W.I. Lenin

 

Was tun?

 

IV
Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre

 

f) Örtliche und gesamtrussische Arbeit

Sind auch die Einwände gegen den hier dargelegten Plan der Organisation, sie sei undemokratisch und trage verschwörerischen Charakter, völlig unbegründet, so bleibt doch noch eine Frage zu beantworten, die oft aufgeworfen wird und eingehende Betrachtung verdient. Das ist die Frage der Wechselbeziehung zwischen der örtlichen und der gesamtrussischen Arbeit. Es wird die Befürchtung geäußert: Wird nicht die Gründung einer zentralisierten Organisation zu einer Verschiebung des Schwerpunkts von der örtlichen Arbeit auf die gesamtrussische führen? wird sie nicht der Bewegung schaden, indem sie unsere Verbindung mit der Arbeitermasse und überhaupt die Beständigkeit der lokalen Agitation schwächt? Wir antworten darauf, daß unsere Bewegung in den letzten Jahren gerade darunter leidet, daß die örtlichen Funktionäre zu sehr von der örtlichen Arbeit in Anspruch genommen sind; daß es darum unbedingt notwendig ist, den Schwerpunkt ein wenig auf die gesamtrussische Arbeit zu verschieben; daß eine solche Verschiebung unsere feste Verbindung mit den Massen und die Beständigkeit unserer örtlichen Agitation nicht schwächen, sondern stärken wird. Wir wollen die Frage der zentralen und der lokalen Zeitungen betrachten und bitten den Leser, nicht zu vergessen, daß das Zeitungswesen uns nur als Beispiel dient, durch das die unermeßlich viel umfassendere und vielseitigere revolutionäre Arbeit überhaupt illustriert wird.

