W.I. Lenin

 

Was tun?

 

V
„Plan“ einer gesamtrussischen politischen Zeitung

 

b) Kann eine Zeitung ein kollektiver Organisator sein?

Die Quintessenz des Artikels Womit beginnen? besteht darin, daß er eben diese Frage aufgeworfen und sie im positiven Sinne entschieden hat. Den einzigen uns bekannten Versuch, diese Frage sachlich zu analysieren und zu beweisen, daß sie im negativen Sinne entschieden werden müsse, macht L. Nadeshdin, dessen Argumente wir hier ungekürzt anführen:

... Es gefällt uns sehr, daß die Iskra (Nr.4) die Frage aufwirft, daß eine gesamtrussische Zeitung notwendig sei, aber wir können uns durchaus nicht damit einverstanden erklären, daß diese Frage in einen Artikel mit dem Titel Womit beginnen? gehört. Das ist zweifellos eine der Angelegenheiten, die äußerst wichtig sind, aber nicht durch sie, nicht durch eine ganze Serie populärer Flugschriften, nicht durch einen Berg von Proklamationen kann der Grundstein zu einer Kampforganisation für den revolutionären Zeitpunkt gelegt werden. Es ist notwendig, zur Bildung starker politischer Organisationen an den einzelnen Orten zu schreiten. Wir haben sie nicht, wir haben hauptsächlich unter den gebildeten Arbeitern gearbeitet, während die Massen fast ausschließlich den wirtschaftlichen Kampf führten. Wenn nicht starke politische Organisationen an den einzelnen Orten herangebildet werden, welche Bedeutung hat dann eine sei es auch vorzüglich geleitete gesamtrussische Zeitung? Ein brennender Busch, der selbst brennt, nie verbrennt, aber auch niemand entflammt! Die Iskra glaubt, daß sich die Leute um die Zeitung und bei der Arbeit für sie sammeln und organisieren. Es liegt ihnen aber viel näher, sich um eine konkretere Sache zu sammeln und zu organisieren! Eine solche konkretere Sache kann und muß sein: großzügige Herausgabe lokaler Zeitungen, die sofortige Vorbereitung der Arbeiter zu Demonstrationen, die ständige Arbeit der örtlichen Organisationen unter den Arbeitslosen (unter denen unermüdlich Flugblätter und Schriften zu verbreiten sind, die zu Versammlungen und Protestaktionen gegen die Regierung aufzurufen sind usw.). Es ist notwendig, an den einzelnen Orten eine lebendige politische Arbeit in Angriff zu nehmen, und wenn auf diesem realen Boden die Vereinigung zur Notwendigkeit wird, dann wird sie nicht künstlich, nicht nur auf dem Papier sein; – nicht durch Zeitungen kann eine solche Vereinigung der lokalen Arbeit zu einer gesamtrussischen Sache bewerkstelligt werden! (Der Vorabend der Revolution, S.54.)

Wir haben jene Stellen der wortreichen Tirade unterstrichen, die besonders deutlich zeigen, daß sowohl die Beurteilung unseres Planes durch den Verfasser falsch ist als auch der hier der Iskra entgegengestellte Standpunkt überhaupt. Wenn nicht starke politische Organisationen an den einzelnen Orten herangebildet werden, dann wird auch die beste gesamtrussische Zeitung ohne Belang sein. – Vollkommen richtig. Aber das ist es ja gerade, daß es kein anderes Mittel gibt, starke politische Organisationen heranzubilden, als eine gesamtrussische Zeitung. Der Verfasser hat die wichtigste Erklärung der Iskra übersehen, die sie gemacht hat, bevor sie zur Darlegung ihres „Planes“ überging: Notwendig ist die „Aufforderung, eine revolutionäre Organisation zu schaffen, die fähig ist, alle Kräfte zu vereinigen, die sich nicht nur Leitung nennt, sondern die Bewegung tatsächlich leitet, d.h. stets bereit ist, jeden Protest und jeden Ausbruch zu unterstützen und zur Vermehrung und Festigung der für den entscheidenden Kampf tauglichen Streitkräfte auszunutzen“. Prinzipiell werden jetzt, nach dem Februar und März, alle damit einverstanden sein, fährt die Iskra fort, wir brauchen aber keine prinzipielle, sondern eine praktische Entscheidung der Frage; es ist notwendig, sofort einen bestimmten Plan der Organisation auszuarbeiten, damit alle sofort von verschiedenen Seiten her an ihren Aufbau schreiten können. Und nun will man uns von der praktischen Entscheidung wieder zurückzerren zu einer zwar prinzipiell richtigen, unbestreitbaren, großen, aber für die breiten Massen der Arbeitenden völlig ungenügenden und völlig unverständlichen These: „starke politische Organisationen heranbilden“! Nicht mehr darum handelt es sich, verehrter Herr Verfasser, sondern darum, wie sie eben zu bilden und heranzubilden sind!

