleinbürger. Das ist eine Rückverwandlung des Proletariats in das Kleinbürgertum mit allen seinen Merkmalen. Das Proletariat geht nach den Dörfern zurück, wo es als Kleingewerbler arbeitet. Je größer die Zerrüttung, desto stärker der Prozeß der Entartung des Proletariats, das jetzt mit der Losung des Freihandels usw. auftritt.

Das Proletariat als solches wurde geschwächt. Dazu kam, daß die Elite des Proletariats an der Front getötet wurde. Unsere Armee bestand aus der amorphen Bauernmasse, die sich in der Hand der Kommunisten und Parteilosen befand. Wir haben von diesen tüchtigen proletarischen Kräften unzählige Massen verloren, und diese waren es, die in den Fabriken das größte Ansehen und Vertrauen genossen. Außerdem mußten wir die besten Schichten des Proletariats für den Staatsapparat verwenden, für die Verwaltung aller Dörfer usw. Die proletarische Diktatur in einem Bauernland organisieren, das heißt, die Proletarier wie Figuren auf dem Schachbrett auf bestimmte Posten stellen, um die Bauernmassen zu leiten.“

Unmittelbar vorher erzählt er selbst, daß bei dieser Art „Leitung“ der Bauernschaft die Anbaufläche zurückging, der Bauer nur noch extensiv wirtschaftet und die Überschüsse der Produktion für die Stadt aufhörten.

Die Bucharinsche Darstellung bestätigt die meinige und ergänzt sie noch, indem sie als zweite Ursache des Arbeitermangels neben dem Übergang der Arbeiter zu vorkapitalistischen Produktionsmethoden und zur Flucht aus der Stadt noch die Ablenkung der Arbeiter von produktiver zu unproduktiver Arbeit im Heer, der Bureaukratie, der Polizei nennt. Er merkt gar nicht, welche ökonomische Verurteilung des Sowjetregimes in dieser Feststellung liegt.
 

b) Theoretische Begründung der Arbeitspflicht

Ein jedes Regime, dem sich nicht freiwillig genügend Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, ist geneigt, wenn es über die nötigen Zwangsmittel verfügt, die Arbeiter zu bestimmten Leistungen zu nötigen.

Das Sowjetregime macht darin keine Ausnahme. Auch es hat versucht, den Arbeitszwang einzuführen. Trotzki handelt in seiner Schrift ausführlich darüber und verkündet das völlige Gelingen der Versuche. Das war vor einem Jahr. Seitdem ist es völlig still geworden davon und wir brauchen uns daher mit den russischen Experimenten nicht weiter zu befassen, sondern können ihre Darstellung und Kritik Genossen überlassen, die sie aus der Nähe kennengelernt haben.

Wäre es mir möglich gewesen, Trotzki gleich im vorigen Jahr nach dem Erscheinen seines Anti-Kautsky zu antworten, dann hätte ich auf die russischen Versuche mit dem Arbeitszwang eingehen müssen. Das bloße Warten hat mir diese Arbeit abgenommen. Und das ist in der Regel die bequemste und sicherste Methode, sich mit den bolschewistischen Einrichtungen auseinanderzusetzen. Die Zeit übt die wirksamste Kritik an ihnen. Jede wird mit großem Tamtam als die einzig wahre Lösung des Problems, dem sie gilt, angezeigt, und jeder wird als Verräter beschimpft, der Kritik übt. Nach einem halben Jahr läßt man das Ding als verfehlt liegen, probiert etwas neues, davon ganz verschiedenes, und verkündet mit gleichem Tamtam, jetzt habe man die richtige Lösung gefunden, jetzt werde es rapid vorwärts gehen. Ununterbrochen werden die riesenhaftesten Projekte produziert und dabei schrumpft die Produktion der Güter immer zwerghafter zusammen.

Hinter den großen Projekten verbergen sich meist nur dürftige Notbehelfe, wie sie eine verzweifelte Situation gebiert und verständlich macht. Zur bolschewistischen Taktik gehört es jedoch, das, was Gelegenheitsflickerei für den Augenblick ist, als Ausfluß und notwendige Verwirklichung großer, allgemeiner Prinzipien darzustellen.

So geschah es auch mit dem Arbeitszwang. Statt ihn als einen Notbehelf gegenüber dem Arbeitermangel zu rechtfertigen, den das Sowjetregime herbeigeführt hat, versucht Trotzki ihn als notwendiges Ergebnis der sozialistischen Grundsätze, als unentbehrliches Erfordernis sozialistischer Produktion hinzustellen. Dadurch Bekommt die Frage ein Interesse, das über die russischen Experimente hinausreicht.

Trotzki führt aus:

„Das Prinzip der Arbeitspflicht ist für den Kommunisten vollkommen unstreitig: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen’. Da aber alle essen müssen, so müssen auch alle arbeiten. Die Arbeitspflicht steht in unserer Verfassung und im Arbeitskodex verzeichnet. Aber sie ist bisher nur Prinzip geblieben ... Die einzige, prinzipiell wie praktisch richtige Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten besteht darin, die Bevölkerung des ganzen Landes als ein Reservoir der erforderlichen Arbeitskraft, eine fast unerschöpfliche Quelle, anzusehen und ihre Registrierung, Mobilisierung und Ausnutzung streng zu regeln.

Wie ist nun die Gewinnung von Arbeitskraft auf Grund der Arbeitspflicht praktisch in Angriff zu nehmen?

Bisher besaß nur das Militärressort Erfahrung hinsichtlich der Registrierung, Mobilmachung, Formierung und Transportierung großer Massen. (S. 111)

Die Durchführung der Arbeitspflicht ist undenkbar ohne Anwendung der Methoden der Militarisierung der Arbeit – in höherem oder geringerem Grad. Der Ausdruck dieser Anschauung versetzt uns sofort in ein Gebiet des größten Aberglaubens und oppositionellen Wehgeschreis. (S. 113)

Die Menschewiki treten nicht nur (dieses „nur“ fehlt, offenbar infolge eines Versehens, in der hier zitierten deutschen Aufgabe – K.) gegen die Militarisierung der Arbeit, sondern auch gegen die Arbeitspflicht auf. Sie verwerfen diese Methoden als ‚Zwangsmethoden‘. Sie predigen, daß die Arbeitspflicht gleichbedeutend sei mit geringer Produktivität der Arbeit und daß die Militarisierung eine zwecklose Vergeudung der Arbeitskraft bedeutet. (S. 114)

Daß die freie Arbeit produktiver ist als die zwangsmäßige – das ist für die Epoche des Übergangs von der feudalen Gesellschaft zur bürgerlichen ganz richtig. Aber man muß ein Liberaler oder – in der Gegenwart – ein Kautskyaner sein, um diese Wahrheit zu verewigen und auf die Epoche des Überganges von der bürgerlichen Ordnung zur sozialistischen zu übertragen. Wenn es richtig ist, daß die zwangsmäßige Arbeit stets und unter allen Umständen unproduktiv ist, wie die Resolution der Menschewiki besagt, dann ist unser ganzer Aufbau zum Einsturz verurteilt. Denn einen anderen Weg zum Sozialismus, außer der gebieterischen Verfügung über die Wirtschaftskräfte und Mittel des Landes, außer einer zentralisierten Verteilung der Arbeitskraft in Abhängigkeit vom gesamtstaatlichen Plan kann es für uns nicht geben. Der Arbeiterstaat hält sich für berechtigt, jeden Arbeiter auf den Platz zu stellen, wo seine Arbeit notwendig ist.“ (S. 117, 118)

Damit glaubt Trotzki bewiesen zu haben, daß heute die freie Arbeit nicht produktiver ist, als die Zwangsarbeit in einem „Arbeiterstaat“. Aber gleich darauf erscheint ihm sogar die Leibeigenschaft als ein Fortschritt der Produktivität.

„Auch die leibeigene Organisation war unter bestimmten Bedingungen ein Fortschritt und führte zur Steigerung der Produktivität der Arbeit.“ (S. 119)

Trotzki erzählt uns dann, daß die Bourgeosie nur dadurch die freien Arbeiter zu höherer Produktivität erzog, daß sie sich aller Mittel der Beeinflussung des Proletariats zu seiner Erziehung bemächtigte, der Kirche, der Presse, der Parlamente, ja schließlich der Gewerkschaftsführer, die den Arbeitern Fleiß und Disziplin einpaukten.

Ebenso müßten jetzt die Bolschewiks die Arbeiter zur Arbeitsamkeit bringen.

„Die Arbeiterklasse muß unter Leitung ihres Vortrupps sich selbst auf den Grundlagen des Sozialismus neu erziehen. Wer das nicht begriffen hat, der versteht nicht einmal das Einmaleins des sozialistischen Aufbaues.“ (S. 121)

Die Selbsterziehung durch den vom „Vortrupp“ ausgeübten Arbeitszwang – dieses Einmaleins des Sozialismus begreife ich allerdings ebensowenig, wie das Hexeneinmaleins in Goethes Faust.

Trotzki erklärt dann, zu dieser Selbsterziehung brauchen die Bolschewiks „weder priesterliche, noch liberale, noch Kautskyanische Märchen“. Die Selbsterziehung wird unter anderem illustriert durch den Satz:

„Die Durchführung der Arbeitspflicht ist für uns nicht anders denkbar, als durch Mobilmachung vornehmlich der bäuerlichen Arbeitskräfte unter der Leitung der fortgeschrittenen Arbeiter.“ (S. 126)

Also Leibeigenschaft für die Bauern und Verwandlung der „fortgeschrittenen“ Arbeiter in Sklavenvögte. Eine feine Erziehung für die einen und die andern.

Seitdem ist bekanntlich das Gegenteil geschehen. Lenin sah sich gezwungen, den Bauern im Interesse der Produktivität ihrer Arbeit diese völlig freizugeben, er hat also, um mit Trotzki zu sprechen, „unsern (der Bolschewiks) ganzen Aufbau zum Einsturz verurteilt“.

Aber für den industriellen Lohnarbeiter gilt leider noch, was Trotzki (S. 140) sagt:

„Der Arbeiter feilscht nicht einfach mit dem Sowjetstaat – nein, er ist dem Staat verpflichtet, ist ihm allseitig untergeordnet, weil es sein Staat ist.“

Wie dieser Staat sein Staat ist, sagt Trotzki selbst einige Seiten früher (S. 126), wo er bemerkt, die Kontrolle des Staatsapparats

„bleibt in den Händen der Arbeiterklasse in Person ihrer (!) Kommunistischen Partei.“

„Sein“ Staat ist also der Staat der Kommunistischen Partei, die ihrerseits wieder ein Werkzeug ihres Zentralkomitees ist. Diesem ist der Arbeiter „allseitig untergeordnet“. Auf solche Weise wird das Proletariat aus den Fesseln des Kapitals befreit.
 

c) Das Faultier

Es stünde schlimm um den Sozialismus, wenn Trotzkis Behauptung richtig wäre, daß er ohne jenen Arbeitszwang, den er im Auge hat, nicht durchführbar ist. Der Widersinn dieser Behauptung liegt nicht so nahe zutage, daß er nicht einige Beleuchtung erforderte.

Dabei muß ich leider nach meiner Gewohnheit etwas weiter ausholen und bis in die Urzeit zurückgehen, auf die Gefahr hin, abermals dem Spott Trotzkis zu verfallen, der mich ob dieser Gewohnheit in seiner Entgegnung wiederholt verhöhnt. So S. 153, wo er schreibt:

„In seinem, dem Bolschewismus gewidmeten Büchlein, wo die Frage auf 154 Seiten behandelt wird, erzählt Kautsky ausführlich, womit sich unser entferntester menschenähnlicher Urahne ernährt hat und spricht die Vermutung aus, daß er, vorwiegend von Pflanzennahrung lebend, diese doch hier und da durch kleinere Tiere, Raupen, Würmer, Reptilien usw., eventuell auch noch flügge kleine Vögel ergänzte. (S. S.85) Mit einem Wort, nichts hätte zu der Annahme veranlaßt, daß von einem solchen höchst respektablen und zum Vegetarismus scheinbar geneigten Urahnen so blutgierige Nachkommen ihre Herkunft nahmen wie die Bolschewiki. Seht, auf welch solide wissenschaftliche Basis die Frage von Kautsky gestellt ist.“

Das klingt sehr spaßhaft, doch Trotzki ist dabei nichts weniger als spaßhaft zumute. Es bildet nur die Einleitung zu einem Ausbruch schäumendster Wut:

„Hier, wie es nicht selten mit Erzeugnissen solcher Art vorkommt, verbirgt sich hinter dem akademisch-scholastischen Gewand ein boshaftes politisches Pamphlet. Es ist eines der lügenhaftesten und gewissenlosesten Bücher.“

Den Wutausbruch beachte ich nicht, dagegen möchte ich einige Worte über meine Methode sagen, die von Trotzki in der spaßhaften Einleitung zum Donnergepolter lächerlich gemacht wird.