In der ersten Periode der Massenbewegung (1896 bis 1898) wird von den örtlichen Funktionären der Versuch gemacht, eine gesamtrussische Zeitung herauszugeben – die Rabotschaja Gaseta; in der darauffolgenden Periode (1898 bis 1900) macht die Bewegung einen enormen Schritt vorwärts, aber die Aufmerksamkeit der führenden Genossen wird durch die lokalen Zeitungen vollkommen in Anspruch genommen. Zählt man alle diese lokalen Zeitungen zusammen, so ergibt sich, daß, rund gerechnet, auf den Monat eine Zeitungsnummer entfällt. [M] Ist das nicht eine anschauliche Illustration unserer Handwerklerei? Zeigt das nicht mit aller Klarheit, wie unsere revolutionäre Organisation hinter dem spontanen Aufschwung der Bewegung zurückgeblieben ist? Wäre die gleiche Anzahl von Zeitungsnummern nicht von vereinzelten lokalen Gruppen herausgegeben worden, sondern von einer einheitlichen Organisation, so würden wir nicht nur viel Kraft gespart haben, sondern wir hätten auch unserer Arbeit eine unvergleichlich höhere Stabilität und Kontinuität gesichert. Diese einfache Erwägung wird nur zu oft sowohl von den Praktikern außer acht gelassen, die aktiv fast ausschließlich an lokalen Zeitungen arbeiten (leider ist es in den allermeisten Fällen auch heute noch so), als auch von den Publizisten, die in dieser Frage eine erstaunliche Donquichotterie an den Tag legen. Der Praktiker begnügt sich gewöhnlich mit der Erwägung, daß es für die örtlichen Funktionäre „schwierig“ [N] sei, sich mit der Arbeit für eine gesamtrussische Zeitung zu befassen, und daß lokale Zeitungen besser seien als gar keine. Dieses letzte Argument ist natürlich völlig richtig, und in der Anerkennung der gewaltigen Bedeutung und des gewaltigen Nutzens der lokalen Zeitungen überhaupt stehen wir hinter keinem Praktiker zurück. Aber doch nicht darum handelt es sich, sondern es geht um die Frage, ob man die Zersplitterung und Handwerklerei nicht loswerden könnte, die so anschaulich darin zum Ausdruck kommen, daß in 2½ Jahren in ganz Rußland nur 30 Nummern lokaler Zeitungen erschienen sind. Man darf sich also nicht auf zwar unbestrittene, aber zu allgemeine Behauptungen über den Nutzen lokaler Zeitungen überhaupt beschränken, sondern man muß auch den Mut haben, ihre negativen Seiten, die die Erfahrung der zweieinhalb Jahre klar gezeigt hat, offen festzustellen. Diese Erfahrung zeugt davon, daß lokale Zeitungen unter unseren Verhältnissen in den meisten Fällen nicht prinzipienfest, daß sie politisch bedeutungslos sind, daß sie, was den Aufwand an revolutionären Kräften betrifft, übermäßig kostspielig und in technischer Beziehung völlig unzulänglich sind (ich meine natürlich nicht die Drucktechnik, sondern die Häufigkeit und Regelmäßigkeit des Erscheinens). Alle genannten Mängel sind kein Zufall, sondern das unvermeidliche Ergebnis der Zersplitterung, aus der sieh einerseits das Überwiegen der lokalen Zeitungen in der hier behandelten Periode erklärt und die anderseits durch dieses Überwiegen gefördert wird. Es geht geradezu über die Kraft einer einzelnen lokalen Organisation, ihrer Zeitung Prinzipienfestigkeit zu sichern und sie auf das Niveau zu bringen, das ein politisches Organ haben muß, es geht über ihre Kraft, genügend Material für die Beleuchtung unseres gesamten politischen Lebens zu sammeln und auszuwerten. Das Argument aber, mit dem die Notwendigkeit zahlreicher lokaler Zeitungen in freien Ländern verteidigt zu werden pflegt – die Billigkeit der Herstellung mit Hilfe der örtlichen Arbeiter und die umfassendere und raschere Information der örtlichen Bevölkerung – dieses Argument kehrt sich bei uns, wie die Erfahrung zeigt, gegen die lokalen Zeitungen. Es erweist sich, daß sie, was den Aufwand an revolutionären Kräften betrifft, übermäßig kostspielig sind und daß sie aus dem einfachen Grund besonders selten erscheinen, weil für eine illegale Zeitung, wie klein sie auch sein mag, ein gewaltiger konspirativer Apparat notwendig ist, der einen fabrikmäßigen Großbetrieb erfordert, denn in der Werkstatt eines Handwerkers ist ein solcher Apparat nicht herzustellen. Die Primitivität des konspirativen Apparats, führt aber auf Schritt und Tritt dazu (jeder Praktiker kennt eine Menge solcher Beispiele), daß die Polizei das Erscheinen und die Verbreitung von ein, zwei Nummern ausnützt, um Massenverhaftungen vorzunehmen, durch die alles so ratzekahl hinweggefegt wird, daß man wieder von vorn anfangen muß. Ein guter konspirativer Apparat erfordert eine gute berufliche :Schulung der Revolutionäre und eine aufs konsequenteste durchgeführte Arbeitsteilung; diese beiden Forderungen übersteigen aber weit die Kraft einer einzelnen lokalen Organisation, wie stark sie im gegebenen Moment auch sein mag. Ganz abgesehen von den allgemeinen Interessen unserer gesamten Bewegung (die prinzipiell konsequente sozialistische und politische Erziehung der Arbeiter), werden auch die speziell lokalen Interessen durch nichtlokale Zeitungen besser vertreten, das erscheint nur auf den ersten Blick paradox, in Wirklichkeit aber wird es durch die geschilderten Erfahrungen von zweieinhalb Jahren unwiderleglich bewiesen. Jeder wird zugeben: Hätten alle lokalen Kräfte, die 30 Zeitungsnummern herausgebracht haben, an einer Zeitung gearbeitet, so hätten von dieser leicht 60, wenn nicht gar 100 Nummern erscheinen können, und in ihr wären infolgedessen alle Besonderheiten der Bewegung rein lokalen Charakters vollständiger beleuchtet worden. Unzweifelhaft ist eine solche Organisiertheit keine leichte Sache, doch müssen wir einsehen, daß sie notwendig ist, jeder lokale Zirkel muß über sie nachdenken und an ihr aktiv arbeiten, ohne auf einen Anstoß von außen zu warten, ohne sich durch die Zugänglichkeit, die Nähe des lokalen Organs verlocken zu lassen, die, wie unsere revolutionäre Erfahrung zeigt, in hohem Maße illusorisch ist.