Es ist nicht wahr, daß „wir hauptsächlich unter den gebildeten Arbeitern gearbeitet haben, während die Massen fast ausschließlich den wirtschaftlichen Kampf führten“. In dieser Form verwandelt sich dieser Satz in die für die Swoboda charakteristische und grundfalsche Gegenüberstellung der gebildeten Arbeiter und der „Masse“. Auch die gebildeten Arbeiter haben bei uns in den letzten Jahren „fast ausschließlich den wirtschaftlichen Kampf geführt“. Das einerseits. Und anderseits werden es auch die Massen nie lernen, den politischen Kampf zu führen, solange wir nicht dazu beitragen, daß sowohl aus den Kreisen der gebildeten Arbeiter als auch aus den Kreisen der Intellektuellen für diesen Kampf Führer herangebildet werden; solche Führer können aber herangebildet werden ausschließlich durch eine systematische, ständige Bewertung aller Seiten unseres politischen Lebens, aller Versuche zum Protest und Kampf, die von den verschiedenen Klassen und aus verschiedenen Anlässen unternommen werden. Darum ist es einfach lächerlich, wenn man von der „Heranbildung politischer Organisationen“ spricht und, gleichzeitig die „papierne Arbeit“ einer politischen Zeitung der „lebendigen politischen Arbeit an den einzelnen Orten“ entgegenstellt! Die Iskra hat ja ihren „Plan“ einer Zeitung eben auf den „Plan“ eingestellt, eine solche „Kampfbereitschaft“ zu schaffen, damit sowohl die Arbeitslosenbewegung als auch die Bauernrebellionen, die Unzufriedenheit der Semstwoleute, die „Empörung der Bevölkerung über die Schandtaten der zaristischen Schergen“ usw. unterstützt werden. Jeder, der die Bewegung kennt, weiß ja sehr gut, daß die übergroße Mehrheit der lokalen Organisationen hieran nicht einmal denkt; daß ferner viele der hier angedeuteten Perspektiven einer „lebendigen politischen Arbeit“ noch niemals von irgendeiner Organisation verwirklicht worden sind, daß z.B. der Versuch, die Aufmerksamkeit auf das Anwachsen der Unzufriedenheit und des Protestes unter den Semstwointellektuellen zu lenken, sowohl bei Nadeshdin („Herrgott, ist dieses Organ vielleicht für die Semstwoleute da?“, Der Vorabend der Revolution, S.129) als auch bei den „Ökonomisten“ (Brief in Nr.12 der Iskra) und bei vielen Praktikern ein Gefühl ratloser Verwunderung hervorgerufen hat. Unter diesen Bedingungen kann man nur damit „beginnen“, daß man die Leute veranlaßt, über all das nachzudenken, daß man sie veranlaßt, die kleinsten Äußerungen der Gärung und des aktiven Kampfes zusammenzufassen und zu verallgemeinern. Die „lebendige politische Arbeit“ kann man in unserer Zeit der Degradierung der sozialdemokratischen Aufgaben ausschließlich mit der lebendigen politischen Agitation beginnen, die ohne eine gesamtrussische, oft erscheinende und regelmäßig verbreitete Zeitung unmöglich ist.