Ich fasse den historischen Materialismus in dem Sinne auf, daß der Mensch wie jedes Lebewesen bestimmt wird durch seine Lebensbedingungen, von denen die natürlichen sich für die Zeiträume der menschlichen Geschichte nicht merklich ändern – außer für Individuen, die wandern – so daß alle Änderungen im Menschen und namentlich im wandelbarsten Gebiet seines Wesens, in seinen geistigen Begabungen, Neigungen, Funktionen auf Änderungen seiner Ökonomischen Bedingungen zurückzuführen sind, die im Laufe der Geschichte oft sehr rasch wechseln.

Die Gestalt, die ein Organismus oder eine seiner Fähigkeiten unter dem Einfluß eines bestimmten Milieus annimmt, hängt nun nicht von diesem Milieu allein ab, sondern ebensosehr von der Gestalt und der Fähigkeit, mit der der Organismus in dieses Milieu eintritt. Dieselbe tropische Wüstensteppe wirkt auf den Löwen und die Gazelle, auf die Viper und den Mistkäfer, aber auf jeden anders.

So muß ich auch, um die Wirkungen eines besonderen historischen Milieus begreifen zu können, wissen, wie der Mensch aussah, ehe er in dieses Milieu eintrat. Um zu völligem Verständnis zu gelangen, muß ich oft bis in die Urzeit zurückgehen, die auch meine großen Meister stets stark beschäftigt hat.

Das Wesen der Moral und ihrer Wandlungen ist z.B. meines Erachtens gar nicht zu begreifen ohne Zurückgreifen auf den Urmenschen und seine Ahnen. Und gerade heute, in einem Zeitalter, in dem Blutvergießen und Menschenmord selbst durch manche Sozialisten zu Alltäglichkeiten geworden sind, darf einen Forscher wohl die Frage beschäftigen, ob hier ein Atavismus vorliegt, ein Rückfall in die ursprüngliche Menschennatur, die immer wieder durchzubrechen droht, oder bloß die Wirkung außerordentlicher Umstände.

Dieses Problem mag ja einem Kriegsminister sehr überflüssig und komisch erscheinen. Ich bedaure aber, von meiner Methode nicht lassen zu können.

Ich werde bestärkt darin dadurch, daß Trotzki selbst sich genötigt sieht, auch in die Urzeit zurückzugehen. Bloß macht er es apodiktischer ab und schenkt sich jede Begründung, kommt also mit einer Zeile aus, wo ich mehrere Seiten brauche.

Sein ganzer Beweis, daß der Arbeitszwang unentbehrlich ist, beruht nämlich auf der verblüffenden zoologischen Feststellung:

„Man kann sagen, daß der Mensch ein rechtes Faultier ist.“ (S. 109)

Das ist alles. Solcher taciteischen Kürze bin ich allerdings nicht fähig. Ich muß diesen Satz, der das Herz eines jeden Sklavenhalters erfreuen wird, etwas näher prüfen.

Nach der Annahme der Entwicklungslehre, einerlei ob darwinistischer oder lamarckistischer Art, stammt der Mensch von einem affenähnlichen Wesen ab. Die Affen aber sind sicher höchst rührigen und rastlosen Wesens. Ihre Lebensbedingungen treiben sie zu steter Bewegung, sowohl zu Zwecken der Nahrungssuche wie zur Sicherung vor feindlichen Tieren.

Die Organe eines jeden Tieres sind seinen Lebensbedingungen angepaßt. Ihr Funktionieren in der von den Vorfahren ererbten Weise gehört zu den Lebensbedürfnissen des Organismus. Ihre Betätigung erweckt Befriedigung, jede Hemmung dagegen Unlust. In diesem Sinne gehört die Arbeit, das heißt die Tätigkeit zur Gewinnung des Lebensunterhalts und Sicherung des Lebens, zum Lebensprozeß des Tieres, ist ihm Bedürfnis, nicht etwas Verhaßtes.

Eine Änderung dieses Zustandes wird erst angebahnt durch die Schaffung von Werkzeugen, von künstlichen Organen, durch die der Mensch seine natürlichen vergrößert und verstärkt und sich somit über das Tier erhebt. Die Anwendung dieser künstlichen Organe kann nun Tätigkeiten nötig machen, die durchaus nicht mit den ererbten Funktionen der natürlichen Organe übereinstimmen und als unangenehm empfunden werden.

Doch ist das nicht notwendigerweise und im Anfang der Kulturentwicklung nur selten der Fall. Da dienen die künstlichen Werkzeuge, Behelfe, Waffen, meist nur dazu, die ererbten, mit Lust ausgeführten Tätigkeiten intensiver und erfolgreicher zu betreiben. Zum Beispiel der Jagd auf kleine Tiere nun auch die auf größere hinzuzugesellen. Sich der feindlichen Raubtiere leichter zu erwehren, zu denen nun freilich sich der einer fremden Horde angehörige Mensch gesellt, da die Waffe dem Pflanzenfresser Raubtierorgane verleiht.

Das Tier hat nicht nur Bedürfnisse nach Nahrung und Sicherung, sondern auch wach angenehmen Eindrücken der Sinnesorgane. Schon das Tier hat ästhetische Empfindungen, Wohlgefallen an bestimmten Tönen, Farben, Formen. Die Entwicklung der Technik gibt dem Menschen die Fähigkeit, solche angenehme Empfindungen für sich und seine Genossen künstlich zu erzeugen, indem er seinen Körper, seine Kleidung, seine Geräte und Waffen, seine Wohnung, und sei es nur eine Höhle, mit ihm gefälligen Farben und Formen schmückt und Instrumente erfindet, um ihm gefällige Töne zu erzeugen.

Zu den normalen Betätigungen eines Tieres gehört auch die Beobachtung seiner Umgebung und die Entdeckung derjenigen kausalen Zusammenhänge, von denen sein Wohl und Wehe abhängt, z. B. das Herausfinden der Anzeichen der Nähe von Beutetieren oder Futterplätzen oder Feinden, des Nahens von Wetterveränderungen usw.

Die Erfindungen und Entdeckungen, die selbst eine Folge der Beobachtung von Zusammenhängen zwischen bestimmten Ursachen und Wirkungen sind, bieten die Anregung und Möglichkeit weiterer derartiger Beobachtungen.

So bildeten sich mit der technischen Entwicklung neben den Anfängen künstlerischer auch die wissenschaftlicher Tätigkeit. Sie entsprechen dem angeborenen Wesen des Menschen ebenso wie die Jagd und die Bekriegung des Feindes, und gehören zu den Tätigkeiten, die mit Leidenschaft betrieben werden.

Daneben aber erzeugt die aufkeimende Technik auch eine Reihe von Tätigkeiten, die an sich keine genußreichen, mit Leidenschaft betriebenen sind, wie das Umhacken des Bodens zum Anbau von Pflanzen, die Zubereitung von Fellen zur Anfertigung von Kleidern, das Herstellen von Zelten oder Blockhäusern, die Fabrikation von Gefäßen usw. Dennoch werden auch diese Tätigkeiten gern verrichtet, wegen ihres Endeffektes, weil man das Produkt oder die Leistung braucht, die sie hervorbringen.

Lange Zeit bedeutet der technische Fortschritt eine Vermehrung der Arbeit, die dem Menschen obliegt. Trotzki irrt, wenn er meint, der menschliche Fortschritt sei auf die angeborene Faulheit begründet, denn die Entwicklung der Technik entspringe dem Bedürfnis, Arbeit zu sparen. (S. 109, 110)

So allgemein kann man das nicht sagen. Die arbeitsparende Maschine tritt erst bei einem ziemlich hohen Stande der Technik auf. Die Anfänge des technischen Fortschritts entspringen vielmehr dem Bedürfnis erhöhter Sicherung gegen die Gefahren und Zufälligkeiten des Lebens, gröberer Regelmäßigkeit der Nahrungszufuhr, vermehrten Schutzes gegen wechselnde Witterungseinflüsse und gegen Feinde und endlich dem Bedürfnis nach Steigerung von Genüssen oder nach Erschließung neuer.

Die ganze künstlerische Tätigkeit des Menschen bedeutet ein Mehr an Arbeit, die sein tierischer Vorfahre nicht kannte, ebenso alles Weben und Flechten, Zimmern und Drechseln usw. Als die Menschen darauf kamen, daß ein gerösteter Brei aus zerstampften Getreidekörnern besser mundete als roh gekaute, bedeutete das die Vermehrung ihrer Arbeit durch die große Mühsal des Zerreibens oder Zerstampfens des Getreides in Mörsern oder auf Mahlsteinen. Die Verminderung dieser Arbeit durch die Wassermühle ist erst späten Datums.

Wieviel Arbeit hat für die Menschen nicht die Entdeckung des Feuers, des Kochens, Bratens, Backens nach sich gezogen!

Als geborne Faulpelze hätten sie sich das alles vom Leibe gehalten und wären nie an die Erfindung und Herstellung eines Werkzeugs oder Geräts geschritten.

Ein Unterschied entwickelt sich allerdings mit dem Fortschritt der Technik. Die Arbeit sondert sich in zwei Arten: eine, die in sich schon eine Lust oder Leidenschaft ist, und eine, die an sich unangenehm ist und nur betrieben wird um ihres Ergebnisses willen.

Die Arbeiten der ersteren Art suchte der Mensch keineswegs loszuwerden; er suchte sie und gab sich ihnen aus vollem Herzen hin. Die der zweiten Art dagegen hätte er gern von sich abgeschoben, wenn es möglich gewesen wäre, ohne ihren Ertrag zu schmälern, oder wenn er zum Produkt hätte gelangen können ohne eigene Arbeit.

Doch viele Jahrtausende mußten vergehen, ehe man soweit war, dies Ergebnis durch die Maschinen mit Erfolg anstreben zu können.

Viel früher tritt eine andere, sehr einfache Methode auf: Man nimmt andern die Produkte ihrer Arbeit, gewinnt die Produkte, ohne selbst zu arbeiten, das heißt, ohne unangenehme Arbeit zu leisten. Man gewinnt sie durch die dem barbarischen Menschen sehr angenehme Arbeit des Krieges. Dieser, für ihn an sich schon eine Lust, wird es doppelt durch die Kriegsbeute.

Doch die Plünderung im Kriege ist ein Verfahren, das sich nicht oft wiederholen läßt, da es meist die Quellen der Produktion verschüttet. So kommt der Mensch zu einem höheren Verfahren, das dem Sieger die regelmäßigen Bezüge von Produkten und Leistungen aus unangenehmen Arbeiten sichert: Man plündert nicht nur den Besiegten, sondern macht ihn auch zum Sklaven, den man fortschleppt und im siegreichen Lande dem eigenen Betrieb einverleibt. Oder man läßt den Besiegten dort, wo er war und legt ihm die Lieferung bestimmter Produkte oder Arbeiten für den Sieger auf.

Die Sklaverei und die Fronarbeit, das und nicht arbeitsparende Maschinen sind die Mittel, die der kräftigere Teil der Nationen zuerst anwendet, um, ohne selbst unangenehme Arbeit zu verrichten, deren Ergebnis zu erlangen.

Nicht jede Arbeit wollen sich die herrschenden Klassen dadurch ersparen, sondern nur die unangenehmen. Sich selbst behalten sie die angenehmen oder anregenden vor, Kunst und Wissenschaft, sowie Jagd und Krieg, wobei je nach den sozialen Verhältnissen einmal die ersteren, ein andermal die letzteren bevorzugt werden. Die Sklaven und Hörigen aber werden auf die unangenehmen Arbeiten beschränkt.

Diese Arbeiten erhalten nun den Charakter der Arbeit überhaupt.

Der freie Arbeiter hatte in seinen Tätigkeiten gewechselt, angenehme und unangenehme gemischt. Das hatte die letzteren erträglich gemacht. Die Zwangsarbeiter werden dagegen der Monotonie der unangenehmen Arbeit allein preisgegeben. Dazu kommt, daß für sie der Anreiz verloren geht, den für den freien Arbeiter die unangenehme Arbeit dadurch bekam, daß ihr Ergebnis ihm zufiel. Der Sklave hat bloß die Mühe des Schaffens, den Genuß am Produkt hat ein anderer.

Neben dem Gegensatz zwischen denen, die nur angenehme und denen, die nur unangenehme Arbeit leisten, taucht jetzt noch der andere auf, zwischen mühselig sich Abrackernden und völlig arbeitslos Genießenden.

Zu alledem gesellt sich noch das Wegfallen der Beschränkung der Arbeitszeit, die der freie Arbeiter sich erlauben durfte. Dieser dehnt die Arbeitszeit nur so weit aus, als das Vergnügen am erwarteten Produkt überwiegt. Es fällt ihm nicht ein, sich eine Arbeitsqual aufzuerlegen, die nicht durch die Befriedigung über das erwartete Ergebnis der Arbeit aufgewogen wird. Diese Beschränkung fällt für den Sklavenhalter weg, der selbst nicht mitarbeitet. Er läßt seinen Knecht solange schuften, als dessen Kräfte reichen.

Überarbeit, Monotonie, Mangel jeglichen Interesses am Ergebnis der Arbeit bewirken, daß der Sklave und der Fronarbeiter die ihnen auferlegte Arbeit hassen, sie sabotieren, sich von ihr drücken, wo sie können, nur durch die Peitsche und grausame Strafen an der Arbeit gehalten werden können.