Einen schlechten Dienst erweisen der praktischen Arbeit jene Publizisten, die sieh einbilden, den Praktikern besonders nahezustehen, aber nicht sehen, wie illusorisch das ist, und die Sache mit der erstaunlich billigen und erstaunlich hohlen Erklärung abtun: notwendig seien lokale Zeitungen, notwendig seien Bezirkszeitungen, notwendig seien gesamtrussische Zeitungen. Natürlich ist das alles, allgemein gesprochen, notwendig, aber wenn man eine konkrete organisatorische Frage anpackt, muß man doch auch an die Bedingungen denken, die durch die Verhältnisse und den Zeitpunkt gegeben sind. Ist es denn nicht wirklich Donquichotterie, wenn die Swoboda (Nr.1, S.68), speziell „auf die Frage der Zeitung eingehend“, schreibt: „Uns dünkt, daß jeder Ort mit halbwegs bedeutender Konzentration von Arbeitern eine eigene Arbeiterzeitung haben muß. Nicht eine von irgendwo importierte, sondern eben seine eigene.“ Will dieser Publizist nicht über die Bedeutung seiner Worte nachdenken, so mag es wenigstens der Leser für ihn tun: Wieviel Dutzende, ja Hunderte solcher „Orte mit halbwegs bedeutender Konzentration von Arbeitern“ gibt es in Rußland, und was für eine Verewigung unserer Handwerklerei wäre es, wenn tatsächlich jede lokale Organisation ihre eigene Zeitung herausgeben wollte! Wie sehr würde diese Zersplitterung die Aufgabe unserer Gendarmen erleichtern, alle örtlichen Funktionäre – und zwar ohne jede „halbwegs bedeutende“ Schwierigkeit – schon zu Beginn ihrer Tätigkeit zu schnappen, ohne ihnen erst die Möglichkeit zu geben, wirkliche Revolutionäre zu werden! In einer gesamtrussischen Zeitung, fährt der Verfasser fort, wären die Schilderungen der Machenschaften der Fabrikbesitzer und der „Einzelheiten des Fabriklebens in verschiedenen fremden Städten“ nicht interessant, aber „dem Leser in Orjol wird es nicht langweilig sein, von seinen eigenen Orjoler Angelegenheiten zu lesen. Er weiß dann immer, wen man sich ‚vorgeknöpft‘ hat, wer ‚festgenagelt‘ worden ist, und das Herz hüpft ihm im Leibe“ (S.69). Ja ja, das Herz des Lesers in Orjol hüpft, aber allzusehr „hüpfen“ auch die Gedanken unseres Publizisten. Ist diese Verteidigung der Kleinkrämerei taktisch richtig? – darüber sollte er nachdenken. Wir stehen hinter niemand zurück in der Erkenntnis, daß Fabrikenthüllungen notwendig und wichtig sind, aber man darf doch nicht vergessen: Wir sind schon so weit gekommen, daß es den Petersburgern langweilig geworden ist, die Petersburger Korrespondenzen der Petersburger Zeitung Rabotschaja Mysl zu lesen. Für die Fabrikenthüllungen an den einzelnen Orten hatten wir stets Flugblätter und werden wir auch stets Flugblätter haben müssen, aber den Typus der Zeitung müssen wir auf ein höheres Niveau bringen und sie nicht zu einem Fabrikflugblatt degradieren. Für eine „Zeitung“ brauchen wir nicht so sehr Enthüllungen der „Kleinigkeiten“ als vielmehr Enthüllungen der großen, typischen Übelstände des Fabriklebens, Enthüllungen an Hand besonders prägnanter Beispiele, die geeignet sind, alle Arbeiter und alle Führer der Bewegung zu interessieren, die geeignet sind, ihr Wissen wirklich zu bereichern, ihren Gesichtskreis zu erweitern und das Erwachen eines neuen Bezirks, einer neuen Berufsschicht von Arbeitern in die Wege zu leiten.