Leute, die im „Plan“ der Iskra einen Ausfluß des „Literatentums“ erblicken, haben das eigentliche Wesen des Plans absolut nicht begriffen, weil sie das als Ziel ansahen, was für die Gegenwart als das passendste Mittel empfohlen wird. Diese Leute haben sich nicht die Mühe gegeben, über die beiden Vergleiche nachzudenken, durch die der vorgeschlagene Plan anschaulich illustriert wurde. Die Gründung einer gesamtrussischen politischen Zeitung, hieß es in der Iskra, muß die wichtigste Richtschnur sein, an Hand deren wir die Organisation (d.h. die revolutionäre Organisation, die stets bereit ist, jeden Protest und jedes Aufflackern der Empörung zu unterstützen) unbeirrt entwickeln, vertiefen und erweitern könnten. Sagt doch bitte: Wenn Maurer an verschiedenen Stellen die Steine für einen ungeheuer großen, noch nie dagewesenen Bau legen – ist es dann eine „papierne“ Arbeit, wenn sie eine Schnur ziehen, die die richtige Stelle für das Legen der Steine anzeigt, die auf das Endziel der gemeinsamen Arbeit hinweist, die die Möglichkeit gibt, nicht nur jeden Stein, sondern auch jedes Stück Stein zu verwerten, das, sich dem vorhergehenden und dem folgenden. einfügend, die letzte Lücke in der vollendeten und allumfassenden Linie schließt? Und erleben wir denn nicht in unserem Parteileben gerade einen Augenblick, wo wir sowohl über Steine als auch Maurer verfügen, aber nur die allen sichtbare Schnur fehlt, an die sich alle halten könnten? Mag man schreien, daß wir durch das Ziehen der Schnur kommandieren wollen: Wollten wir kommandieren, meine Herren, so würden wir anstatt Iskra Nr.1 – Rabotschaja Gaseta Nr.3 geschrieben haben, wie es einige Genossen vorgeschlagen hatten und wozu wir nach den oben geschilderten Ereignissen das volle Recht gehabt hätten. Aber wir haben das nicht getan: wir wollten uns die Hände frei halten zum unversöhnlichen Kampf gegen alle Pseudosozialdemokraten; wir wollten, daß unsere Schnur, richtig gezogen, geachtet werde, weil sie richtig ist und nicht weil sie von einem offiziellen Organ gezogen worden ist.

„Die Frage der Vereinigung der lokalen Tätigkeit in zentralen Organen bewegt sich in einem fehlerhaften Kreis“, belehrt uns L. Nadeshdin, „die Vereinigung erfordert eine Gleichartigkeit der Elemente, diese Gleichartigkeit aber kann nur durch etwas Vereinigendes geschaffen werden, dieses Vereinigende wiederum kann nur das Produkt starker lokaler Organisationen sein, die sich jetzt keineswegs durch einen gleichartigen Charakter auszeichnen.“ Eine ebenso achtbare und ebenso unwiderlegbare Wahrheit wie die, daß man starke politische Organisationen heranbilden muß. Eine Wahrheit, die ebenso fruchtlos ist wie jene. Jede Frage „bewegt sich in einem fehlerhaften Kreis“, denn das ganze politische Leben ist eine endlose Kette aus einer endlosen Reihe von Gliedern. Die ganze Kunst des Politikers besteht eben darin, gerade jenes kleine Kettenglied herauszufinden und ganz fest zu packen, das ihm am wenigsten aus der Hand geschlagen werden kann, das im gegebenen Augenblick am wichtigsten ist, das dem Besitzer dieses Kettengliedes den Besitz der ganzen Kette am besten garantiert. [D] Hätten wir einen Trupp erfahrener Maurer, die so gut aufeinander eingearbeitet sind, daß sie auch ohne Schnur die Steine gerade dort hinlegen könnten, wo es notwendig ist (das ist, abstrakt gesprochen, durchaus nicht unmöglich), dann könnten wir vielleicht auch nach einem anderen Kettenglied greifen. Aber das ist ja eben das Malheur, daß wir noch keine erfahrenen und gut aufeinander eingearbeiteten Maurer haben, daß die Steine oft ganz nutzlos gelegt werden, daß sie nicht nach einer gemeinsamen Schnur gelegt werden, sondern so verstreut, daß der Feind sie einfach fortbläst, als wären es nicht Steine, sondern Sandkörner.

Ein anderer Vergleich: „Die Zeitung ist nicht nur ein kollektiver Propagandist und kollektiver Agitator, sondern auch ein kollektiver Organisator. Was das letztere betrifft, kann sie mit einem Gerüst verglichen werden, das um ein im Bau befindliches Gebäude errichtet wird; es zeigt die Umrisse des Gebäudes an, erleichtert den Verkehr zwischen den einzelnen Bauarbeitern, hilft ihnen, die Arbeit zu verteilen und die durch die organisierte Arbeit erzielten gemeinsamen Resultate zu überblicken.“ [E] Nicht wahr, wie ähnlich sieht das der Übertreibung der eigenen Rolle seitens eines Literaten, eines Mannes der Studierstube? Für die Wohnung selbst ist doch kein Baugerüst erforderlich, das Baugerüst wird aus minderwertigerem Material gemacht, es wird nur für kurze Zeit errichtet und verheizt, sobald wenigstens der Rohbau fertig ist. Was den Aufbau von revolutionären Organisationen betrifft, so zeigt die Erfahrung, daß sie manchmal auch ohne Baugerüst aufgebaut werden können – man denke an die siebziger Jahre. Aber jetzt kann man sich bei uns gar nicht vorstellen, daß es möglich sein soll, den für uns notwendigen Bau ohne Baugerüst zu errichten.