Der Sklave hier, der Genießende dort, sie werden jetzt richtige Faultiere, der eine in der Wirklichkeit, der andere im Wunsche. Aber es ist nicht so, wie Trotzki sagt, daß der Mensch von Natur ein Faultier ist und darum des Arbeitszwanges bedarf. Das Umgekehrte ist richtig: aus der Zwangsarbeit entspringt erst die Faultiernatur des Menschen.

Aus der Faultiernatur des Zwangsarbeiters entspringt auch die geringe Produktivität seiner Arbeit. Er arbeitet nicht bloß widerwillig und lässig, er ist auch unachtsam, schonungslos gegen Arbeitstiere und Arbeitsgeräte. Nur die plumpsten und rohesten Werkzeuge kann man ihm anvertrauen.

Und das hat sich bis heute nicht geändert. Auch die Zwangsarbeiter der Sowjetrepublik konnte man nur benutzen zu so primitiven Arbeiten, wie Holzfällen, Torfgraben, Reinigen von Eisenbahngeleisen u. dgl.

Wohl hat es im Altertum hochintelligente, feingebildete Sklaven gegeben, die zu sehr wichtigen Funktionen verwendet wurden; aber die waren als freie Männer erzogen worden und wurden nicht im Produktionsprozeß, sondern zu persönlichen Diensten verwendet, wo sie Ausnahmsstellungen erhielten.

Wenn Trotzki behauptet, die Leibeigenschaft sei ein Fortschritt gewesen und habe eine Steigerung der Produktivität der Arbeit herbeigeführt, so ist der erste Satz richtig, der zweite falsch.

Leibeigenschaft und Sklaverei waren Fortschritte insofern, als sie es ermöglichten, daß eine Klasse erstand, die sich ausschließlich der Wissenschaft widmete. Jetzt erst konnte diese im eigentlichen Sinne des Wortes erstehen und ihre die Welt erhebende und umwäßende Wirkung beginnen.

Doch so hoch auch dieses Ergebnis anzuschlagen ist, es war teuer erkauft mit dem unendlichen Elend und der geistigen Degradation von Millionen arbeitender Menschen. Und das war nicht die einzige dunkle Seite der Bedingungen, die den Aufstieg der Wissenschaft förderten.

Die Zwangsarbeit der Massen förderte allerdings Kunst und Wissenschaft, aber sie ließ auch eine Klasse erstehen, die nur der Jagd und dem Kriege frönte, für ihn große Mittel erhielt und so die Quelle immer wieder erneuter und furchtbarer Verwüstungen wurde.

Und nicht genug damit. Wo Sklaverei und Fronarbeit überhand nehmen und die freie Arbeit zurückdrängen, geht die Produktivität der Arbeit zurück, vermindert sich die Bevölkerung, sie verarmt, die Städte schwinden, die Gesellschaft verkommt oder wird das Opfer benachbarter Volksstämme, in denen noch die freie Arbeit überwiegt.

Fast alle Kulturvölker des Altertums haben diesen Prozeß durchgemacht, und in gleicher Weise viele neuere Nationen unter dem Einfluß des Feudalismus; wir erinnern an Spanien, Süditalien, die Länder der Türkei.

Man hat angenommen, es sei ein Naturgesetz, daß die Staaten, wie die Menschen, nachdem sie Jugend und Mannheit durchgemacht haben, altern und schließlich sterben.

Aber es sind nur die Folgen der Zwangsarbeit, die die Alterserscheinungen hervorrufen.

Eine andere Entwicklung haben wir in China. Es hielt sich von der Sklaverei frei und auch der Feudalismus nahm keine große Ausdehnung an. Die freie Arbeit überwog. China hat daher den Untergang der antiken Welt nicht mitgemacht und ebenso nicht den der neueren feudalen.

Aber seine freie Arbeit auf der Grundlage eines allgemeinen Privatbesitzes an den Produktionsmitteln hinderte jedes Aufwärtssteigen zum Großbetrieb. Der Chinese als freier Arbeiter ist frei von jeglicher Faultiernatur. Er ist der arbeitseifrigste Mensch der Welt. Aber die chinesische Produktionsweise hat es nur zu weitestgehender Arbeitsteilung der Berufe und höchster Ausbildung der Handgeschicklichkeit gebracht. Darüber hinaus konnte sie nicht. Sie blieb stehen. Sie verkam nicht, wie nacheinander die verschiedenen Staaten des Altertums im Westen, aber sie erstarrte.

Eine Höherentwicklung wurde nur möglich durch das Aufkommen der Lohnarbeit freier Arbeiter.
 

d) Die Lohnarbeit

Es würde zu weit führen, hier die Entwicklung der Lohnarbeit zu schildern. Das ist schon oft genug geschehen, auch von mir. Ich hätte hier nichts Neues darüber zu sagen.

Die Lohnarbeit wird in den letzten drei Jahrhunderten zu einer Massenerscheinung in dem europäischen Gesellschaftsbau, ausgehend von Westeuropa, nachdem sie schon im Mittelalter durch das Gesellenwesen eingeleitet worden war und im Bergbau bereits im 16. Jahrhundert große Bedeutung gewonnen hatte. Der Lohnarbeiter ist ein freier Arbeiter ebenso wie der primitive freie Arbeiter, den wir bisher im Auge gehabt. Doch sind beide sehr verschieden. Der primitive freie Arbeiter besitzt seine Produktionsmittel selbst, entweder gemeinsam mit andern oder als privates Eigentum. Der Lohnarbeiter ist bar jeden Besitzes an Produktionsmitteln, die einem andern gehören, dem Kapitalisten, dem er seine Arbeitskraft verkauft, in dessen Betrieb er tätig ist, dem das Produkt seiner Arbeit zufällt.

Dies hat er mit dem Sklaven gemein, von dem er sich jedoch dadurch unterscheidet, daß er seine eigene Familie hat, außerhalb des Betriebs ein freier Mann ist? wenigstens vom Betriebsleiter frei, und daß er den Betrieb, in dem er arbeitet, und seinen Aufenthaltsort nach Belieben wechseln kann.

Dank diesen Unterschieden kann die Produktion seit dem Aufkommen der massenhaften Lohnarbeit eine Entwicklung nehmen, die es ihr erlaubt, das Verkommen zu vermeiden, an dem die Staaten des Altertums zugrunde gingen, und das in der neueren Zeit die Feudalstaaten heruntergebracht hat, aber auch die Stagnation chinesischer Zustände nicht aufkommen zu lassen. Vielmehr vermag nun die Produktion in steter technischer und ökonomischer Revolution einen märchenhaften Aufschwung aus dem feudalen Niedergang heraus zu nehmen.

Wohl ist in seinen Anfängen das Lohnproletariat schlechter daran, nicht nur als der besitzende freie Arbeiter, sondern oft sogar als der Leibeigene und selbst der Sklave. Wenn nicht ein solcher Überfluß an Sklavenzufuhr herrschte, daß sie billig zu erstehen waren, repräsentierte jeder von ihnen einen Wert für den Besitzer. Dieser hatte ein Interesse daran, ebenso wie beim Arbeitsvieh, den Sklaven so zu füttern und vor Überlastung zu bewahren, daß er nicht vorzeitig zugrunde ging. Diese gleiche Rücksicht bestand beim Proletarier nicht. Seine Arbeitszeit wurde maßlos ausgedehnt, sein Lohn auf Hungerrationen reduziert.

Und die Sklaven mußten ebenso wie das Arbeitsvieh vom Besitzer auch dann gefüttert werden, wenn dieser keine Beschäftigung für sie hatte. Der Lohnarbeiter wird auf die Straße geworfen, wenn der Unternehmer nichts für ihn zu tun hat und kann dort elend verhungern.

Aber bei alledem lag in der Freiheit des Lohnarbeiters der Keim zu einer Entwicklung, die ihn und die Produktionsweise, in der er wirkte, immer höher führen sollte.

Dazu dienten nicht bloß die Freiheiten, die ihn vom Sklaven und Leibeigenen schieden, die Freizügigkeit, Freiheit der Berufs- und der Betriebswahl, sondern auch jene „Freiheit“, die er selbst am schmerzlichsten empfand, die Freiheit von jeglichem Besitz. Dem freien besitzenden Arbeiter hemmt sein Besitz die Bewegungsfreiheit. Namentlich der Bauer ist durch ihn an die Scholle gefesselt; doch auch der Handwerksmeister, der in der Stadt ein Haus sein eigen nennt, ist an sie gebunden. Der Proletarier ist frei, dorthin zu ziehen, wo er am besten gedeiht oder doch am wenigsten geschunden wird – ökonomisch frei. Ich spreche nicht von staatlichen Paßschikanen und ähnlichen schönen Dingen, die dem Krieg und nicht der modernen Produktionsweise entspringen.

Die Proletarier können sich in Industriezentren in großen Massen konzentrieren, wo sie außerhalb des Betriebs nicht zu kontrollieren sind, wo sie die Möglichkeiten bekommen, sich zu organisieren und ihre Kräfte zu entwickeln. Sie werden dabei gefördert durch die gleichzeitig mit dem Kapitalismus auftretende Tendenz zur Demokratie, die allen arbeitenden Klassen hilft, den besitzenden wie den besitzlosen, den Bauern und Handwerkern, wie den Lohnarbeitern, diesen aber am meisten. So gelingt es ihnen allmählich, ihre unmenschliche Arbeitszeit zu verkürzen, ihre Löhne zu erhöhen, ihre Intelligenz zu entwickeln, Kraft und Selbstbewußtsein zu gewinnen und schließlich sogar Macht zu üben, ökonomische und noch mehr politische.

Ihr Aufstieg fördert nicht nur sie selbst, sondern auch die Produktion. Solange der Lohnarbeiter dem Sklaven ähnlich ist, bleibt er auch unfähig zu höherer Arbeit, zur Bedienung empfindlicher Maschinen. Die Loslösung der Arbeiter vom individuellen Besitz an Produktionsmitteln schafft die Möglichkeit, sie in einzelnen Großbetrieben in größerer Zahl zu vereinigen. Aber erst der intellektuelle und moralische Aufstieg der Arbeiter macht sie fähig, mit Erfolg an empfindlichen Maschinen tätig zu sein. Wohl hatte das Handwerk eine Menge geschickter Arbeitskräfte geschaffen, die fähig waren, auch an empfindlichen Maschinen zu arbeiten. Aber die Reserve solcher Kräfte mußte bei zurückgehendem Handwerk und fortschreitendem Kapitalismus rasch erschöpft sein, wenn nicht inzwischen die Lohnarbeiterschaft selbst sich genügend hob, um aus ihrer Mitte einen ausreichenden Nachwuchs an fähigen Arbeitskräften zu liefern.

Der freie Lohnarbeiter ist von vornherein eher geeignet, Arbeiten auszuführen, die Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit erfordern, als der Sklave, also eher geeignet, die im Großbetrieb liegenden Möglichkeiten größerer Produktivität gegenüber dem Kleinbetrieb zu entwickeln. Denn der Arbeiter, der nachlässig arbeitet, kann entlassen, der Sklave dagegen nur geprügelt werden. Der Kapitalist hat die leichtere Möglichkeit der Auslese seiner Arbeitskräfte und den stärkeren Antrieb, denn die Hungerpeitsche ist wirksamer als die aus Leder.

Es bedarf jedoch höher entwickelter Arbeitskraft als die ursprünglichen Proletarier waren, um die allseitige Entwicklung des Maschinenwesens zu ermöglichen. Sobald diese Möglichkeit eintrat, machte das Kapital von ihr eifrig Gebrauch. Jetzt erst und nicht in den Anfängen der Kultur wird die Erfindung arbeitsparender Maschinen eine wichtige Aufgabe des Erfinders. Die Triebkraft ihrer Anwendung ist der Profit, der für den einzelnen Kapitalisten um so größer ist, je geringer seine Produktionskosten im Verhältnis zu den durchschnittlich üblichen.

Der Antrieb, arbeitsparende Maschinen einzuführen, wird umso größer, je mehr das Proletariat an Kraft zunimmt. Wenn seine wachsende Intelligenz die Einführung vieler Maschinen erleichtert oder erst ermöglicht, so drängen Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen den Kapitalisten direkt dahin, möglichst viele Arbeitskräfte durch Maschinen zu ersetzen. So wachsen im Zeitalter des Kapitalismus gleichzeitig die Kraft des Proletariats und die Produktivität seiner Arbeit. Es wächst die Möglichkeit des Wohlstandes für alle und die Macht derjenigen, die von diesem Wohlstand bisher ausgeschlossen waren und nach ihm verlangen. Daraus ersteht die Möglichkeit und schließliche Unabwendbarkeit des Sozialismus. Er wird nicht hervorgehen aus dem Zusammenbruch des Kapitalismus. Das ist eine ganz falsche Vorstellung, die gewonnen ist aus der Analogie mit der bürgerlichen Revolution. Diese war ein Resultat des Verkommens und Versagens der feudalen Produktion. Aber ein solches Versagen führte nicht notwendig zur Revolution, sondern häufig zum Untergang des Staates. Nur wo innerhalb des Feudalismus schon kapitalistische und damit demokratische Kräfte auftauchten, kam es zu seiner Überwindung durch eine aufwärtsführende Revolution.

