Karl Kautsky


Von der Demokratie zur Staatssklaverei



Vorwort

Die vorliegende Schrift wurde im Juni d. J. fertiggestellt, zu einer Zeit, in der die Welt noch nichts von der entsetzlichen Katastrophe ahnte, die jetzt durch Mißernte, Hungersnot und Seuchen über das russische Volk herausgebrochen ist.

Was Rußland heute vom Ausland in erster Linie braucht, Hilfeleistung, rasche und ausgiebige Hilfeleistung und nicht Kritik. Doch ist leider auch diese keineswegs überflüssig. Denn die Hungersnot ist nicht ein Produkt von Naturgewalten allein.

Gewiß ist die Dürre nicht ein Ergebnis der Sowjetregierung. Eine Konstituante hätte keinen Tropfen mehr Regen gebracht. Aber ein Ergebnis des Sowjetregimes ist es, daß Rußland von der Katastrophe überrascht wurde und nicht imstande ist, sich allein zu helfen.

Wenn die russische Landwirtschaft normal funktionieren würde, könnten die von der Dürre nicht betroffenen Gebiete des russischen Reiches genügende Überschüsse an Nahrung liefern, um das Defizit der Gebiete der Mißernte zu decken. Und wären die Eisenbahnen nicht unter der Moskauer Wirtschaft völlig zusammengebrochen, so vermöchten sie den Hungergebieten genügende Lebensmittel zuzuführen.

Heute muß man die Lebensmittel aus Amerika holen, und sie werden wegen des Mangels an Transportmitteln nicht weit in das Hungergebiet vordringen können.

Diese Übel lassen sich leider durch keine Änderung des Staatskurses rasch genug beheben, daß ihre Beseitigung bei der Bekämpfung des Massenelends in Betracht kommen könnte.

Eines aber ist sofort möglich.

Rußland leidet nicht bloß unter dem Verkommen seiner Produktion und seines Transportwesens, sondern auch unter dem Mangel an Bewegungsfreiheit. Das lähmt das russische Volk, verwandelt es in einen lebenden Leichnam, macht es unfähig, sich selbst zu helfen.

Nur das Fehlen jeglicher Preßfreiheit konnte es möglich machen, daß die weit erst Mitte Juli von der Mißernte erfuhr, von der Tatsache, daß in den Gebieten der Dürre seit März kein Regen gefallen war. Dem Kongreß der dritten Internationale, der bis zum Juli in Moskau tagte, wurde noch nichts von der Mißernte und Hungersnot gesagt. Fast müßte man annehmen, daß die Sowjetregierung damals selbst noch nichts davon wußte, sonst wäre es doch sträfliche Leichtfertigkeit gewesen, die Tatsache zu verheimlichen, statt sofort alles aufzubieten, um die Hilfeleistung in Gang zu bringen, ehe die Not alles Maß überschritt und Millionen direkt verhungerten.

Die Hilfeleistung könnte selbst nur dann die nötige Energie erlangen, wenn die Tatkraft des ganzen Volkes ihrer Fesseln entledigt und von der bureaukratischen Bevormundung befreit würde.

Dies zu tun, ist heute das wichtigste, was in Rußland selbst zur Bekämpfung der Hungersnot und der Seuchen geschehen kann.

Sicher darf die Hilfsaktion des Auslandes nicht an politische Bedingungen geknüpft werden. Aber das russische Volk und die russische Regierung müssen sich dessen bewußt werden, daß diese Aktion nur dann ihr bestes erreichen kann, wenn sie unterstützt wird durch die energische Mitwirkung des russischen Volkes selbst, die unmöglich ist, solange bureaukratische Einschnürung und Bevormundung es lähmt.

Die russische Regierung ist bereits dazu übergegangen, ökonomische Konzessionen zu machen. Von politischen will sie nichts wissen. Aber gerade diese können rascher wirken und sind in der heutigen Situation wichtiger, als die ökonomischen.

Ich weiß wohl, daß in der Politik Zureden in der Regel nichts hilft, am allerwenigsten gegenüber einer Diktatur. Aber wenn dieses Zureden unterstützt wird durch eine so eindringliche Sprache, wie sie der augenblickliche Zusammenbruch der russischen Ernährungswirtschaft spricht, dann bleibt es vielleicht doch nicht ohne Wirkung.

So glaube ich, daß das vorliegende Büchlein durch die russische Mißernte nicht überflüssig gemacht wird, obwohl ich es abfaßte, ohne von ihr Kenntnis zu haben.

Rußland aus dem Sumpfe herauszuführen, in dem es zu ersticken droht, ist die dringendste Aufgabe der Zeit, die dringendste Aufgabe vor allem für jeden Sozialisten, denn Sozialisten sind es, in deren Hände das Schicksal des russischen Volkes gelegt ist.

Die Irrlichter zu verlöschen, die sie immer tiefer in den Sumpf lockten, ihnen den Weg aus ihm heraus auf festen Boden zu weisen, ist unsere oberste Pflicht.

K. Kautsky

Berlin, August 1921


Zuletzt aktualisiert am: 7.1.2012