Nadeshdin ist damit nicht einverstanden und sagt: „Die Iskra glaubt, daß sich die Leute um die Zeitung und bei der Arbeit für sie sammeln und organisieren. Es liegt ihnen aber viel näher, sich um eine konkretere Sache zu sammeln und zu organisieren!“ So, so: „... viel näher um eine konkretere Sache ...“ Ein russisches Sprichwort sagt: Spuck nicht in den Brunnen – vielleicht wirst du selbst aus ihm trinken müssen. Aber es gibt Leute, denen es nichts ausmacht, aus einem Brunnen zu trinken, in den schon hineingespuckt worden ist. Zu welchen Abscheulichkeiten haben sich unsere herrlichen legalen „Kritiker des Marxismus“ und die illegalen Verehrer der Rabotschaja Mysl im Namen dieser größeren Konkretheit nicht schon verstiegen! Wie ist doch unsere gesamte Bewegung behindert durch unsere Enge, unseren Mangel an Initiative und unsere Schüchternheit, die mit den traditionellen Argumenten gerechtfertigt werden: „Viel näher um eine konkretere Sache!“ Und Nadeshdin, der ein besonders feines Ohr fürs „Leben“ zu haben glaubt, der die Männer der „Studierstube“ besonders streng verurteilt, der (mit dem Anspruch, geistreich zu sein) der Iskra die Schwäche vorwirft, überall „Ökonomismus“ zu sehen, der sich einbildet, turmhoch über dieser Teilung in Orthodoxe und Kritiker zu stehen, merkt nicht, daß er mit seinen Argumenten gerade die Enge, die ihn empört, fördert, daß er aus dem Brunnen trinkt, in den am meisten hineingespuckt worden ist! Ja, die aufrichtigste Empörung über Enge, der glühendste Wunsch, die Leute, die ihr huldigen, eines Besseren zu belehren, genügt noch nicht, wenn der Empörte sich ohne Steuer und ohne Segel treiben läßt und ebenso „spontan“ zum „exzitierenden Terror“, zum „Agrarterror“, zum „Sturmläuten“ usw. Zuflucht nimmt, wie es die Revolutionäre der siebziger Jahre taten. Man betrachte diese „konkretere Sache“, um die sich zu sammeln und zu organisieren – wie er glaubt – „viel näher“ liege; das sind: 1. die lokalen Zeitungen; 2. die Vorbereitungen zu Demonstrationen; 3. die Arbeit unter den Arbeitslosen. Auf den ersten Blick erkennt man, daß alle diese Dinge ganz zufällig, aufs Geratewohl herausgegriffen sind, nur um irgend etwas zu sagen, denn, wie wir sie auch betrachten mögen, es wäre absolut unsinnig, in ihnen irgend etwas besonders Geeignetes zu finden, um das man sich „sammeln und organisieren“ könnte. Sagt doch derselbe Nadeshdin ein paar Seiten weiter: „Es wäre an der Zeit, einfach die Tatsache zu konstatieren: In den lokalen Organisationen wird eine ganz erbärmliche Arbeit geleistet, die Komitees tun auch nicht den zehnten Teil von dein, was sie tun könnten..., die vereinigenden Zentren, die wir jetzt haben, sind eine Fiktion, sind revolutionärer Kanzleibürokratismus, gegenseitige Ernennung zu Generalen, und so wird es sein, bis starke lokale Organisationen herangewachsen sind.“ Diese Worte enthalten zweifellos neben Übertreibungen auch viel bittere Wahrheit, und sieht denn Nadeshdin wirklich nicht den Zusammenhang zwischen der erbärmlichen Arbeit in den lokalen Organisationen und dem engen Gesichtskreis der Funktionäre, dem beschränkten Umfang ihrer Tätigkeit, die bei der mangelnden Schulung der sich in den lokalen Organisationen abkapselnden Funktionäre nicht zu vermeiden sind? Hat er ebenso wie der Verfasser des in der Swoboda erschienenen Artikels über die Organisation vergessen, wie der Übergang zu einer breiten lokalen Presse (seit 1898) von einem besonderen Erstarken des „Ökonomismus“ und der „Handwerklerei“ begleitet war? Ja selbst wenn eine halbwegs befriedigende Organisation einer „breiten lokalen Presse“ möglich wäre (wir haben aber oben gezeigt, daß sie, mit Ausnahme ganz besonderer Fälle, unmöglich ist), so könnten auch dann die lokalen Organe nicht alle Kräfte der Revolutionäre zum gemeinsamen Ansturm gegen die Selbstherrschaft, zur Leitung des einheitlichen Kampfes „sammeln und organisieren“. Man vergesse nicht, daß es sich hier nur um die „sammelnde“, um die organisierende Bedeutung der Zeitung handelt, und da könnten wir Nadeshdin, der die Zersplitterung verteidigt, die von ihm selbst gestellte ironische Frage vorlegen: „Haben wir gar von irgendwoher 200 000 revolutionäre organisatorische Kräfte geerbt?“ Weiter. Die „Vorbereitungen zu Demonstrationen“ können dem Plan der Iskra schon deshalb nicht entgegengestellt werden, weil dieser Plan gerade die größten Demonstrationen als eines seiner Ziele vorsieht; es handelt sich aber um die Wahl des praktischen Mittels. Nadeshdin hat sich hier wieder verheddert und außer acht gelassen, daß Demonstrationen (die bisher in den meisten Fällen ganz spontan vor sich gingen) nur von einer bereits „gesammelten und organisierten“ Armee „vorbereitet“ werden können, daß wir es aber gerade nicht verstehen, zu sammeln und zu organisieren. Die „Arbeit unter den Arbeitslosen“. Wieder die gleiche Konfusion, denn auch das ist eine der Kampfhandlungen der mobilisierten Truppen und nicht ein Plan zur Mobilisierung von Truppen. In welchem Maße Nadeshdin auch hier das Verderbliche unserer Zersplitterung. und den Umstand unterschätzt, daß wir die „200 000 Kräfte“ nicht haben, geht aus folgendem hervor. Der Iskra ist von vielen (darunter auch von Nadeshdin) der Vorwurf gemacht worden, sie bringe zuwenig Meldungen über die Arbeitslosigkeit und nur zufällige Zuschriften über die alltäglichen Vorkommnisse im Leben des Dorfes. Der Vorwurf ist berechtigt, aber die Iskra ist hier „ohne Schuld schuldig“. Wir sind bemüht, auch durch das Dorf unsere „Schnur zu ziehen“, aber wir haben dort fast gar keine Maurer, und wir müssen jeden ermuntern, der auch nur eine alltägliche Tatsache mitteilt, in der Hoffnung, daß dies die Zahl der Mitarbeiter auf diesem Gebiet vermehren und uns alle lehren wird, schließlich die wirklich hervorstechenden Tatsachen herauszufinden. Doch es gibt so wenig Material, an dem man lernen könnte, daß ohne seine Verallgemeinerung für ganz Rußland überhaupt nichts zum Lernen da wäre. Zweifellos könnte ein Mensch, der auch nur annähernd so viel agitatorische Fähigkeit besitzt und das Leben des Paukers auch nur annähernd so gut kennt, wie es bei Nadeshdin der Fall ist, durch Agitation unter den Arbeitslosen der Bewegung unschätzbare Dienste leisten – aber ein solcher Mensch würde sein Licht unter den Scheffel stellen, wenn er nicht dafür Sorge tragen wollte, daß alle russischen Genossen von jedem Schritt seiner Arbeit in Kenntnis gesetzt werden, um eine Lehre und ein Beispiel für solche Leute zu geben, die zum größten Teil diese neue Arbeit noch nicht anzupacken verstehen.