Der Kapitalismus ist eben eine Produktionsweise ganz eigener Art. Er führt nicht, wie Feudalismus und Sklaverei, zum Verkümmern der Produktivkräfte, sondern zu ihrer kräftigsten Entfaltung. Er muß also in ganz anderer Weise ein Ende nehmen, als die alten Gesellschaften der Sklaverei und Fronarbeit.

Ich habe stets die Ansicht bekämpft – unter anderem in meiner Schrift gegen meinen Freund Bernstein 1899 – , daß der Sozialismus aus dem Zusammenbruch des Kapitalismus hervorgehen werde. Ich erklärte damals diese Auffassung als eine Übertreibung Marxscher Gedankengänge zu Zwecken revisionistischer Kritik. Ich ahnte nicht, daß das, was ich als Bernsteinsches Mißverständnis Marxscher Gedankengänge betrachtete, einmal einen bolschewistischen Glaubensartikel darstellen werde.

Ich hielt es für möglich, daß die Ausdehnung des Kapitalismus schließlich ein Hindernis insofern finden könne, daß der Markt sich nicht so rasch ausdehne, wie die Produktivkräfte, was zu chronischer Überproduktion oder zu der Einengung der Produktion durch Kartelle führen könne. Ich bin seitdem in Bezug auf die Ausdehnungsfähigkeit des Marktes durch Beobachtungen und theoretische Arbeiten optimistischer geworden. Aber auch damals erwartete ich das Kommen des Sozialismus nicht von der chronischen Überproduktion und schon gar nicht von einer der ihr vorhergehenden Krisen, die dem kapitalistischen Krisenzyklus eigentümlich sind, sondern von der Verschärfung der Klassengegensätze und dem Wachsen des Proletariats an Kraft, also, um mit Marx zu sprechen, von der

„Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse.“ (Kapital, I. Volksausgabe, S. 690)

Der Sklave und der Leibeigene vermochten sich unter Umständen auch zu empören, aber sie waren unfähig zu einem dauernden, organisierten Klassenkampf, der ihre Fähigkeiten höher entwickelt hätte. Und wäre es ihnen gelungen, einmal irgendwo die Macht zu gewinnen, hätten sie nichts anderes damit anzufangen gewußt, als sich selbst in freie besitzende Arbeiter zurückzuverwandeln, den Zustand wieder herzustellen, aus dem sie hervorgegangen waren. Sie zeigten sich unfähig, die Gesellschaft höher zu entwickeln.

Das vermag nur die Lohnarbeiterschaft und nur sie findet in den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit den Antrieb wie die Möglichkeit dazu.

Weil wir aber von der Kraft des Proletariats und nicht vom Zusammenbruch des Kapitalismus den Sozialismus zu erwarten haben, ist es ganz töricht, wenn heute viele Revolutionäre glauben, wir hätten nichts wichtigeres zu tun, als die nach dem Kriege beginnende Wiederbelebung des Produktionsprozesses zu stören und die Krisis zu verschärfen, denn um den Sozialismus sei es geschehen, wenn der Kapitalismus sich wieder befestige.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Nie ist das Proletariat ökonomisch schwächer, weniger kampffähig, als in Zeiten der Krisis. Nie macht es rascher Fortschritte und zeigt es sich entschlossener und kampflustiger, als in Zeiten der Prosperität. Und die ökonomische Situation wirkt auf die politische zurück.

Ich weiß mich zu erinnern, daß es einmal tiefen Eindruck auf mich machte, als Engels mir, ich glaube, es war 1886, sagte:

„So lange die Krisis dauert, werden wir das Sozialistengesetz schwerlich los. Laß aber erst wieder einmal die Geschäfte besser gehen und der deutsche Arbeiter läßt sich das Sozialistengesetz nicht länger gefallen.“

Das überraschte mich, denn ich, wie wohl die meisten von uns, hatte erwartet, gerade das Elend der Krise müsse die Arbeiter am rebellischsten machen. Aber Engels behielt recht.

Wir dürfen nie vergessen, daß, so wie die kapitalistische Produktionsweise nicht etwa eine besondere Abart des Feudalismus, sondern von diesem grundverschieden ist, so auch das Ende des Kapitalismus ganz anderer Art sein wird,  als das des Feudalismus.

Die bürgerlichen Revolutionen entsprangen aus Hungerrevolten verzweifelnder Massen. Die revolutionäre Bedeutung der Lohnarbeiter für den Sozialismus besteht in ihrem Aufsteigen aus dem Stadium der Verzweiflung in das Stadium der Kraft. Nicht aus ihrer Verzweiflung, aus ihrer Kraft wird die Überwindung des Kapitalismus und der Fortschritt zum Sozialismus kommen. Diese Kraft ist bei gutem Fortgang der Produktion größter, als bei ihrem Stocken und Versagen.
 

e) Die freie Persönlichkeit

Die Kraft der Lohnarbeiterschaft wird es sein, die den Sozialismus bringt. Damit ist aber auch gesagt, daß sie entscheiden wird, welche Gestalt er annimmt. Er wird ein Resultat sein der Bedürfnisse und Fähigkeiten des Proletariats, sowie der technischen und ökonomischen Mittel, die es vorfindet, und nicht die Verwirklichung irgend eines utopistisch ausgeheckten Planes einer „Vollsozialisierung“ oder eines sonstigen Ideals.

In diesem Sinne sagte Marx in seinem Bürgerkrieg in Frankreich:

„Die Arbeiterklasse verlangte keine Wunder von der Kommune. Sie hat keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoße der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben.“

Die Einrichtungen, die durch die Arbeiter in den einzelnen Staaten geschaffen werden, können also sehr verschiedener Art sein. Es gibt keine allgemeingültige Schablone für sie. Sie werden sich in den verschiedenen Staaten nach den dort bestehenden Bedingungen richten.

Eines aber ist sicher: nirgends werden die Arbeiter auf die Freiheiten verzichten, die sie bisher errungen haben und die ihnen teuer sind; weder ihre politischen noch ihre ökonomischen. Es ist ein schlimmes Zeichen für die Degradation der russischen Arbeiter unter dem gegenwärtigen Regime, daß sie sich den Verlust der Freiheit der Presse und der Versammlungen, sowie die Kneblung der Sowjets gefallen Heizen. Englischen oder deutschen Arbeitern, die die Staatsmacht gewonnen, dürfte man derartiges nicht bieten. Schon gar nicht aber den Verlust der Freizügigkeit, sowie der Freiheit der Berufs- und Betriebswahl.

Das aber verlangt der Trotzkische Plan, und danach wurde auch in Rußland vorgegangen. Trotzki selbst erzählt z. B., daß durch das Uralkomitee für Arbeitspflicht diese auf 4000 qualifizierte Arbeiter angewandt wurde:

„Von wo sind sie gekommen? Hauptsächlich aus der – ehemaligen dritten Armee. Man hat sie nicht nach Hause gelassen, sondern an ihren Bestimmungsort befördert. Aus der Armee hat man sie dem Komitee für Arbeitspflicht übergeben, das sie nach Kategorien verteilt und auf die Betriebe geschickt hat. Das ist – vom liberalen Standpunkt aus – eine „Vergewaltigung“ der Freiheit der Person. Die erdrückende Mehrheit der Arbeiter ging jedoch gern an die Arbeitsfront, wie vorher an die Kampffront, da sie begriff, daß höhere Interessen dies erfordern. Ein Teil ging wider Willen. Diese wurden gezwungen.“ (S. 140)

Wenn wirklich „die erdrückende Mehrheit“ „gern“ ging, dann begreift man erst recht nicht, wozu man gegenüber dem verbleibenden, nach dieser Darstellung winzigen Teil zum Zwang griff.

Einige Seiten vorher deutet Trotzki an, daß von den Zwangsarbeitern viele desertierten, doch sei dem abgeholfen:

„Gegenwärtig (März 1920) ist der Prozentsatz der Deserteure in den Arbeitsarmeen nicht in geringstem höher als in unseren Kampfarmeen.“ (S. 127)

Wie groß der Prozentsatz in den Kampfarmeen ist, erfahren wir leider nicht. (Auf S. 128 wird die Zahl der Urlauber und der Deserteure zusammen für die 3. Armee auf 25 Prozent angegeben. Warum werden die beiden Gruppen nicht gesondert aufgeführt?) Ebensowenig wird uns gesagt, welche Strafe den der Arbeitsarmee entweichenden Zwangsarbeiter erwartet.

Genug, nachdem Trotzki behauptet, daß die erdrückende Mehrheit der 4.000 freiwillig gegangen wäre, wenn man sie dazu aufgefordert hätte, fragt er entrüstet:

„Sollten wir sie frank und frei laufen lassen: ‚Sucht, wo es besser ist, Genossen!?’ Nein, so konnten wir nicht handeln. Wir setzten sie in Militärzüge und schickten sie in die Fabriken und Betriebe.“ (S. 142)

Man sage einem westeuropäischen Arbeiter, daß im sozialistischen Gemeinwesen die Behörden die Macht bekommen, jeden Arbeiter, den sie brauchen, von seiner Familie zu reißen, in einen Militärzug zu setzen und für beliebig lange Zeit administrativ zu verschicken, und man wird eine Ablehnung dieser Art Moskauer Sozialismus erleben, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen wird.

Gewiß, Freizügigkeit, Freiheit der Wahl des Berufs und des Betriebs sind „liberale“ Freiheiten, ebenso wie Preß- und Versammlungsfreiheit usw. Aber das besagt nicht, daß die Arbeiter auf diese Freiheiten verzichten, sondern daß sie ihnen nicht genügen, daß sie von einem sozialistischen Gemeinwesen noch größere Freiheit verlangen.

Trotzki irrt sehr, wenn er glaubt, der Arbeiter würde auf die Freiheit, die er heute verlangt, im sozialistischen Staat verzichten, weil dieser „sein“ Staat ist. Darum würde er sich ihm „allseitig unterordnen“. (S. 140)

Um das zu beleuchten, muß ich wieder einmal in die Urzeit zurückgreifen, auf die Gefahr hin, von Trotzki verlacht zu werden oder ihn zu einem neuen Wutanfall zu reizen wegen der „akademisch-scholastischen“ Verhüllung meiner „Lügenhaftigkeit“ und „Gewissenlosigkeit“.

Es ist eine allgemeine Annahme, daß die Menschen von sozialen Tieren abstammen. Auch in den Anfängen der Gesellschaft und bis weit in die Kultur hinein ist der einzelne rettungslos verloren ohne eine Gemeinschaft, die ihn birgt, schützt und ihm die Möglichkeit gibt, für seinen Unterhalt zu sorgen. Der einzelne geht in dieser Gemeinschaft völlig auf, ist ihr „allseitig untergeordnet“, nicht bloß in seinem Handeln, sondern auch in seinem Fühlen und Denken. Das gilt nicht bloß für die Gentilgesellschaft sowie die Markgenossenschaft; es gilt für den Bauern auch in der Dorfgemeinde, für den Handwerker des Mittelalters in der Zunft, die nicht bloß seine Produktion und seinen Handelsverkehr regelte, sondern auch seine Politik, sein Familienleben, seine Religion kontrollierte.

Die innere und äußerliche Unfreiheit der Persönlichkeit gegenüber der Gemeinschaft, in der und durch die man lebt, ist nicht zu verwechseln mit der Unfreiheit, die aus der Knechtung durch einen Herrn hervorgeht. Es ist eine Unfreiheit gegenüber den Genossen, eine Unfreiheit, deren Druck man ehedem gar nicht empfand, weil der einzelne aus ihr Kraft, ja die Lebensmöglichkeit selbst zog.

Eine derartige Unfreiheit bestand innerhalb der herrschenden Klassen ebenso wie bei den beherrschten. Wir finden diese Unfreiheit des Denkens und Handelns der Person heute noch in Überbleibseln aus der Feudalzeit, z. B. bei den regierenden Häusern.

Ansätze zu stärkerer Loslösung der Persönlichkeit von der Gemeinschaft, der man als Gleicher und äußerlich Freier angehörte, finden wir schon im Altertum. Doch erst der Kapitalismus machte diese Loslösung zu einer weitgehenden und dauernden Erscheinung.

Zuerst für die Intellektuellen, die im Mittelalter noch sich nur in der Kirche behaupten konnten. In den Städten erwuchs seit der Renaissance eine Wissenschaft und eine Kunst, die der Kirche nicht bedurfte, die im Gegensatz zu ihr stand. Zunächst griffen die neuen Intellektuellen noch zu den zünftigen Formen, die sie beim städtischen Bürgertum vorfanden und organisierten ihren wissenschaftlichen oder künstlerischen Betrieb in ähnlicher Weise, z.B. in Universitäten. Andere zogen zu ihrem Emporkommen ein höfisches Mäzenatentum vor. Doch immer mehr von ihnen fanden Bedingungen, frei für den Markt oder für Kunden zu produzieren. Wissenschaftliche wie künstlerische Tätigkeit neigt von vornherein zu individuellem Schaffen. Innerhalb der kapitalistischen Bedingungen fand sie immer mehr die Möglichkeit dazu. So wurden die Intellektuellen die ersten, die die Freiheit der Persönlichkeit betonten und durchsetzten.