„Ferner können in der lokalen Zeitung alle Machenschaften der Fabrikverwaltung oder anderer Behörden sofort an Ort und Stelle aufgegriffen werden. Wie lange dauert es aber, bis die Nachricht in die allgemeine, weit entfernte Zeitung kommt – bis dahin hat man am Ort längst vergessen, was geschehen ist: ‚Wann war das doch bloß – wer denkt noch daran!‘“ (Ebenda.) Eben – wer denkt noch daran! Die im Verlaufe von 2½ Jahren erschienenen 30 Nummern verteilen sich, wie wir aus derselben Quelle erfahren, auf 6 Städte. Dann kommt also durchschnittlich auf eine Stadt eine Nummer der Zeitung in einem halben Jahre! Und selbst wenn unser leichtfertiger Publizist in seinen Annahmen die Produktivität der örtlichen Arbeit verdreifacht (was zweifellos, im Durchschnitt auf eine Stadt genommen, falsch wäre, denn im Rahmen der Handwerklerei ist eine bedeutende Steigerung der Produktivität unmöglich), so erhalten wir trotzdem nur eine Nummer in zwei Monaten, d.h. etwas, was einem „Aufgreifen an Ort und Stelle“ absolut nicht ähnlich sieht. Dabei würde es genügen, daß sich zehn lokale Organisationen zusammentun und ihre Delegierten mit aktiven Funktionen für die Herausgabe einer allgemeinen Zeitung betrauen – und es wäre möglich, in ganz Rußland nicht Kleinigkeiten „aufzugreifen“, sondern einmal in vierzehn Tagen tatsächlich hervorstechende und typische Mißstände zu enthüllen. Daran wird niemand zweifeln, der die Lage in unseren Organisationen kennt. Den Feind auf frischer Tat erwischen – wenn man das ernst meint und es nicht nur eine schöne Redensart ist –, daran kann eine illegale Zeitung überhaupt nicht denken: dazu taugt nur ein heimlich zugestecktes Flugblatt, denn die äußerste Frist für ein solches Erwischen beläuft sich meist auf höchstens ein oder zwei Tage (man denke zum Beispiel an einen gewöhnlichen kurzfristigen Streik oder an einen Zusammenstoß in einer Fabrik oder an eine Demonstration usw.).

„Der Arbeiter lebt nicht nur in der Fabrik, sondern auch in der Stadt“, fährt unser Verfasser fort, der mit strenger Konsequenz, die selbst einem Boris Kritschewski Ehre machen würde, vom Besonderen zum Allgemeinen emporsteigt. Er weist auf Fragen der Stadtdumas, der städtischen Krankenhäuser und Schulen hin und verlangt, daß die Arbeiterzeitung die städtischen Angelegenheiten nicht mit Schweigen übergehe. – Die Forderung ist an und für sich sehr schön, aber sie illustriert besonders anschaulich die inhaltslose Abstraktheit, auf die man sich zu oft bei Erörterungen über lokale Zeitungen beschränkt. Erstens, wenn tatsächlich in „jedem Ort mit halbwegs bedeutender Konzentration von Arbeitern“ Zeitungen mit einer so ausführlichen Stadtchronik, wie die Swoboda es wünscht, erschienen, so würde das unter unseren russischen Verhältnissen unvermeidlich in eine wahre Kleinkrämerei ausarten, es würde das Bewußtsein von der Wichtigkeit eines gesamtrussischen revolutionären Ansturms gegen die zaristische Selbstherrschaft schwächen und die lebenszähen, eher verborgenen oder unterdrückten als mit der Wurzel entfernten Keime derjenigen Richtung stärken, die schon bekannt geworden ist durch den denkwürdigen Ausspruch über die Revolutionäre, die zuviel von dem nicht vorhandenen Parlament und zuwenig von den vorhandenen Stadtdumas reden. Wir sagen: unvermeidlich, und betonen damit, daß die Swoboda zweifellos nicht das will, sondern das Gegenteil. Aber gute Vorsätze allein genügen nicht. – Um die städtischen Angelegenheiten in der richtigen Perspektive zu unserer Gesamtarbeit zu erläutern, ist zuerst notwendig, daß diese Perspektive völlig klar sei, daß sie nicht allein durch Behauptungen, sondern an Hand von zahlreichen Beispielen genau festgelegt sei, daß sie bereits die Festigkeit einer Tradition gewonnen habe. So weit sind wir noch lange nicht, dies ist aber gerade zuerst notwendig, bevor man sich erlauben kann, an eine umfassende lokale Presse zu denken und von einer solchen Presse zu reden.