Von der Wichtigkeit der Vereinigung, von der Notwendigkeit, „zu sammeln und zu organisieren“, sprechen jetzt ausnahmslos alle, aber in den meisten Fällen fehlt eine bestimmte Vorstellung davon, womit man beginnen und wie diese Vereinigung durchgeführt werden soll. Alle werden sicherlich damit einverstanden sein, daß für die „Vereinigung“ der einzelnen Zirkel, sagen wir der Bezirke einer Stadt, gemeinsame Einrichtungen notwendig sind, d.h. nicht nur die einheitliche Bezeichnung „Verband“, sondern tatsächlich eine gemeinsame Arbeit, ein Austausch von Material, Erfahrungen und Kräften, eine Verteilung der Funktionen schon nicht nur nach Bezirken, sondern auch nach den Spezialgebieten der Arbeit in der ganzen Stadt. Jeder wird zugeben, daß ein solider konspirativer Apparat sich bei den „Mitteln“ (sowohl materiellen wie personellen natürlich) eines Bezirks nicht rentiert (wenn man den kommerziellen Ausdruck gebrauchen darf), daß in einem so engen Arbeitsbereich das Talent eines Fachmanns nicht zur Entfaltung kommen kann. Dasselbe trifft aber auch für die Vereinigung verschiedener Städte zu, denn auch ein solcher Arbeitsbereich wie ein einzelnes Gebiet erweist sich und erwies sich schon in der Geschichte unserer sozialdemokratischen Bewegung als viel zu eng; wir haben das oben an einem Beispiel sowohl der politischen Agitation als auch der Organisationsarbeit eingehend nachgewiesen. Man muß, muß unbedingt und muß vor allem diesen Bereich erweitern, muß eine tatsächliche Verbindung zwischen den Städten durch regelmäßige gemeinsame Arbeit herstellen, denn die Zersplitterung entmutigt die Menschen, die (nach dem Ausdruck des Verfassers eines Briefes an die Iskra) „wie in einer Grube sitzen“, ohne zu wissen, was in der weiten Welt vorgeht, von wem sie etwas lernen, wie sie Erfahrungen erwerben können, in welcher Weise der Wunsch nach einer umfassenden Tätigkeit zu befriedigen ist. Und ich bestehe nach wie vor darauf, daß man mit der Herstellung dieser tatsächlichen Verbindung nur beginnen kann auf der Grundlage einer gemeinsamen Zeitung, als des einzigen regelmäßigen gesamtrussischen Unternehmens, das die Ergebnisse der verschiedensten Arten der Tätigkeit summiert und dadurch die Leute anspornt, unermüdlich auf all den zahlreichen Wegen vorwärtszuschreiten, die zur Revolution führen, so, wie alle Wege nach Rom führen. Wollen wir nicht nur in Worten eine Vereinigung erreichen, so ist es notwendig, daß jeder lokale Zirkel sofort, sagen wir, ein Viertel seiner Kräfte der aktiven Arbeit für die gemeinsame Sache zur Verfügung stellt, und die Zeitung wird ihm [F] sofort den allgemeinen Abriß, den Umfang und den Charakter dieser Sache anzeigen, sie wird ihm zeigen, welche Lücken es sind, die sich in der ganzen gesamtrussischen Tätigkeit am stärksten fühlbar machen, wo die Agitation fehlt, wo die Verbindungen schwach sind, welche Rädchen des gewaltigen Gesamtmechanismus der betreffende Zirkel reparieren oder durch bessere ersetzen könnte. Ein Zirkel, der noch nicht gearbeitet hat, sondern erst Arbeit sucht, könnte sie beginnen schon nicht mehr als Handwerker in einer einzelnen kleinen Werkstatt, der weder die vorangegangene Entwicklung der „Industrie“ noch den allgemeinen Stand der gegebenen industriellen Produktionsmethoden kennt, sondern als Teilnehmer an einem großen Unternehmen, das den ganzen allgemein-revolutionären Ansturm gegen die Selbstherrschaft widerspiegelt. Und je vollkommener jedes einzelne Rädchen gearbeitet, je größer die Zahl der Teilarbeiter wäre, die an der gemeinsamen Sache mitarbeiten, um so dichter würde unser Netz sein, und eine um so geringere Verwirrung würden die unvermeidlichen Verhaftungen in den gemeinsamen Reihen hervorrufen.