Fast gleichzeitig mit ihnen beginnen die Kapitalisten die Nabelschnur zu lösen, die ihre Persönlichkeiten mit den überkommenen Gemeinschaften verbindet, in denen sie aufwachsen.

Das Geld ist ganz anderer Art als der Grund und Boden. Dieser ist von Natur aus gegeben, etwas Ständiges und Ewiges gegenüber den rasch. vergänglichen menschlichen Individuen. Der Grundbesitz in seinen vorkapitalistischen Formen haftet daher in der Regel, soweit er privater Natur ist, nicht am Individuum, sondern an der es überlebenden Familie. Das ist einer der Gründe, die den Grundbesitz so konservativ machen und im grundbesitzenden Adel das Individuum so sehr der Familie unterwerfen, auch hier nicht nur in seinem Tun und Lassen, sondern auch in. seinem Fühlen und Denken, das von der langen Reihe der Ahnen nicht minder wie von der Gesamtheit der lebenden Familienmitglieder bis ins entfernteste Glied beeinflußt wird.

Ganz anders das Geld, das von vornherein als individueller Besitz auftritt, das nach individuellem Belieben oder Verschulden verschenkt und verloren werden kann, das den einzelnen unabhängig macht und instand setzt, auf alle Gemeinschaften zu pfeifen, in deren Schoße er sich befindet. Das war umso leichter möglich, als mit dem Kapital auch eine starke Staatsmacht aufkommt, die den Besitz schützt, ohne daß der einzelne Besitzer sich dazu mit andern zusammentun muß.

Im modernen Staate ist, wie der Starke, so auch der Reiche am mächtigsten allein.

Kapitalisten und Intellektuelle sind die ersten Träger des Strebens nach freier Entwicklung der Persönlichkeit – zum mindesten der eigenen. Insofern ist der Individualismus eine liberale Idee.

Aber er bleibt auf diese Schichten nicht beschränkt.

Die überkommenen Organisationen der Masse, Kirchen, Markgenossenschaften, Zünfte werden zu Hemmnissen der Entwicklung des Einflusses und Reichtums von Intellektuellen und Kapitalisten und daher von diesen bekämpft und schließlich entweder ganz aufgelöst oder doch ihrer Macht entkleidet. Schon das bewirkt, daß die Selbständigkeit der Persönlichkeit sich auch in den handarbeitenden Klassen zu regen beginnt, wo sie durch dieselben Elemente gefördert wird, die den Fortschritt der Demokratie unwiderstehlich machen, mit der zusammen sie sich entwickelt. Zuerst und am kräftigsten in den großen Städten, am spätesten und unvollkommensten bei der Bauernschaft.

Besonders stark tritt sie zutage im modernen Proletariat, dessen Mitglieder schon in seinen Anfängen herausgerissen sind aus den die besitzenden Arbeiter schützenden Einrichtungen der Markgenossenschaft, der Dorfgemeinde, der Zunft. Für den Proletarier ist auch mehr als für jede andere Klasse die Familie aufgelöst. Schon als Kind sieht er sich auf seine eigenen Beine gestellt, um zu verdienen, und seine eigenen Kinder muß er auch frühzeitig dazu anhalten. So wird die Selbständigkeit der Persönlichkeit bei ihm besonders stark entwickelt.

Man bringt gern den Individualismus in Gegensatz zum Sozialismus. Wir haben diesen Gegensatz stets abgelehnt. Die ersten Sozialisten aus dem Proletariat mußten sicher Individualisten sein, eine starke Persönlichkeit haben, denn sie standen allein gegen eine „kompakte Majorität“.

Aber auch der Sozialismus als Lehre der proletarischen Mehrheit steht nicht im Gegensatz zum Individualismus.

Wohl können die Proletarier nicht in der Atomisierung verbleiben, in die sie durch das Herausreißen aus den überkommenen Gemeinschaften der freien Arbeiter und später durch die Auflösung dieser Gemeinschaften versetzt werden. Sie müssen sich zu neuen Gemeinschaften zusammentun. Aber die sind besonderer Art. Der Proletarier findet sie nicht gegeben vor, er wächst nicht in ihnen auf und in sie hinein, sondern sie sind seine freien Schöpfungen. Nicht alle Berufs- oder Klassengenossen gehören ihnen von vornherein an, sondern nur solche, die sich zu gleicher Erkenntnis durchgerungen haben. Die Zugehörigkeit zur Partei und Gewerkschaft ist Sache freier Wahl der Mitglieder und gerade darin beruht ihre Kraft. Darin sind sie auch den Arbeiterräten überlegen, zu denen die Mitgliedschaft von vornherein durch die Berufszugehörigkeit gegeben ist. Die Arbeiterräte haben große Wirkungen geübt und können solche üben in Gemeinwesen, in denen eine öffentliche Massenorganisation von Arbeiterparteien und Gewerkschaften noch nicht möglich war oder diese Organisationen innerlich zerklüftet sind. Aber sie machen Partei und Gewerkschaft nicht überflüssig und können nur durch diese zu einer planvollen Wirksamkeit gebracht werden.

Alle proletarischen Organisationen des Kampfes, welcher Art immer sie sein mögen, dienen aber dem Schutz der proletarischen Persönlichkeit und ihrer freien Entwicklung.

Und was die Proletarier von ihren eigenen Organisationen fordern, werden sie auch von der sozialistischen Gesellschaft verlangen, die ja ebenfalls von ihnen geschaffen werden soll: die Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit, Ablehnung jeder Vergewaltigung, Freiheit ihrer Entwicklung und Betätigung.

Will Trotzki das als Liberalismus und Naturrechtsphilosophie abtun, dann muß er Marx und Engels zu den Naturrechtslehrern und Liberalen rechnen, denn sie schrieben im Kommunistischen Manifest von der sozialistischen Gesellschaft:

„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Association, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“
 

f) Die Regelung der Arbeit durch den Sozialismus

Respekt vor der menschlichen Persönlichkeit! Das ist einer der wichtigsten Grundsätze des proletarischen Befreiungskampfes, der auch in der größten Hitze des Ringens und erst recht nicht aus kaltblütiger Berechnung aus den Augen gelassen werden darf.

Natürlich werden wir mit unserer Forderung freier Entwicklung der Persönlichkeit keine Liberalen. Wir wissen wohl, daß die Freiheit des Arbeiters, für den Kapitalisten unbegrenzt zu arbeiten, keine Freiheit ist, denn innerhalb des kapitalistischen Betriebs ist der Arbeiter unfrei. Seine Freiheit beginnt erst am Tore der Fabrik. Verkürzung seiner Arbeitszeit bedeutet, selbst wenn gesetzlich erzwungen, Verlängerung der Zeit der Freiheit für den Arbeiter.

Ebensowenig wie Liberale, sind wir Anarchisten. Wir wissen sehr wohl, daß mit dem Mittel des ökonomischen Kampfes allein die Arbeiter des Kapitals nicht Herr werden. Daß sie dazu sich der Staatsmacht bemächtigen müssen. Aber wir brauchen eine kräftige Staatsgewalt bloß zur Entwurzelung der Übermacht des Kapitals, wir dürfen nicht den Aufbau der sozialistischen Produktion in die Hände einer allmächtigen staatlichen Bureaukratie legen. Je mehr die Arbeiter der einzelnen Berufe und die Masse der Gesamtarbeiterschaft durch die Selbsttätigkeit ihrer freien Organisationen dabei zu schaffen vermögen, je weniger die staatliche Bureaukratie einzugreifen braucht, um so besser.

Es ist geradezu ein Zeichen von proletarischer Unreife, alles vom „Staat“ zu erwarten, dem man Zauberkräfte zuschreibt, alles Weh sofort zu kurieren, wobei man vergibt, daß der Staat, selbst wenn er den Kapitalisten allen Mehrwert nähme, doch nicht mehr besäße, als das, was die Arbeiter über ihren Lebensunterhalt hinaus produziert haben. Die Arbeit und nicht der Staat ist der Schöpfer aller Werte. Der Aberglaube an die wertschaffenden Fähigkeiten des Staates ist durch die liederliche Banknotenwirtschaft der drei großen Kaisermächte Osteuropas während des Krieges aufgekommen, die nichts anderes war, als die Wirtschaft des Verschwenders, das Vergeuden der Vorräte, die in den Jahrzehnten fleißiger Arbeit vorher angesammelt wurden. Je länger dieses Vergeuden ohne eigene ausreichende Produktion fortgeht, desto furchtbarer der schließliche Zusammenbruch.

Das Streben nach der Allmacht des kommunistischen Staates und der Glaube an seine Zauberkraft sind ebenso verkehrt, wie die anarchistische Staatsfurcht. Wir brauchen den Staat, um mit dem Kapital fertig zu werden, aber je weniger wir ihn brauchen zum Aufbau des Sozialismus, um so eher wird dieser das Proletariat zu befriedigen vermögen.

Von allen europäischen Nationen sind darin die Engländer am reifsten für den Sozialismus, trotz ihrer geringen sozialistischen Schulung. Nirgends ist der Respekt vor der Persönlichkeit und die Selbständigkeit und Energie des Proletariats und die Kraft seiner Organisationen höher entwickelt, als dort. In Rußland dagegen ist wohl mehr als in einem anderen europäischen Großstaat die Bevölkerung daran gewöhnt, alle Behebung ihrer Leiden von oben zu erwarten, von der Staatsgewalt.

England und nicht Rußland ist am besten dazu befähigt, Formen gesellschaftlicher Produktion zu entwickeln, die eine wirkliche Befreiung der Arbeiterklasse darstellen. Der Gildensozialismus ist nicht kritiklos hinzunehmen. Aber wie viel mehr befreienden Sozialismus enthält er, als alle Versuche russischer Staatsproduktion mit bureaukratischer Leitung!

Stehn wir dem Staat kritisch, aber nicht anarchistisch gegenüber, so können wir noch weniger die Anarchie im Großbetrieb anerkennen. Wir wissen, daß die Freiheit des Alleinarbeiters, der über seine Produktionsmittel Frei verfügt, also auch im Betrieb völlig frei ist, unvereinbar ist mit dem modernen Großbetrieb, dessen hohe Produktivität allein die Möglichkeit eines Wohlstandes für alle bei kurzer Arbeitszeit, also langer Zeit der Freiheit gewährt. Im Großbetrieb kann der Arbeiter nur ein Rädchen in einem großen Mechanismus sein, oder besser gesagt, nur ein einzelnes Organ eines großen Organismus. Er muß sich in den Plan des Ganzen hineinfügen. Diese Notwendigkeit wird nicht aufgehoben dadurch, daß der Großbetrieb aus einem kapitalistischen zu einem sozialistischen wird. Die allerdings sehr wesentliche Änderung besteht zunächst bloß darin, daß der Zweck, dem der Großbetrieb dient, wechselt. Er soll nicht mehr einen einzelnen Kapitalisten bereichern, sondern die Gesamtheit der Arbeiterschaft selbst.

Das Einfügen in eine planmäßige Wirtschaft ist für den Arbeiter in einem sozialistischen Gemeinwesen unerläßlich. Das bedeutet jedoch nicht Mißachtung der Persönlichkeit, sondern stellt uns nur die Aufgabe, die Einfügung des einzelnen in die Gesamtordnung in Formen zu vollziehn, die seine freie Entfaltung nicht verkümmern. Das schließt aber jeden Arbeitszwang nach Trotzkischem Vorschlag aus.

Man sollte eigentlich annehmen, Trotzki sei derselben Meinung. Klagt er doch in seiner Schrift (S. 137), daß die „leitende Schicht der Arbeiterklasse“ in Rußland „zu dünn gesät“ sei:

„Die Krankheit unseres einfachen russischen Mannes besteht im Herdenwesen, im Mangel an Persönlichkeit, d. h. in dem, was unsere reaktionären Narodniki besangen, was Leo Tolstoi in der Gestalt des Piaton Karatajeff verherrlicht: Der Bauer löst sich in seiner Gemeinde auf, er ordnet sich dem Acker unter. Es ist völlig klar, daß die sozialistische Wirtschaft sich nicht auf Piaton Karatejeff gründet, sondern auf den denkenden, initiativereichen verantwortlichen Arbeiter ... Die sozialistische Solidarität kann sich nicht auf den Mangel an Individualität, auf das Herdenwesen stützen.“

Sehr richtig. Man darf sich bloß darüber wundern, wieso Trotzki bei dieser Erkenntnis zum Arbeitszwang kommen, andererseits aber, wieso er bei dieser Erkenntnis daran denken kann, mit Hilfe der russischen „Herdenmenschen“ eine sozialistische Gesellschaft aufrichten zu wollen. Freilich erklärt dieses Herdenwesen nicht nur den Mißerfolg des bolschewistischen Sozialismus, sondern auch den Erfolg der bolschewistischen Diktatur und das Aufkommen der Idee des Arbeitszwanges. „Denkende, initiativereiche, verantwortliche Arbeiter“ lißen sich weder das eine noch das andere gefallen.