Zweitens ist es notwendig, um wirklich gut und interessant über die städtischen Angelegenheiten zu berichten, sie genau und nicht nur aus Büchern zu kennen. Aber Sozialdemokraten, die ein solches Wissen haben, gibt es in ganz Rußland fast gar nicht. Um in der Zeitung (und nicht in einer populären Broschüre) über städtische und staatliche Angelegenheiten zu schreiben, muß man frisches, vielseitiges, von einem tüchtigen Menschen gesammeltes und bearbeitetes Material haben. Um aber solches Material zu sammeln und zu bearbeiten, genügt die „primitive Demokratie“ eines primitiven Zirkels nicht, in dem alle alles tun und sich mit Referendumspielen die Zeit vertreiben. Hierzu ist ein Stab von Schriftstellern mit Fachwissen, von speziellen Korrespondenten, eine Armee von sozialdemokratischen Reportern notwendig, die überall Verbindungen anknüpfen, die es versteifen, in alle „Staatsgeheimnisse“ (mit denen der russische Beamte so wichtig tut und die er so leicht ausplaudert) einzudringen, hinter alle „Kulissen“ zu schauen, eine Armee von Menschen, die „von Amts wegen“ verpflichtet sind, allgegenwärtig und allwissend zu sein. Und wir, die Partei des Kampfes gegen jede wirtschaftliche, politische, soziale, nationale Unterdrückung, können und müssen eine solche Armee allwissender Menschen sammeln, ausbilden, mobilisieren und in den Kampf schicken – aber das muß erst noch getan werden! Bei uns jedoch ist nicht nur in den meisten Gegenden noch kein Schritt in dieser Richtung getan worden, sondern es fehlt sogar oft die Erkenntnis, daß das getan werden muß. Man suche in unserer sozialdemokratischen Presse lebendige und interessante Artikel, Zuschriften und Enthüllungen über unsere großen und kleinen diplomatischen, militärischen, kirchlichen, städtischen, finanziellen usw. usw. Angelegenheiten, und man wird fast nichts oder sehr wenig finden. [O] Darum „ärgert es mich immer fürchterlich, wenn einer daherkommt und eine Menge sehr schöne und großartige Dinge sagt“ von der Notwendigkeit, „in jedem Ort mit halbwegs bedeutender Konzentration von Arbeitern“ Zeitungen herauszugeben, in denen die Mißstände in der Fabrik, in der Stadtverwaltung, im Staatsapparat enthüllt werden!

Das Überwiegen der lokalen Presse über die zentrale ist ein Anzeichen entweder von Mangel oder von Überfluß. Von Mangel, wenn die Bewegung noch nicht die Kräfte für einen Großbetrieb hervorgebracht hat, wenn sie noch in der Handwerklerei steckt und in den „Kleinigkeiten des Fabriklebens“ fast untergeht; von Überfluß, wenn die Bewegung die Aufgabe der allseitigen Enthüllungen und der allseitigen Agitation bereits vollkommen bewältigt hat, so daß neben dem Zentralorgan zahlreiche lokale Zeitungen notwendig werden. Mag jeder für sich entscheiden, wovon das Überwiegen der lokalen Zeitungen bei uns in der Gegenwart zeugt. Ich aber will mich auf eine genaue Formulierung meiner Schlußfolgerung beschränken, um keinen Anlaß zu Mißverständnissen zu geben. Bis jetzt denkt die Mehrheit unserer lokalen Organisationen fast ausschließlich an lokale Zeitungen und arbeitet aktiv fast nur für sie. Das ist nicht normal. Es müßte umgekehrt sein: Die Mehrheit der lokalen Organisationen müßte hauptsächlich an ein gesamtrussisches Organ denken und vorwiegend für dieses arbeiten. Solange das nicht geschieht, werden wir nicht eine einzige Zeitung herausbringen, die halbwegs imstande wäre, der Bewegung wirklich mit einer allseitigen Presseagitation zu dienen. Geschieht das aber, dann wird sich ein normales Verhältnis zwischen dem notwendigen Zentralorgan und den notwendigen lokalen Organen von selbst herausbilden.

*

Es mag auf den ersten Blick scheinen, daß die Schlußfolgerung, es sei notwendig, den Schwerpunkt von der lokalen auf die gesamtrussische Arbeit zu verlegen, auf den speziell wirtschaftlichen Kampf nicht anwendbar sei: die unmittelbaren Feinde der Arbeiter sind hier einzelne Unternehmer oder Gruppen von Unternehmern, und diese sind in keiner Organisation zusammengefaßt, die auch nur annähernd an die rein militärische, streng zentralistische, bis in die kleinsten Dinge von einem einheitlichen Willen geleitete Organisation. der russischen Regierung, unseres unmittelbaren Feindes im politischen Kampf, erinnert.

