W.I. Lenin

 

Was tun?

 

I
Dogmatismus und „Freiheit der Kritik“

 

d) Engels über die Bedeutung des theoretischen Kampfes

„Dogmatismus, Doktrinarismus“, „Verknöcherung der Partei als unvermeidliche Strafe für die gewaltsame Abschnürung des Denkens“ – das seien die Feinde, gegen die die Verfechter der „Freiheit der Kritik“ um Rabotscheje Delo so kühn zu Felde ziehen. Wir freuen uns sehr, daß diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt wird, und möchten nur noch vorschlagen, sie durch eine andere Frage zu ergänzen:

Und wer sind die Richter?

Zwei Ankündigungen literarischer Ausgaben liegen von uns. Die eine ist das „Programm des periodisch erscheinenden Organs des Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten, Rabotscheje Delo„ (Abdruck aus Nr.1 des Rabotscheje Delo). Die andere ist die Mitteilung der Gruppe Befreiung der Arbeit über die Wiederaufnahme ihrer Publikationstätigkeit. Beide sind von Jahre 1899 datiert, als die „Krise des Marxismus“ schon seit langem auf der Tagesordnung stand. Und was sehen wir? In der ersten Schrift würde man vergeblich nach einem Hinweis auf diese Erscheinung und eine bestimmte Darlegung der Position suchen, die das neue Organ in dieser Frage einzunehmen gedenkt. Über die theoretische Arbeit und ihre dringendsten Aufgaben in der gegebenen Zeit ist weder in diesem Programm noch in jenen Ergänzungen zu ihm, die die dritte Konferenz des „Auslandsbundes“ um Jahre 1901 angenommen hat, auch nur ein Wort zu finden (Zwei Konferenzen, S.15-18). In dieser ganzen Zeit ließ die Redaktion des Rabotscheje Delo die theoretischen Fragen unbeachtet, obwohl diese Fragen die Sozialdemokraten der ganzen Welt bewegten.

Die zweite Ankündigung weist dagegen von allem auf das in den letzten Jahren wahrzunehmende Nachlassen des Interesses für die Theorie hin, sie verlangt dringend „aufmerksame Beachtung der theoretischen Seite der revolutionären Bewegung des Proletariats“ und fordert zur „schonungslosen Kritik an den Bernsteinschen und anderen antirevolutionären Tendenzen“ in unserer Bewegung auf. Die erschienenen Nummern der Sarja zeigen, wie dieses Programm erfüllt worden ist.

Wir sehen also, daß mit den tönenden Phrasen gegen die Verknöcherung des Denkens usw. nur Sorglosigkeit und Hilflosigkeit in der Entwicklung des theoretischen Denkens bemäntelt werden. Das Beispiel der russischen Sozialdemokraten illustriert besonders anschaulich die allgemeine europäische Erscheinung (die auch von den deutschen Marxisten schon seit langem festgestellt worden ist), daß die vielgerühmte Freiheit der Kritik nicht das Ablösen einer Theorie durch eine andere bedeutet, sondern das Freisein von jeder geschlossenen und durchdachten Theorie, daß sie Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit bedeutet. Wer den tatsächlichen Zustand unserer Bewegung einigermaßen kennt, der kann nicht umhin zu sehen, daß die weite Verbreitung des Marxismus von einem gewissen Absinken des theoretischen Niveaus begleitet war. Der Bewegung schlossen sich, angezogen von ihrer praktischen Bedeutung und ihren praktischen Erfolgen, viele Leute an, die sehr wenig oder gar keine theoretischen Kenntnisse hatten. Man kann danach beurteilen, welchen Mangel an Takt das Rabotscheje Delo zeigt, wenn es mit triumphierender Miene Marx’ Ausspruch ins Treffen führt: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.“ [22] Diese Worte in einer Zeit der theoretischen Zerfahrenheit wiederholen ist dasselbe, als wolle man beim Anblick eines Leichenbegängnisses ausrufen: „Mögen euch immer so glückliche Tage beschieden sein!“ Zudem sind die Worte von Marx seinem Brief über das Gothaer Programm entnommen, in dem er den bei der Formulierung der Prinzipien zugelassenen Eklektizismus scharf verurteilt: Wenn man sich schon vereinigen mußte, schrieb Marx an die Parteiführer, so hätte man einfach eine Übereinkunft abschließen sollen, um praktische Ziele der Bewegung zu befriedigen, sich aber auf keinen Prinzipienschacher einlassen, keine theoretischen „Zugeständnisse“ machen dürfen. Das war Marx’ Gedanke, bei uns aber finden sich Leute, die in seinem Namen die Bedeutung der Theorie herabzusetzen suchen!