Trotzki weiß indes einen famosen Ausweg, das Überwiegen der Herdennatur in der russischen Masse und den Mangel an Persönlichkeiten unter ihnen mit seiner Auffassung der sozialistischen Aufgaben zu vereinigen. Wenn es in Rußland so wenige selbständige Persönlichkeiten unter den Revolutionären gibt, dann muß man diese zu Diktatoren (in den Betrieben) machen, damit sie die Herdenmenschen leiten und zu kraftvollen, selbständigen Persönlichkeiten erziehn.

Den gleichen Gedanken hat schon Lenin vor Trotzki geäußert und ich hatte daran Kritik geübt. Trotzki denunziert das als eine Majestätsbeleidigung des russischen Proletariers – er, der ihn eben zum Herdentier gestempelt in Ergänzung seiner Erkenntnis des Menschen überhaupt als Faultier.

Er behauptet, ich schmähe die russische Arbeiterklasse, behaupte

„es fehlen ihr ‚Bewußtsein, Lebensstärke, Selbstaufopferung, Beharrlichkeit’ usw. Sie ist ebenso wenig imstande, sich selbst bevollmächtigte Führer zu wählen – höhnt Kautsky – wie Münchhausen imstande war, sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Dieser Vergleich des russischen Proletariats mit dem Aufschneider Münchhausen, der sich aus dem Sumpf herauszieht, ist ein deutliches Beispiel für den unverschämten Ton, in dem Kautsky von der russischen Arbeiterklasse spricht.“ (S. 80)

In der Tat, kann es eine größere Unverschämtheit geben, als an der Fähigkeit des russischen Proletariats zu zweifeln, sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen? Dieser rettende Zopf ist freilich der Diktator.

Was ich sage, ist nämlich folgendes:

„So wenig sich Münchhausen an seinem eigenem Zopf aus dem Sumpf zu ziehen vermag, ist eine Arbeiterschaft, der ‚Bewußtsein, Lebensstärke, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit’ (Lenins eigene Worte) fehlen, imstande, sich selbst einen Diktator zu erwählen, damit er sie hebe, und sich ihm willenlos zu beugen, wenn er von ihr Taten fordert, die Bewußtsein Lebensstärke, Selbstaufopferung und Beharrlichkeit erheischen.“ (Terrorismus und Kommunismus, S. 125)

Von diesem Schlußsatz spricht Trotzki nicht. Daß er von ihm absieht, beweist mir, daß er gegen ihn nichts vorzubringen weife. Dieser Satz ist aber der entscheidende.

Trotzki hat recht, mit Herdenmenschen ist kein Sozialismus durchzuführen. Aber nicht die Diktatur ist das Mittel, Herdennaturen zu freien Persönlichkeiten zu entwickeln. Im Gegenteil. Die Diktatur duldet solche Persönlichkeiten nicht, sondern nur gehorsame Werkzeuge. Wer Selbständigkeit zeigt, ist unbequem und wird aus dem Wege geräumt, oder dessen Wille wird gebrochen. Die vier Jahre bolschewistisches Regime haben „das Herdenwesen, den Mangel an Persönlichkeit“ beim „einfachen russischen Mann“ erschreckend gesteigert. Der Arbeitszwang, wenn konsequent durchgeführt, müßte diesen Mangel noch enorm vermehren.

Liegt aber dieser Zwang nicht im Wesen des Sozialismus begründet, der da sagt, wer nicht arbeitet, soll nicht essen?

Sehen wir zu. Dieser Satz entspringt einfach dem Bedürfnis der Arbeiters, nicht Arbeit für einen Fremden zu leisten und diesen instand zu setzen, ohne eigene Arbeit zu leben. Da bei dem Großbetrieb nicht der einzelne Arbeiter sein Produkt an sich nehmen kann, soll das Gesamtprodukt der Gesamtheit der Arbeitenden zufallen, so daß alle Möglichkeiten arbeitslosen Erwerbs durch Zins, Profit, Grundrente wegfallen. Dann wird kein Arbeitsfähiger anders zu seinem Essen kommen als dadurch, daß er es durch eigene Arbeit verdient.

Von irgendeinem behördlichen oder polizeilichen Zwang zur Arbeit oder gar zu einer bestimmten Arbeit an einem bestimmten Ort ist dabei nicht im geringsten die Rede.

Das Wort „wer nicht arbeitet, soll nicht essen“ sagt keineswegs: „wer nicht dort arbeitet, wo der Kriegsminister befiehlt, soll nicht essen“, und es sagt noch viel weniger, daß wer solche Arbeit nicht verrichtet, nicht nur seine Lebensmittelrationen verlieren, sondern dem militärischen Strafkodex zur Aufrechterhaltung der Disziplin ausgeliefert werden soll.

Trotzki beruft sich auf die Verfassung der Sowjetrepublik. Dort wurde allerdings festgestellt, daß jeder die Pflicht habe, zu arbeiten, aber keiner Behörde das Recht gegeben, irgend jemand zu einer bestimmten Arbeit zu zwingen, wie es Trotzki verlangt.

Es heißt im § 18 der Verfassung vom 10. Juli:

„Die Sowjetrepublik betrachtet es als die Pflicht aller Arbeiter, zu arbeiten, und stellt die Losung' auf: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“

Dieser Passus erinnert an das Kommunistische Manifest, das unter den „Mitteln der Umwälzung der ganzen Produktionsweise“ auch nennt:

„Gleicher Arbeitszwang für Alle.“

Das sieht aus, als wäre es in Trotzkischem Sinne gedacht, es spricht aber bloß den Gedanken aus, daß jede Art des arbeitslosen Einkommens ausgeschlossen, jeder zu irgend einer Arbeit verpflichtet sein soll. Es besagt keineswegs, daß jedem einzelnen seine besondere Arbeit und seine besondere Arbeitsstätte von der Behörde vorzuschreiben sei.

Übrigens sagten Marx und Engels von diesen im Kommunistischen Manifest „vorgeschlagenen revolutionären Maßregeln“, in ihrer Vorrede aus dem Jahre 1872, daß sie heute „kein besonderes Gewicht mehr auf sie legen“, weil „dieser Passus heute in vieler Beziehung anders lauten würde“.

Nirgends haben sie später den Arbeitszwang gefordert, nicht in der Form einer allgemeinen Verpflichtung eines jeden, zu arbeiten, geschweige in der Trotzkischen Form, in der sie nie den Arbeitszwang aufgefaßt hatten.

In der Trotzkischen Form würde der Sozialismus zur Kaserne oder zum Zuchthaus. Es ist ein unbeabsichtigter Witz, wenn Trotzki mir entrüstet zuruft, meine Kenntnisse Rußlands seien „Kassibern“ der Menschewiki entnommen. Kassiber aber sind nichts anderes als Mitteilungen aus dem Zuchthaus.

Aber gibt es denn einen andern „Weg zum Sozialismus“, als den des Zuchthauses und der Kaserne, „der gebieterischen Verfügung über die Arbeitskräfte des Landes“? Trotzki behauptet, es gebe keinen andern. In Wirklichkeit sind andere nicht lang zu suchen, sie liegen breit und offen vor uns.

Wenn alle Möglichkeiten arbeitslosen Erwerbs verschlossen sind, kann es an Arbeitskräften im allgemeinen nicht fehlen. Es kann bloß ihre Verteilung in Frage kommen. Einzelnen Gegenden, Betrieben, Produktionszweigen können Arbeiter mangeln, indes sie anderswo im Überfluß vorhanden sind.

Dieses Fehlen kann zweierlei Ursachen haben. Entweder sind nicht genügend viel Arbeiter vorhanden, die für die besondere Arbeit vorgebildet sind, zu der sie gebraucht werden. In diesem Falle nützt natürlich auch der schärfste Arbeitszwang nichts. Der Arbeiterstaat kann sich den Arbeiter noch so sehr „allseitig unterordnen“, dadurch wird noch nicht aus einem Weber ein Schlosser.

In solchem Falle hilft nur die Einrichtung von Lehrinstituten, in denen die fehlenden Arbeiter für ihre Zwecke vorgebildet werden. Der zweite mögliche Fall ist der, daß genug Arbeiter der in Frage kommenden Branche vorhanden sind. Wenn trozdem einzelne Gegenden oder Betriebe von ihnen gemieden werden, wird das Gründe haben, die zu erforschen und zu beseitigen und nicht durch zwangsweise Zufuhr von Arbeitern zu überwinden sind. Es liegt vielleicht an Ungesundheit der Gegend, schlechten Wohnungen, mangelhaften Betriebsräumen, roher Behandlung durch die Vorgesetzten. Man beseitige diese Mängel und die Arbeiter, die die Gegend oder den Betrieb mieden, werden kommen.

Anderseits können Verhältnisse bestehen, die ganze Produktionszweige zu unangenehmen, abstoßenden machen, die zu beseitigen aber entweder überhaupt nicht oder doch nicht mit den gegebenen Hilfsmitteln möglich ist. Keine Technik wird imstande sein, die Arbeit in der Kohlengrube zu einer in vollem Sonnenschein und frischer Luft vor sich gehenden zu gestalten.

Ohne Kohle aber kommen wir nicht aus. Was tun? In solchen Fällen bleibt nichts anderes übrig, als die außergewöhnlichen Nachteile des Betriebs durch anderweitige Vorteile wettzumachen. Etwa die Arbeitszeit in solchen Produktionszweigen unter den in der Gesamtindustrie geltenden Durchschnitt zu verkürzen, oder den Arbeitslohn besonders zu erhöhen, unter Umständen beide Methoden zu vereinigen oder ähnliche besondere Vorteile zu gewähren.

Das alles ist gar nichts Neues, durch solche Verfahren hat sich schon der Kapitalismus ohne jeglichen polizeilichen Arbeitszwang auf allen Gebieten so viel Arbeiter zu verschaffen gewußt, wie er brauchte, und es wäre ein klägliches Armutszeugnis, wenn der Sozialismus in dieser Beziehung an Respekt vor der Persönlichkeit des Arbeiters hinter dem Kapitalismus zurückbleiben müßte.

In der Tat stellt sich der Versuch des Arbeitszwanges als nichts anderes dar, wie als ein Armutszeugnis, jedoch nicht des Sozialismus überhaupt, sondern der Sowjetwirtschaft im speziellen.

Wir wissen, woher der Zwang stammt: nicht aus den Grundsätzen des Sozialismus, sondern daraus, daß die Industriezentren unter bolschewistischem Regime so entsetzliche Aufenthaltsorte und Arbeitsstätten geworden sind, daß die Arbeiter sie fliehen wie die Pest, wenn der Sowjetstaat sie mobilisierte, in Militärzüge steckte und nach bestimmten Punkten versandte, so bewies er damit nur, daß er sich nicht die Fähigkeit zutraute, dort erträgliche Zustände zu schaffen. Der Arbeitszwang bedeutet nicht die unerläßliche Bedingung des Sozialismus, sondern das Eingeständnis des Zusammenbruchs der Form, in der man ihn verwirklichen wollte.
 

g) Der Antrieb zur Arbeit im Sozialismus

Die Arbeitspflicht als Mittel richtiger Verteilung der Arbeitskräfte im Lande ist nicht das schwierigste Problem für den Sozialismus. Es hat seine Theoretiker nur wenig beschäftigt.

Viel wichtiger ist ein anderes, mit der Arbeitspflicht zusammenhängendes. Nicht das der Zuteilung der Arbeiter an die einzelnen Betriebe, sondern das ihrer fleißigen und gewissenhaften Arbeit im Betriebe. Welche Antriebe zu solcher Arbeit stehen einer sozialistischen Gesellschaft zu Gebot, die den Respekt vor der Persönlichkeit hochzuhalten hat, die also auf jeden äußeren Zwang zur Arbeit verzichten muß? Dieses Problem, wie der Arbeitszwang innerhalb des Betriebes zu ersetzen, nicht wie er zu gestalten sei, hat die Sozialisten, namentlich die Utopisten stark beschäftigt und zu genialen Gedanken Anlaß gegeben.

Die wirksamste Lösung wäre natürlich die, die Zweiteilung der Arbeiten in anziehende und abstoßende aufzuheben, jeder Arbeit einen anziehenden Charakter zu verleihen. Das wäre möglich, wenn man sie zu künstlerischem Schaffen oder zu einem Sport gestaltete.

Von Fourier bis William Morris sind viele feine Beobachtungen in dieser Richtung gemacht worden. Doch tragen sie alle der Arbeit an der Maschine keine Rechnung, auf die wir nicht verzichten können, wenn der Wohlstand für alle bei hoher Entwicklung von Kunst und Wissenschaft möglich sein soll.

Gewiß wird ein sozialistisches Regime eine wichtige Aufgabe darin sehen, jede Art Arbeit so anziehend als möglich zu gestalten. Dieses Problem, das heute die Erfinder wenig beschäftigt, wird dann für sie ebensoviel Bedeutung haben, wie heute das der arbeitsparenden Maschine. Wie weit man dabei kommen wird, ist nicht abzusehen, auf jeden Fall wird die Tendenz, die Arbeit anziehend zu machen, erst mit dem sozialistischen Regime Kraft bekommen, dieses wird sicher bei seinem Beginn und wahrscheinlich auf lange hinaus mit einer Fülle von Arbeiten rechnen müssen, die nicht für sich selbst ein Genuß sind, sondern die man nur verrichtet, weil das Leben es verlangt.