Aber dem ist nicht so. Der ökonomische Kampf ist – wir haben schon oft darauf hingewiesen – ein gewerkschaftlicher Kampf, und darum erfordert er den Zusammenschluß der Arbeiter nach Berufen, und nicht nur nach dem Betrieb. Und diese gewerkschaftliche Vereinigung wird um so dringender notwendig, je rapider der Zusammenschluß unserer Unternehmer zu Gesellschaften und Syndikaten aller Art vorwärtsschreitet. Unsere Zersplitterung und unsere Handwerklerei hemmen direkt diese Vereinigung, für die eine einheitliche gesamtrussische Organisation der Revolutionäre notwendig ist, die fähig wäre, die Leitung der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter ganz Rußlands zu übernehmen. Wir haben schon weiter oben von dem Organisationstypus gesprochen, der für diesen Zweck wünschenswert ist, und wollen jetzt im Zusammenhang mit der Frage unserer Presse nur noch einige Worte hinzufügen.

Daß jede sozialdemokratische Zeitung eine Rubrik für den gewerkschaftlichen (wirtschaftlichen) Kampf enthalten muß, das wird kaum jemand bezweifeln. Aber die Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung veranlaßt uns, auch an eine Gewerkschaftspresse zu denken. Wir glauben jedoch, daß von Gewerkschaftszeitungen in Rußland, mit wenigen Ausnahmen, vorläufig noch keine Rede sein kann: das wäre ein Luxus, und uns fehlt nur allzuoft selbst das tägliche Brot. Die den Bedingungen der illegalen Arbeit entsprechende und schon jetzt notwendig gewordene Form der Gewerkschaftspresse müßten bei uns Gewerkschaftsbroschüren sein. In ihnen müßte das legale [P] und das illegale Material gesammelt und systematisch gruppiert werden: über die Arbeitsbedingungen in dem betreffenden Gewerbe, über die in dieser Hinsicht bestehenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Gegenden Rußlands, über die Hauptforderungen der Arbeiter des betreffenden Berufs, über die Mängel der Gesetzgebung für diesen Beruf, über die besonders bemerkenswerten Fälle des wirtschaftlichen Kampfes der Arbeiter dieses Berufszweiges, über die Anfänge, den gegenwärtigen Stand und die Erfordernisse ihrer gewerkschaftlichen Organisation usw. Solche Broschüren würden erstens unsere sozialdemokratische Presse von einer Unmenge Berufsdetails befreien, die speziell nur die Arbeiter einer bestimmten Branche interessieren; zweitens würden sie die Resultate unserer Erfahrungen im Gewerkschaftskampf festhalten, sie würden das gesammelte Material, das jetzt in der Menge von Flugblättern und fragmentarischen Korrespondenzen buchstäblich untergeht, sammeln und verallgemeinern; drittens könnten sie als eine Art Anleitung für Agitatoren dienen, denn die Arbeitsbedingungen ändern sieh verhältnismäßig langsam, die grundlegenden Forderungen der Arbeiter eines bestimmten Berufes sind außerordentlich beständig (man vergleiche die Forderungen der Weber des Moskauer Bezirks im Jahre 1885 und die des Petersburger Bezirks im Jahre 1896), und eine Zusammenstellung dieser Forderungen und Nöte könnte Jahre hindurch als ausgezeichneter Leitfaden für die wirtschaftliche Agitation in den rückständigen Gebieten oder unter den rückständigen Arbeiterschichten dienen; Beispiele erfolgreicher Streiks in dem einen Bezirk, Angaben über höhere Lebenshaltung, über bessere Arbeitsbedingungen an dem einen Ort würden die Arbeiter an anderen Orten zu neuem und immer neuem Kampf anfeuern; viertens würde die Sozialdemokratie dadurch, daß sie die Initiative zur Verallgemeinerung des Gewerkschaftskampf es auf sich nimmt und auf diese Weise die Verbindung zwischen der russischen Gewerkschaftsbewegung und dem Sozialismus festigt, gleichzeitig dafür sorgen, daß unsere Gewerkschaftsarbeit weder einen zu kleinen noch einen zu großen Teil der Gesamtheit unserer sozialdemokratischen Arbeit ausmacht. Ist eine lokale Organisation von den Organisationen anderer Städte losgelöst, so ist es für sie sehr schwer, oft sogar fast unmöglich, dabei die richtige Proportion einzuhalten (und das Beispiel der Rabotschaja Mysl zeigt, zu welch ungeheuerlicher Übertreibung in der Richtung zum Trade-Unionismus man dabei kommen kann). Eine gesamtrussische Organisation der Revolutionäre aber, die streng auf dem Standpunkt des Marxismus stünde, die den ganzen politischen Kampf leitete und über einen Stab von Berufsagitatoren verfügte, würde bei der Bestimmung dieser richtigen Proportion niemals Schwierigkeiten haben.