Ohne revolutionäre Theorie kann er auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart. Für die russische Sozialdemokratie aber wird die Bedeutung der Theorie noch durch drei Umstände erhöht, die man oft vergißt, nämlich: Erstens dadurch, daß sich unsere Partei eben erst herausbildet, erst ihr eigenes Gesicht herausarbeitet und die Auseinandersetzung mit den anderen Richtungen des revolutionären Denkens, die die Bewegung vom richtigen Wege abzulenken drohen, noch lange nicht abgeschlossen hat. In Gegenteil, gerade die allerletzte Zeit war durch eine Belebung der nichtsozialdemokratischen revolutionären Richtungen gekennzeichnet (wie das Axelrod den „Ökonomisten“ seit langem prophezeit hatte [23]). Unter solchen Umständen kann ein auf den ersten Blick „belangloser“ Fehler die traurigsten Folgen haben, und nur Kurzsichtige können die fraktionellen Streitigkeiten und das strenge Auseinanderhalten von Schattierungen für unzeitgemäß oder überflüssig halten. Von der Konsolidierung dieser oder jener „Schattierung“ kann die Zukunft der russischen Sozialdemokratie für viele, viele Jahre abhängen.

Zweitens ist die sozialdemokratische Bewegung ihrem ureigensten Wesen nach international. Das bedeutet nicht nur, daß wir den nationalen Chauvinismus zu bekämpfen haben. Das bedeutet auch, daß die in einem jungen Lande einsetzende Bewegung nur erfolgreich sein kann, wenn sie die Erfahrungen der anderen Länder verarbeitet. Für ein solches Verarbeiten aber genügt die einfache Kenntnis diesen Erfahrungen oder das einfache Abschreiben der jüngsten Resolutionen nicht. Dazu ist notwendig, daß man es versteht, diesen Erfahrungen kritisch gegenüberzutreten und sie selbständig zu überprüfen. Wer sich vergegenwärtigt, wie gewaltig die moderne Arbeiterbewegung gewachsen ist und sich verzweigt hat, der wird begreifen, welche Fülle an theoretischen Kräften und politischen (und auch revolutionären) Erfahrungen zur Bewältigung dieser Aufgabe erforderlich ist.

Drittens hat die russische Sozialdemokratie nationale Aufgaben, von denen noch keine sozialistische Partei der Welt gestanden hat. Wir werden weiter unten auf die politischen und organisatorischen Pflichten zu sprechen kommen, die uns durch die Aufgabe, das ganze Volk von Joch der Selbstherrschaft zu befreien, auferlegt werden. Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, daß die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird. Um sich auch nur einigermaßen konkret vorzustellen, was das bedeutet, möge sich der Leser an solche Vorläufer der russischen Sozialdemokratie erinnern wie Herzen, Belinski, Tschernyschewski und die glanzvolle Plejade der Revolutionäre der siebziger Jahre; möge er an die Weltbedeutung denken, die gegenwärtig die russische Literatur gewinnt, möge er ... aber auch das genügt schon!

Wir wollen Engels’ Bemerkungen über die Bedeutung der Theorie in der sozialdemokratischen Bewegung anführen, die aus dem Jahre 1874 stammen. Engels spricht nicht von zwei Formen des großen Kampfes der Sozialdemokratie (dem politischen und dem ökonomischen) – wie das bei uns üblich ist –, sondern von drei, indem er neben diese auch den theoretischen Kampf stellt. Die Worte, die er der praktisch und politisch erstarkten deutschen Arbeiterbewegung mit auf den Weg gibt, sind unter dem Gesichtspunkt der heutigen Probleme und Auseinandersetzungen so lehrreich, daß der Leser uns hoffentlich dar lange Zitat aus der Vorbemerkung zur Broschüre Der deutsche Bauernkrieg [I] nicht verübeln wird, die seit langem eine der größten bibliographischen Seltenheiten geworden ist:

Die deutschen Arbeiter haben von denen des übrigen Europas zwei wesentliche Vorteile voraus. Erstens, daß sie dem theoretischsten Volk Europas angehören und daß sie sich den theoretischen Sinn bewahrt haben, der der sogenannten „Gebildeten“ Deutschlands so gänzlich abhanden gekommen ist. Ohne Vorausgang der deutschen Philosophie, namentlich Hegels, wäre der deutsche wissenschaftliche Sozialismus – der einzige wissenschaftliche Sozialismus, der je existiert hat – nie zustande gekommen. Ohne theoretischen Sinn unter den Arbeitern wäre dieser wissenschaftliche Sozialismus nie so sehr in ihr Fleisch und Blut übergegangen, wie dies der Fall ist. Und welch ein unermeßlicher Vorzug dies ist, zeigt sich einerseits an der Gleichgültigkeit gegen alle Theorie, die eine der Hauptursachen ist, weshalb die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisation der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt, und andererseits an dem Unfug und der Verwirrung, die der Proudhonismus in seiner ursprünglichen Gestalt bei Franzosen und Belgiern, in seiner durch Bakunin weiter karikierten Form bei Spaniern und Italienern angerichtet hat.