Für diese Arbeiten gilt es, ihnen wenigstens den abstoßenden Charakter zu nehmen, den ihnen die Zwangsarbeit, Sklaverei und Leibeigenschaft gab und den der Kapitalismus nur unvollkommen ein wenig gemildert hat, soweit proletarische Widerstände ihn dazu zwangen. Wir haben gesehen, daß es drei Faktoren sind, die bewirken, daß jene Arbeit nur widerwillig verrichtet wird:

  1. Die Trennung des Arbeiters von seinem Produkt, an dem er jegliches Interesse verliert, da es einem andern zufällt.
     
  2. Die überlange Ausdehnung der Arbeit.
     
  3. Die Monotonie der Arbeit.

Beginnen wir mit dem letzten Punkt.

Die Monotonie der Arbeit ist das bedrückendste, abstoßendste Moment im kapitalistischen Produktionsprozeß. Die weitgehende Arbeitsteilung der Manufaktur und noch mehr die Arbeit an der Maschine machen die Arbeit heute noch weit eintöniger, als sie für den Sklaven war.

Dieser Monotonie könnte am wirksamsten abgeholfen werden durch Verbindung industrieller mit landwirtschaftlicher Arbeit. Das wäre auch für den Produktionsprozeß ein großer Vorteil. Die landwirtschaftliche Arbeit ist Saisonarbeit. Sie braucht zeitweise sehr viele Arbeitskräfte, in den Zwischenpausen nur wenige. In der ursprünglichen Bauernfamilie, die neben der Landwirtschaft auch Industrie für den eigenen Bedarf betrieb, machte das nichts aus. Da wurden die Pausen mit industrieller Arbeit ausgefüllt.

Die Trennung von Industrie und Landwirtschaft hat letztere sehr geschädigt. Sie leidet in den wichtigsten Jahreszeiten an Arbeitermangel und weiß in andern Zeiten ihre Arbeitskräfte nicht zu beschäftigen. Die kapitalistische Methode, die Arbeitspausen mit Hausindustrie für kapitalistische Verleger auszufüllen, führt zu den unerfreulichsten Erscheinungen.

Die bolschewistische Methode, durch die viele großindustrielle Arbeiter aufs Land, ins Handwerk getrieben werden, ist nicht erfreulicher.

Rationell wäre die Verlegung industrieller Großbetriebe aufs Land und ihre Vereinigung mit landwirtschaftlichen Großbetrieben. Dazu sind jedoch bisher noch keine Ansätze gemacht. Ein sozialistisches Regime müßte in dieser Richtung erst experimentieren.

Die einzige Form, in der Großindustrie bisher mit Landwirtschaft verbunden wurde, ist die, daß der Industriearbeiter in seinen Mußestunden ein Fleckchen Land für sich bewirtschaftet.

Das war seit jeher üblich bei Industriebetrieben, die auf dem flachen Land oder in Kleinstädten lagen. Es hat in den letzten Jahrzehnten auch in den größeren Städten allgemeine Verbreitung gefunden in den sogenannten Schrebergärten.

Sie bedeuten nicht die rationellste Form der Landwirtschaft, könnten aber rationeller gestaltet werden durch Aufnahme mancher Formen des Großbetriebs, z. B. durch gemeinsames Pflügen und Düngen der gesamten Fläche, die von den einzelnen Gärtchen eingenommen wird. Außerdem werden in diesen Gärtchen meistens Produkte gezogen, die am ehesten im Kleinbetrieb gedeihen, Obst, Gemüse, Kleintiere.

Wie man immer über die produktive Seite dieser Gärtchen denken mag, sie entsprechen einem Bedürfnis, das beweist ihre rasche Zunahme. Sie werden an Zahl noch weiter wachsen.

Aber in ihrer heutigen Form bedeuten sie nicht eine Unterbrechung der Monotonie der Industriearbeit, sondern bloß eine Mehrbelastung des Arbeiters oder eine Umwandlung des bisherigen Inhalts seiner Mußezeit in einem nicht immer förderlichen Sinne, indem die Zeit, die sonst der Bildung, der Politik, der Gewerkschaft gewidmet wurde, jetzt Kaninchen und Bohnen zugewendet wird.

Die Verbindung zwischen Industrie und Landwirtschaft bedeutet nur dann einen Fortschritt, wenn für die Landwirtschaft des Industriearbeiters Platz geschaffen wird durch erhebliche Einschränkung seiner industriellen Arbeit.

Verkürzung der Arbeitszeit im Hauptberuf, das ist in diesem Zusammenhange das wichtigste Problem.

Diese Aufgabe gerät jedoch in Widerspruch zu einer anderen, ebenso wichtigen. Wohlstand für alle ist bei dem heutigen Ausmaß der Produktion noch nicht möglich. Dafür ist des öfteren der statistische Beweis erbracht worden. Die Anhänger des Kapitalismus sehen darin einen Beweis für die Undurchführbarkeit des Sozialismus. Es beweist aber nur die Notwendigkeit einer weiteren Ausdehnung der Produktion.

Die ist möglich einmal durch Heranziehung von Arbeitskräften zur Produktion, die heute unproduktiv vergeudet werden, obwohl sie sich oft furchtbar plagen. Man erinnere sich z. B. der unzähligen Zwergbetriebe im Zwischenhandel.

Das Hauptmittel zur Erweiterung der Produktion ist die ausgiebige Ausnutzung der produktivsten unter den heutigen Produktionsstätten und rasche allgemeine Einführung aller arbeitsparenden Maschinen und Behelfe, die heute schon bekannt sind. Das setzt freilich bereits eine blühende, hochentwickelte Großproduktion voraus. Wer, um den Kapitalismus zu treffen, eine solche zerstört, lähmt jeden Fortschritt in der Richtung des Sozialismus.

In der kapitalistischen Wirtschaft haben den größten Vorteil von den arbeitsparenden Maschinen die industriellen Kapitalisten. Sie ziehen aus neuen Maschinen, solange sie nicht allgemein geworden sind, erhöhte Profite, indes dieselben Maschinen den Arbeiter oft mit Arbeitslosigkeit oder Ersetzung der qualifizierten durch unqualifizierte Arbeitskraft bedrohen, auf keinen Fall ihm Vorteil bringen. Daher meinen die Verteidiger des Kapitalismus, der Profit des Kapitalisten und seine private Initiative seien unersetzlich zur Entwicklung der Produktivkräfte. Im Sozialismus würden sie ins Stocken geraten.

In Wirklichkeit würde die Änderung, die der Sozialismus herbeiführt, ganz anderer Art sein. Die Arbeiter, die heute kein Interesse an arbeitsparenden Maschinen haben, würden dann das größte Interesse an deren Einführung bekommen, ein weit größeres, als die Kapitalisten heute, die Maschinen nur dort einführen, wo sie Lohn ersparen, während die Arbeiter auf ihre Anwendung überall hindrängen würden, wo dadurch Arbeit erspart wird.

So wird es möglich werden, die Produktenmasse zu vermehren, die der Arbeiterklasse zufließt, und gleichzeitig die Arbeitszeit zu verkürzen. Gutgenährte, wohlausgeruhte Arbeiter bei kurzer Arbeitszeit, das gibt die besten Bedingungen für intensive, sorgsame Arbeit.

Den stärksten Antrieb zu freudiger Arbeit bietet freilich das Arbeiten direkt für sich selbst, die Herstellung eines Produkts, das dem Arbeiter gehört. Diesen Antrieb des freien Arbeiters der vorkapitalistischen Zeit kann eine sozialistische Gesellschaft in voller Kraft nicht herstellen. Das hieße auf die ungeheueren technischen Vorteile des Großbetriebs verzichten. Der Sozialismus kann nur anstelle des individuellen Arbeiters den Gesamtarbeiter setzen, der dann identisch wird mit der Gesellschaft, und diesen zum Herrn der Gesamtheit der Produktionsmittel und der Produkte machen.

Damit ist sicher ein Antrieb zur Arbeit gegeben, der dem Arbeiter unter kapitalistischem Regime fehlt. Im Sozialismus bereichert seine Arbeit nicht mehr seinen Gegner, sondern die Gemeinschaft, der er selbst angehört.

Immerhin wird dieser Antrieb nicht so stark wirken“ wie die direkte Arbeit für sich selbst, und sie mag namentlich in den Anfängen des Sozialismus nicht ausreichen, die Faultiernatur zu überwinden, die durch die Sklaverei geschaffen und durch die Lohnarbeit nur unvollkommen zurückgedrängt wurde.

Indes liegt ein neuer Antrieb zur Arbeit im Großbetrieb darin, daß der Arbeiter hier nicht allein arbeitet, sondern mit vielen anderen zusammen. Als soziales Wesen bleibt er nicht unempfindlich für das Urteil seiner Umgebung.

Bei sozialistischer Produktion ist es nicht der Kapitalist, der durch Faulheit oder Liederlichkeit einzelner Arbeiter geschädigt wird, sondern deren Klassengenossen, die dadurch weniger Produkt, aber mehr Arbeit bekommen.

So wird dann derjenige, der in einem Betrieb absichtlich nicht seine Schuldigkeit tut, bei seinen Kollegen ebenso in Verruf kommen, wie heute ein Streikbrecher, und diese moralische Verurteilung wird umso eher auf ihn wirken, weil seine Nachlässigkeit nicht, wie oft der Streikbruch, durch eine Notlage herbeigeführt wird.

So sehen wir, daß die sozialistische Produktion eine ganze Reihe von Antrieben zur Arbeit ermöglicht, die dem Kapitalismus fremd ist. Dabei aber steht es einer sozialistischen Produktion immer noch frei, wenn jene Antriebe nicht ausreichen sollten, auch noch diejenigen unter den vom Kapitalismus eingeführten in Anwendung zu bringen, die mit der Achtung vor der Persönlichkeit vereinbar sind, wie z. B. das Akkordsystem.

Die sozialistische Bewegung, das heißt, das Streben nach Befreiung des Proletariats, ist eng verbunden mit der Entwicklung der freien Persönlichkeit des Arbeiters. Mit dieser Persönlichkeit entsteht aber auch ein neuer Antrieb zur Arbeit. Der Arbeiter, der zum Bewußtsein seiner Persönlichkeit erwacht ist, lehnt es ab, als Ausbeutungsobjekt für andere zu fungieren, doch sein Stoß erlaubt ihm auch nicht mehr, von der Arbeit anderer zu leben. Nicht nur Almosen, auch Trinkgelder weist er zurück. Und er setzt seinen Ehrgeiz darein, die Arbeit, für die er Bezahlung nimmt, auch gut zu erfüllen.

Während der Klassenkampf großer Organisationen im Proletarier die sozialen Triebe aufs lebhafteste wach hält, ja steigert, erzeugt gleichzeitig dies wachsende Selbstbewußtsein seiner Persönlichkeit auch den Ehrgeiz in ihm, keine müßige Drohne sein zu wollen.

Alle diese Antriebe zur Arbeit, die aus dem Aufstieg des Proletariats und dann aus seiner Herrschaft stammen und die eine wachsende Produktivität seiner Arbeit verbürgen, sie machen jeglichen Arbeitszwang innerhalb des Betriebes überflüssig, ja schließen ihn aus. Kein Proletariat, das über die Herdennatur hinaus, das also reif geworden ist zum Sozialismus, würde sich auch nur die leiseste Annäherung an militaristischen Arbeitszwang weder innerhalb des Betriebs noch in der Form zwangsweiser Zuweisung an bestimmte Betriebe gefallen lassen. Derartiger Arbeitszwang könnte nötig werden nur bei solchen sozialistischen Einrichtungen, die auf die Arbeiterschaft abstoßend, statt anziehend wirken, die also verfehlt sind. Jeder Versuch eines solchen Arbeitszwanges müßte den schon begonnenen Bankerott beschleunigen, da er den Widerstand der Arbeiter aufs höchste anstacheln, die Produktivität ihrer Arbeit aufs tiefste herabsetzen müßte.

Trotzki irrt, wenn er meint, daß dem sozialistischen Staat Zauberkräfte innewohnen, die das Proletariat mit der Zwangsarbeit versöhnen. Es bäumt sich auf gegen jede Art der Sklaverei, auch gegen die Staatssklaverei, ohne Rücksicht darauf, ob der Sklavenvogt seine Knute im Namen des Zaren oder des Proletariats schwingt.
 

h) Der reaktionäre Charakter des Bolschewismus

Die Staatssklaverei – das war der Höhepunkt dse bolschewistischen Kommunismus. Da der Versuch mißlang, blieb nichts anderes übrig, als der Rückzug zum Staatskapitalismus, der in Rußland nichts Neues ist, denn der Kapitalismus existierte in Rußland seit jeher nur von Gnaden der Staatsgewalt.

Die Leichtigkeit, mit der sich dieser Umschwung wie alle anderen bisherigen Umschwünge des Bolschewismus vollzieht, ist bezeichnend für seinen Opportunismus, da es sich ihm nicht um die Durchsetzung von Grundsätzen, sondern um die bloße Behauptung an der Macht handelt, der er jeden Grundsatz unbedenklich opfert. Die Leichtigkeit aber, mit der er sich zur Zwangsarbeit bekannte, ist nicht minder bezeichnend für ihn.