 

 

Fußnoten von Lenin

M. Siehe den Bericht an den Pariser Internationalen Sozialistenkongreß [62], S.14: „Seit jener Zeit (1897) bis zum Frühjahr 1900 sind an verschiedenen Orten 30 Nummern verschiedener Zeitungen erschienen ... Im Durchschnitt erschien mehr als eine Nummer monatlich.“

N. Diese Schwierigkeit ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit gibt es keinen örtlichen Zirkel, der nicht die Möglichkeit hätte, die eine oder die andere Funktion der gesamtrussischen Arbeit aktiv in Angriff zu nehmen. „Sage nicht: Ich kann nicht, sondern sage: Ich will nicht.“

O. Aus diesem Grunde wird unser Standpunkt sogar durch das Beispiel außerordentlich guter Lokalorgane nur bestätigt. Der Jushny Rabotschi ist zum Beispiel eine ausgezeichnete Zeitung, der man keineswegs Mangel an Prinzipienfestigkeit vorwerfen kann. Aber das, was sie für die örtliche Bewegung leisten wollte, ist infolge des seltenen Erscheinens der Zeitung und der zahlreichen Verhaftungen nicht erreicht worden. Das, was für die Partei heute am dringendsten ist, die prinzipielle Erörterung der Grundfragen der Bewegung und die allseitige politische Agitation, überstieg die Kraft einer lokalen Zeitung. Was aber besonders gut an ihr war, z.B. die Artikel über die Konferenz der Bergwerksbesitzer, über die Arbeitslosigkeit usw., stellte kein streng lokales Material dar und wurde für ganz Rußland gebraucht, und nicht nur für den Süden. Solche Artikel hat es in unserer ganzen sozialdemokratischen Presse nicht gegeben.

P. Das legale Material ist in dieser Beziehung besonders wichtig, und wir sind besonders zurückgeblieben in der Kunst, es systematisch zu sammeln und auszunutzen. Es wird keine Übertreibung sein, wenn man sagt, daß legales Material allein genügt, um eine noch einigermaßen annehmbare Gewerkschaftsbroschüre zu schreiben, daß aber illegales Material allein nicht genügt. Wenn wir von Arbeitern illegales Material über Fragen, wie sie zum Beispiel die Rabotschaja Mysl behandelt hat, sammeln, so vergeuden wir viel Kraft eines Revolutionärs (der in diesem Falle leicht durch eine legal tätige Person ersetzt werden könnte), und trotzdem bekommen wir nie ein brauchbares Material, denn den Arbeitern, die meist nur eine Abteilung der großen Fabrik und fast immer die wirtschaftlichen Resultate, nicht aber die allgemeinen Bedingungen und Normen ihrer eigenen Arbeit kennen, fehlt die Möglichkeit, die Informationen zu erhalten, die die Fabrikangestellten, Inspektoren, Ärzte usw. besitzen und die zum größten Teil in kleinen Zeitungskorrespondenzen sowie in speziellen Industrie-, Sanitäts-, Semstwo- und anderen Publikationen verstreut sind.

Ich erinnere mich lebhaft meines „ersten Versuchs“, den ich nie wiederholen würde. Viele Wochen hindurch befaßte ich mich damit, einen Arbeiter, der mich öfters besuchte, einem „peinlichen Verhör“ über alle möglichen Zustände in der großen Fabrik, in der er arbeitete, zu unterziehen. Es gelang mir zwar, wenn auch mit ungeheurer Mühe, irgendwie eine Beschreibung (nur der einen Fabrik!) zustande zu bringen, aber der Arbeiter sagte mir manches Mal am Schluß der Unterredung lächelnd und sich den Schweiß von der Stirn wischend: „Es fällt mir leichter, eine Extraschicht zu machen, als Ihre Fragen zu beantworten

Je energischer. wir den revolutionären Kampf führen werden, um so mehr wird die Regierung gezwungen sein, einen Teil der „gewerkschaftlichen“ Arbeit zu legalisieren, wodurch sie uns unsere Last zum Teil abnehmen wird.

 


Zuletzt aktualisiert am 23.1.2004