Eine tatsächliche Verbindung würde schon allein durch die Verbreitung der Zeitung aufgenommen werden (falls diese den Namen Zeitung verdiente, d.h. regelmäßig, und nicht nur einmal im Monat, wie die literarisch-publizistischen Zeitschriften, sondern viermal monatlich erschiene). Jetzt sind Verbindungen zwischen den Städten zu revolutionären Zwecken größte Seltenheit und jedenfalls eine Ausnahme; dann aber würden diese Verbindungen zur Regel werden, sie würden natürlich nicht nur die Verbreitung der Zeitung, sondern auch (was viel wichtiger ist) den Austausch der Erfahrungen, des Materials, der Kräfte und Mittel sichern. Der Umfang der organisatorischen Arbeit würde sofort um ein vielfaches wachsen, und der Erfolg an einem Ort würde ständig zur weiteren Vervollkommnung anregen, er würde den Wunsch wecken, die Erfahrungen zu verwerten, die schon ein in einem anderen Teil des Landes arbeitender Genosse gemacht hat. Die örtliche Arbeit würde bedeutend reicher und vielseitiger sein als jetzt: Die in ganz Rußland gesammelten politischen und ökonomischen Enthüllungen würden den Arbeitern aller Berufe und aller Stufen der Entwicklung geistige Nahrung bieten, sie würden Material und Anlaß geben zu Aussprachen und zum Nachlesen über die verschiedensten Fragen, die, sowohl durch Andeutungen der legalen Presse als auch durch Gespräche in der Gesellschaft und „verschämte“ Regierungsmitteilungen aufgeworfen werden. Jedes Aufflammen der Empörung, jede Demonstration würde an allen Enden Rußlands von allen Seiten besprochen und erörtert werden und so den Wunsch hervorrufen, nicht hinter den anderen zurückzubleiben, es besser als die anderen zu machen (wir Sozialisten lehnen durchaus nicht jeden Wettbewerb, nicht jede „Konkurrenz“ überhaupt ab!), bewußt das vorzubereiten, was das erstemal irgendwie spontan zustande gekommen ist, die günstigen Verhältnisse an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Moment auszunutzen, um den Angriffsplan zu modifizieren usw. Zugleich würde diese Belebung der örtlichen Arbeit nicht zu der verzweifelten „letzten“ Anstrengung aller Kräfte und zum Einsatz aller Leute führen, wie es jetzt häufig bei jeder Demonstration oder bei der Herausgabe jeder Nummer einer lokalen Zeitung der Fall ist: einerseits würde es der Polizei viel schwerer fallen, bis an die „Wurzeln“ zu kommen, da sie ja nicht weiß, an welchem Ort sie sie zu suchen hat; anderseits würde die regelmäßige gemeinsame Arbeit die Leute daran gewöhnen, die Stärke eines gegebenen Angriffs dem gegebenen Zustand »der Kräfte eines bestimmten Truppenteils der Gesamtarmee anzupassen (jetzt denkt fast niemand an eine solche Anpassung, denn in neun von zehn Fällen erfolgen solche Angriffe spontan), und den „Transport“ nicht nur von Literatur, sondern auch von revolutionären Kräften aus einem andern Ort erleichtern.