Was im vorigen Kapitel über die Antriebe zur Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft gesagt wurde, ist für den Kenner der sozialistischen Literatur nichts Neues. Es mußte hier wiederholt werden für die Neulinge, die den bolschewistischen Redensarten wehrlos gegenüberstehen. Leichten Herzens haben die Bolschewiks die ganze Gedankenarbeit des bisherigen Sozialismus über die künftige Gestaltung der Arbeit preisgegeben, um hier wie überall, sich dem primitivsten Mittel zuzuwenden, Schwierigkeiten zu überwinden, der Anwendung brutaler Gewalt. Nachdem sie Rußland technisch aus dem Zeitalter des Großbetriebs in das des Handwerks und der Heimarbeit zurückversetzt, hätte die Rückkehr zur Leibeigenschaft die Krönung ihres reaktionären Tuns bedeutet.

Möglich war dies nur, weil sie allen Respekt vor dem menschlichen Individuum, vor seinem Leben und seiner Freiheit verloren haben.

Verachtung der Persönlichkeit bildet das Kennzeichen des Bolschewisten. Mißachtung der Persönlichkeit der eigenen Anhänger, die bloß als Werkzeuge und als Kanonenfutter bewertet werden. Mißachtung erst recht derjenigen, die sich nicht als Werkzeuge gebrauchen lassen und daher unterschiedslos als Gegner betrachtet werden, die man mit allen Mitteln beugen oder brechen muß.

Den Keim zu dieser Auffassung entwickelt das Verschwörerwesen in vielen seiner Führer. Aber nur die frauenhaften russischen Zustände vermochten sie zu der Stärke zu entwickeln, die wir bei Netschajeff finden. Und es gehört die ganze verrohende Wirkung des Krieges und dann des Bürgerkriegs dazu, um zu gestatten, daß sich diese Denkweise und die ihr entsprechende Taktik aus dem Dunkel und der Enge einiger kleinen Zirkel herauswagen und vor der Öffentlichkeit breitmachen durfte in Greueltaten, wie sie die russischen Tschekas zu Hunderten und Tausenden verübten, und um literarische Erzeugnisse möglich zu machen, wie das hier besprochene Buch Trotzkis, das den Terrorismus verherrlicht. Zu seiner Rechtfertigung schreibt er:

„Ein Feind muß unschädlich gemacht werden, während des Krieges aber heißt das vernichten.“ (S. 39)

Danach hätten im Kriege die Regierungen der Zentralmächte wie der Entente sämtliche Zimmerwalder, ja sogar alle Pazifisten erschießen müssen. Freilich konnten sich die Spartakisten damals nicht genug entrüsten darüber, wenn man Mehring, Rosa Luxemburg usw. in Schutzhaft nahm. Auch wir haben das bekämpft. Aber nach bolschewistischem Rezept wäre das Erschienen ganz in Ordnung gewesen. Weiter sagt Trotzki:

„Die Abschreckung ist ein machtvolles Mittel der Politik, der internationalen, wie der inneren ... Ebenso (wie der Krieg) wirkt die Revolution. Sie tötet einzelne und schreckt tausende ab. In diesem Sinne unterscheidet sich der rote Terror prinzipiell nicht vom bewaffneten Aufstand, dessen direkte Fortsetzung' er ist. Den staatlichen Terror der revolutionären Klasse kann nur der „moralisch“ verurteilen, der überhaupt jede Gewalttätigkeit – folglich auch den Krieg und jeden Aufstand – prinzipiell (in Worten!) ablehnt. Dazu muß man einfach ein heuchlerischer Quäker sein.“ (S. 43)

Andere Mittel der Politik, als brutale Gewalt, kennt Trotzki nicht. Er ruft mir höhnend zu, trotz meiner Studien über die Nahrung der Affenmenschen werde ich

„in der Geschichte keine anderen Mittel finden, um den Klassenwillen des Feindes zu brechen, als die zweckmäßige und energische Anwendung von Gewalt“. (S. 40)

Nach dieser echt kriegsministeriellen Geschichtsauffassung ist die ganze geschichtliche Entwicklung nichts als ein ewiger Bürgerkrieg. Daß dem Proletariat, wenigstens in modernen Staaten, noch andere Mittel und Methoden in der Politik zu wirken, zur Verfügung stehen, als der bewaffnete Aufstand, scheint er total vergessen zu haben. Engels hat den bewaffneten Aufstand 1895 ausdrücklich ins alte Eisen geworfen und doch rechnete er mit dem Sieg der Revolution.

In der Tat ist der bewaffnete Aufstand heute nur noch in Ausnahmsfällen möglich. In den meisten Fällen führt er zur Niederlage des Proletariats. Es muß lernen, ohne bewaffnete Insurrektion zu siegen.

Aber selbst wer noch an den bewaffneten Aufstand als Erlöser glaubt, wird seine Bedenken haben darüber, daß der Terror die Fortsetzung des Aufstandes ist, von dem er sich nicht unterscheidet. Der Aufstand richtet sich gegen die Truppen einer Regierung. Hier kämpfen Bewaffnete gegen Bewaffnete. Der Terror mordet Wehrlose. Er ist gleichzusetzen dem Erschießen von Gefangenen im Krieg. Oder ist das auch nur „eine direkte Fortsetzung des Krieges“? Ich bin heuchlerischer Quäker genug, diese Frage entschieden zu verneinen.

Trotzki kommt nun selbst auf die Frage zu sprechen, die auf jedermanns Lippen schwebt:

„Aber wodurch unterscheidet sich in diesem Falle eure Taktik von der Taktik des Zarismus? fragen uns die Pfaffen des Liberalismus und Kautskyanertums.

Das versteht ihr nicht Frömmler? Wir wollen euch das erklären. Der Terror des Zarismus war gegen das Proletariat gerichtet. Die zaristische Gendarmerie würgte die Arbeiter, die für die sozialistische Ordnung kämpften. Unsere außerordentlichen Kommissionen erschienen die Gutsherren, Kapitalisten, Generäle, die die kapitalistische Ordnung wiederherzustellen bestrebt sind. Erfaßt ihr diese ... Nuance? Ja? Für uns Kommunisten genügt sie vollkommen.“

Eine feine Nuance in der Tat! Jede Niedertracht verwandelt sich in eine herrliche Großtat, wenn ein Kommunist sie verübt. Jede Bestialität ist erlaubt, wenn man sie im Namen des Proletariats vollbringt. So vollzogen auch die spanischen Conquistadoren ihre Bluttaten in Südamerika im Namen Gottes.

Ist es zu viel gesagt, wenn wir Trotzkis Buch ein hohes Lied der Unmenschlichkeit und Kurzsichtigkeit nennen? Auch der Kurzsichtigkeit, denn es gehört kein außerordentlicher Weitblick dazu, zu sehen, daß man mit der Trotzkischen Rechtfertigung jeder reaktionären Gewalttat den Weg ebnet. Der Satz, die zweckmäßige und energische Anwendung von Gewalt sei unerläßlich, um den Klassenwillen des Feindes zu brechen, verliert seine Gültigkeit doch nicht dann, wenn der „Klassenfeind“ das Proletariat ist.

Und ist der Terror die logische Konsequenz des bewaffneten Aufstandes, dann ist er das auch, wenn durch den bewaffneten Aufstand eine bolschewistische Regierung gestürzt wird.

Im übrigen zeigt Trotzki doch einige Scham und sucht seine Blößen etwas zu verhüllen. Er spricht in bezug auf den Terror immer nur von den Notwendigkeiten des Kriegszustandes. Jetzt hat aber Rußland seit Jahresfrist Frieden. Er spricht auch nur vom Erschießen von „Gutsherren, Kapitalisten, Generälen, die die kapitalistische Ordnung wieder herzustellen bestrebt sind“, über das Erschießen von Sozialisten und Proletariern, die den Sozialismus vielleicht heißer ersehnen, als der Trotzki von heute, spricht er nicht.

Das freilich konnte Trotzki, als er sein Buch schrieb, nicht voraussehen, daß Lenin selbst binnen Jahresfrist unter die Leute gehen werde, die sich daran machen, die kapitalistische Ordnung wiederherzustellen. Heute werden Kapitalisten in Rußland nicht erschossen, sondern freundlich bewillkommt. Der Terror aber geht in gleichem Maße fort.

Der Terror ist das auffallendste, aber nicht das einzige Merkmal der Mißachtung der menschlichen Persönlichkeit, wodurch sich der Bolschewismus in einen ausgesprochenen Gegensatz zu den Entwicklungstendenzen unserer Zeit und den daraus hervorgehenden Bedürfnissen des Proletariats ebenso setzt, wie durch seine Verachtung der Demokratie.

Daher die abstoßende Wirkung, die er auf immer größere Massen des Proletariats übt, die ihn bei seinem Regierungsantritt enthusiastisch begrüßten als den Messias, der die Mühseligen und Beladenen erlösen werde. Sie begeisterten sich für ihn wegen seiner großen Verheißungen, an die er sicher selbst glaubte und an deren Verwirklichung er mit unerhörter Energie ging. Die Grausamkeit sowie die Verachtung aller Wirklichkeit, die dabei mit unterlief, sah man im Auslande zunächst nicht, dank der Abschließung Rußlands. Und was davon über die russischen Grenzen hinaus verlautete, war mit so viel Lüge gemischt, daß man alles unbesehen als bürgerliche Verleumdung bezeichnete und verwarf. Jetzt aber wird die brutale Gewalttätigkeit des Moskauer Regimes immer deutlicher auch den Massen sichtbar und entsetzt wenden sie sich von diesem scheußlichen Medusenhaupt ab.

Wie ganz anders wirkte 1871 die Pariser Kommune, trotzdem sie sich in vielem als unzulänglicher erwies als das bolschewistische Regime. Aber sie war von ihren Anfängen bis zum Schlusse getragen von größter Achtung für die menschliche Persönlichkeit, auch der Gegner. Und gar erst recht für die der eigenen Genossen. Und jeder galt als Genosse, der in der gleichen Richtung wirkte, ohne Unterschied der Methode. Drei verschiedene Auffassungsweisen machten sich in der Kommune geltend, die Jakobiner, die Blanquisten, die Internationalisten, meist Proudhonisten. Sie kämpften oft sehr lebhaft untereinander, um ihre verschiedenen Methoden durchzusetzen, aber niemals wäre es einer dieser drei Gruppen eingefallen, nach der Alleinherrschaft durch Gewalttat gegen die andern zu streben. Der Bolschewismus dagegen predigte von Anfang an die Vernichtung jeder anderen sozialistischen Partei mit allen Mitteln, Verleumdung und Maschinengewehren, je nach der Situation.

Und die Kommune repräsentierte das fortgeschrittenste sozialistische Denken der Massen ihrer Zeit.

Marx war damals noch so gut wie unverstanden, wenn auch nicht unbekannt. Vom historischen Materialismus sprach niemand. Indessen in ihrem Aufeinanderwirken wurden Blanquisten wie Proudhonisten der Kommune unter dem Druck der Verhältnisse dahin gedrängt, ein Programm zu formulieren, das Marx anerkennen und verteidigen konnte.

Der Untergang der Kommune selbst zog den des Proudhonismus nach sich, sowie die Umgestaltung des Blanquismus, der sich dem Marxismus sehr näherte. Zwei Jahrzehnte nach der Kommune finden wir den Marxismus in der ganzen Internationale siegreich, alle Arbeiterparteien praktisch, wenn auch nicht immer ausgesprochen theoretisch, auf ihm aufgebaut.

Und da kommt jetzt, ein halbes Jahrhundert nach der Pariser Kommune, der Bolschewismus und produziert eine Auslegung des Marxschen Vokabulariums, die uns in die Zeiten Weitlings und Blanquis, in die vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt.

Und dank der Anwendung dieser Denkweise der vormarxistischen Zeit produziert er ein politisches und ökonomisches Ergebnis, das in die vorkapitalistische Zeit zurückführt.

Dieser in Theorie und Praxis ausgesprochene reaktionäre Charakter, der nicht in der Richtung zum Sozialismus, sondern von ihm weg führt, er ist es, der neben seiner Brutalität und seiner Herrschsucht immer weitere Kreise des Proletariats vom Bolschewismus abstößt. Dadurch wird bewirkt, daß er dahingehen wird, ohne etwas anderes zu hinterlassen, als Ruinen und Flüche.

Schon vor ihm sind Proletarier mitunter verfrüht zur Herrschaft gelangt, unter Umständen, unter denen sie sich nicht behaupten konnten. Aber die Erinnerung an sie ist uns teuer geworden, von den Wiedertäufern bis zur Pariser Kommune.

Der Bolschewismus dagegen wird einen dunklen Flecken bilden in der Geschichte des Sozialismus. Heute schon wendet sich die Masse des internationalen Proletariats mit Grauen ab von diesen Brudermördern aus Machtgier. Sollte der Bolschewismus lange genug am Ruder bleiben, ohne einzulenken, dann können wir es noch erleben, daß er Arm in Arm mit den Kapitalisten des Westens dem nach Freiheit ringenden Proletariat Rußlands den Krieg erklärt.

Dann wird sein Entwicklungsgang vollendet sein.


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012