Der zweite Vorteil ist den, daß die Deutschen in der Arbeiterbewegung der Zeit nach ziemlich zuletzt gekommen sind. Wie der deutsche theoretische Sozialismus nie vergessen wird, daß er auf den Schultern Saint-Simons, Fouriers und Owens steht, dreier Männer, die bei aller Phantasterei und bei allem Utopismus zu den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten gehören und zahllose Dinge genial antizipierten, deren Richtigkeit wir jetzt wissenschaftlich nachweisen – so darf die deutsche praktische Arbeiterbewegung nie vergessen, daß sie auf den Schultern der englischen und französischen Bewegung sich entwickelt bat, ihre teuer erkauften Erfahrungen sich einfach zunutze machen, ihre damals meist unvermeidlichen Fehler jetzt vermeiden konnte. Ohne den Vorgang der englischen Trade-Unions und der französischen politischen Arbeiterkämpfe, ohne den riesenhaften Anstoß, den namentlich die Pariser Kommune gegeben, wo wären wir jetzt?

Man muß den deutschen Arbeitern nachsagen, daß sie die Vorteile ihrer Lage mit seltnem Verständnis ausgebeutet haben. Zum erstenmal, seit eine Arbeiterbewegung besteht, wird der Kampf nach seiner drei Seiten hin – nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) – im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung.

Einerseits durch diese ihre vorteilhafte Stellung, andererseits durch die insularen Eigentümlichkeiten der englischen und die gewaltsame Niederhaltung der französischen Bewegung sind die deutschen Arbeiter für den Augenblick in die Vorhut des proletarischen Kampfes gestellt worden. Wie lange die Ereignisse ihnen diesen Ehrenposten lassen werden, läßt sich nicht vorhersagen. Aber solange sie ihn einnehmen, werden sie ihn hoffentlich so ausfüllen, wie es sich gebührt. Dazu gehören verdoppelte Anstrengungen auf jedem Gebiet des Kampfes und der Agitation. Es wird namentlich die Pflicht der Führer rein, sich über alle theoretischen Fragen mehr und mehr aufzuklären, sich mehr und mehr von dem Einfluß überkommener, der alten Weltanschauung angehörigen Phrasen zu befreien und stets in Auge zu behalten, daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissenschaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, d.h. studiert werden will. Es wird darauf ankommen, die so gewonnene, immer mehr geklärte Einsicht unter den Arbeitermassen mit gesteigertem Eifer zu verbreiten, die Organisation der Partei wie der Gewerksgenossenschaften immer fester zusammenzuschließen.

... Wenn die deutschen Arbeiter so vorangehen, so werden sie nicht gerade an der Spitze der Bewegung marschieren – er ist gar nicht in Interesse dieser Bewegung, daß die Arbeiter irgendeiner einzelnen Nation an ihrer Spitze marschieren –, aber doch einen ehrenvollen Platz in der Schlachtlinie einnehmen; und sie werden gerüstet dastehen, wenn entweder unerwartet schwere Prüfungen oder gewaltige Ereignisse von ihnen erhöhten Mut, erhöhte Entschlossenheit und Tatkraft erheischen. [24]

Engels’ Worte haben sich als prophetisch erwiesen. Wenige Jahre später wurden die deutschen Arbeiter unerwartet von einer schweren Prüfung, dem Sozialistengesetz, betroffen. Die deutschen Arbeiter sind diesen Prüfung tatsächlich gerüstet entgegengetreten und haben er verstanden, aus ihn siegreich hervorzugehen.

Dem russischen Proletariat stehen noch unermeßlich härtere Prüfungen bevor, ihm steht der Kampf gegen ein Ungeheuer bevor, mit dem verglichen das Sozialistengesetz in einem konstitutionellen Lande als wahren Zwerg erscheint. Die Geschichte hat uns jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgendeines anderen Länder ist. Die Verwirklichung diesen Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern (wir können jetzt sagen) auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen. Und wir haben das Recht anzunehmen, daß wir uns diesen Ehrennamen, den sich schon unsere Vorgänger, die Revolutionäre der siebziger Jahre, verdient haben, erwerben werden, wenn wir es verstehen, unsere tausendmal mehr in die Tiefe und in die Breite gehende Bewegung mit ebenso rückhaltloser Entschlossenheit und Tatkraft zu erfüllen.

 

Fußnote von Lenin

I. Dritter Abdruck, Leipzig 1875, Verlag der Genossenschaftsbuchdruckerei.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008