Jetzt ist es so, daß sich in den meisten Fällen diese Kräfte in der begrenzten örtlichen Arbeit verausgaben, dann aber wäre „die Möglichkeit gegeben und wäre immer Anlaß vorhanden, einen halbwegs fähigen Agitator oder Organisator von einem Teil des Landes in den anderen zu schicken. Die Genossen würden mit kleinen Reisen im Parteiauftrag auf Parteikosten beginnen und sich dann daran gewöhnen, gänzlich von der Partei erhalten zu werden, würden Berufsrevolutionäre werden und sich zu wirklichen politischen Führern heranbilden.

Und gelänge es uns, tatsächlich zu erreichen, daß alle oder eine beträchtliche Mehrheit der örtlichen Komitees, der lokalen Gruppen und Zirkel die gemeinsame Sache aktiv in Angriff nehmen, dann könnten wir in der nächsten Zukunft ein Wochenblatt herausgeben, das regelmäßig in Zehntausenden Exemplaren über ganz Rußland verbreitet wird. Diese Zeitung würde zu einem Teil des gewaltigen Blasebalgs werden, der jeden Funken des Klassenkampf es und der Volksempörung zu einem allgemeinen Brand anfacht. Um diese an und für sich noch sehr harmlose und noch sehr kleine, aber regelmäßige und im vollen Sinne des Wortes gemeinsame Sache könnte man eine ständige Armee von erprobten Kämpfern systematisch sammeln und schulen. Auf dem Gerüst dieses gemeinsamen organisatorischen Baus würden aus den Reihen unserer Revolutionäre bald sozialdemokratische Sheljabows, aus den Reihen unserer Arbeiter russische Bebels emporsteigen und» hervortreten, die sich an die Spitze der mobilisierten Armee stellen und das ganze Volk zur Abrechnung mit der Schmach und dem Fluche Rußlands führen würden.

Das ist es, wovon wir träumen müssen!

*

„Träumen müssen!“ Ich schrieb diese Worte nieder und erschrak. Ich stellte mir vor, ich sitze in der „Vereinigungskonferenz“, und mir gegenüber sitzen die Redakteure und Mitarbeiter des Rabotscheje Delo. Und nun steht Genosse Martynow auf und wendet sich drohend an mich: „Gestatten Sie, daß ich Sie frage: Hat eine autonome Redaktion überhaupt das Recht, ohne vorherige Befragung der Parteikomitees zu träumen?“ Und nach ihm steht Genosse Kritschewski auf und fährt (den Genossen Martynow philosophisch vertiefend, der schon vor langem den Genossen Plechanow vertieft hat) noch drohender fort: „Ich gehe weiter. Ich frage, ob ein Marxist überhaupt das Recht hat zu träumen, wenn er nicht vergißt, daß sich die Menschheit nach Marx immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann, und daß die Taktik ein Prozeß des Wachsens der Aufgaben ist, die zusammen mit der Partei wachsen?“

Bei dem bloßen Gedanken an diese drohenden Fragen überläuft es mich eiskalt, und ich überlege nur, wo ich mich verstecken könnte. Ich will versuchen, mich hinter Pissarew zu verstecken.

„Ein Zwiespalt gleicht dem anderen nicht“, schrieb Pissarew über den Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit. „Meine Träume können dem natürlichen Gang der Ereignisse vorauseilen, oder sie können auch ganz auf Abwege geraten, auf Wege, die der natürliche Gang der Ereignisse nie beschreiten kann. Im ersten Fall ist das Träumen ganz unschädlich; es kann sogar die Tatkraft des arbeitenden Menschen fördern und stärken ... Solche Träume haben nichts an sich, was die Schaffenskraft beeinträchtigt oder lähmt. Sogar ganz im Gegenteil. Wäre der Mensch aller Fähigkeit bar, in dieser Weise zu träumen, könnte er nicht dann und wann vorauseilen, um in seiner Phantasie als einheitliches und vollendetes Bild das Werk zu erblicken, das eben erst unter seinen Händen zu entstehen beginnt, dann kann ich mir absolut nicht vorstellen, welcher Beweggrund den Menschen zwingen würde, große und anstrengende Arbeiten auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft und des praktischen Lebens in Angriff zu nehmen und zu Ende zu führen ... Der Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit ist nicht schädlich, wenn nur der Träumende ernstlich an seinen Traum glaubt, wenn er das Leben aufmerksam beobachtet, seine Beobachtungen mit seinen Luftschlössern vergleicht und überhaupt gewissenhaft an der Realisierung seines Traumgebildes arbeitet. Gibt es nur irgendeinen Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, dann ist alles in bester Ordnung.“ [70]

Träume solcher Art gibt es leider in unserer Bewegung allzuwenig. Und schuld daran sind hauptsächlich diejenigen, die sich damit brüsten, wie nüchtern sie seien und wie „nahe“ sie dem „Konkreten“ stünden, nämlich die Vertreter der legalen Kritik und der nichtlegalen „Nachtrabpolitik“.

 

 

Fußnoten von Lenin

D. Genosse Kritschewski und Genosse Martynow! Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf diese empörende Äußerung von „Autokratie“, von „unkontrollierbarem Autoritätsanspruch“, von „oberster Regulierung“ u.a. Man höre nur: Er will die ganze Kette besitzen!! Verfassen Sie rasch eine Beschwerde. Da haben Sie ein fertiges Thema für zwei Leitartikel in Nr.12 des Rabotscheje Delo!

E. Martynow, der im Rabotscheje Delo den ersten Satz dieses Zitats angeführt hat (Nr.10, S.62), hat gerade den zweiten Satz weggelassen, als wollte er damit betonen, daß er auf den Kern der Frage nicht eingehen will oder daß er unfähig ist, diesen Kern zu verstehen.

F. Ein Vorbehalt: Falls er mit der Richtung dieser Zeitung sympathisiert und es als nützlich für die Sache betrachtet, ihr Mitarbeiter zu werden, wobei darunter nicht nur literarische, sondern überhaupt jede revolutionäre Mitarbeit zu verstehen ist. Anmerkung für das Rabotscheje Delo: Unter Revolutionären, die auf die Sache Wert legen und nicht auf Spielerei mit dem Demokratismus, die „Sympathisieren“ nicht von der aktivsten und regsten Teilnahme trennen, versteht sich dieser Vorbehalt von selbst.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008