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Die Krisen des 19. Jahrhunderts zeigten Eigenschaften auf, die gleichermaßen mit dem erreichten Stand der kapitalistischen Entwicklung und den politischen Ereignissen zusammenhingen. So war die Krise von 1816 zweifellos mit den vielen dem Sturz Napoleons vorausgehenden Kriegsjahren eng verbunden.[77] Insbesondere war das englische Kapital, trotz der zunehmenden Mechanisierung der Arbeit, seinen Verwertungsbedürfnissen gegenüber zu schnell gewachsen, um auf dem Wege weiterer Expansion der Krise ausweichen zu können. Die einsetzende Stagnation zeigte sich als Überproduktion, die infolge der Verarmung Kontinental-Europas nicht auf dem Wege des Außenhandels behoben werden konnte. Dies ergab einen gewaltigen Preissturz, der besonders die Landwirtschaft und die Textilindustrie betraf und zur Einführung von Schutzzöllen führte, um die noch überwiegende landwirtschaftliche Produktion zu stabilisieren. Es kam zu vielen Bankrotten und Bankzusammenbrüchen. Die Löhne wurden radikal herabgesetzt, wachsende Arbeitslosigkeit erzeugte ein Massenelend, soziale Unruhen, den Maschinensturm der Ludditen-Bewegung und auch die kapital-kritischen Theorien Sismondis und Robert Owens. Der allgemeine Preisfall der Depressionsperiode, die zehn Jahre später durch eine neue Krise unterbrochen wurde, kam erst 1849 wieder zum Stillstand.
Die Krise von 1836 ging von England und den Vereinigten Staaten aus. In beiden Ländern hatte die industrielle Entwicklung zu weitgehenden Spekulationen und zu einer Situation geführt, in der die Profitproduktion den Profitansprüchen nicht mehr gewachsen war. Die Krise zeigte sich vornehmlich als Geld- und Börsenkrise, ergriff jedoch die ganze Wirtschaft und leitete eine lange Depressionsperiode ein, die sich bald über ganz Europa ausbreitete. Die scheinbar permanenten Krisenzustande führten zu den revolutionären Ereignissen von 1848 und zu den ersten Anfängen einer antikapitalistischen Arbeiterbewegung. Selbst in den Konjunkturaufschwüngen innerhalb der Depression verbesserten sich die Lebenslagen der Arbeiter nur unwesentlich, um beim ersten wirtschaftlichen Niedergang um so tiefer zu sinken.
Der vorherrschende niedrige Lohn war ein Ausdruck der noch niedrigen Produktivität der Arbeit. Der relativ geringe Mehrwert, wie auch die Schärfe der Konkurrenz, stachelten zur Akkumulation an, die allerdings aufgrund der noch engen Basis der kapitalistischen Produktionsverhältnisse bald auf die Grenzen der Ausbeutung stieß. Die Selbstentfaltung des Kapitals war noch nicht umfassend genug, um mit sich selbst auch den Markt entscheidend zu vergrößern. Die Krisen erschienen als Handelskrisen und äußerten sich im ruinösen Fall der Warenpreise, der keine weiteren produktiven Investitionen zuließ. Unter diesen Bedingungen konnten selbst Zufälligkeiten wie die Entdeckung der Goldfelder Kaliforniens zu einem Anziehen der Preise und zu einer neuen Konjunktur führen. Vorgänge wie der Bürgerkrieg in Amerika, die erst die Krise auslösten, trieben später die industrielle und kapitalistische Entwicklung in beschleunigtem Tempo voran. Mit der geographischen Ausdehnung der Kapitalproduktion wurden die Krisen in immer größerem Maße international, aber auch jeder Aufschwung der Wirtschaft wurde enorm gefördert. Dennoch ließ die tatsächliche Entwicklung des Kapitals keine andere Prognose als die von Marx gegebene zu; die Theorie fand ihre direkte Bestätigung in der Wirklichkeit und erhärtete die an sie geknüpften revolutionären Erwartungen.
Obwohl jede auftretende Krise einen besonderen Charakter hatte, der sich nur aus der gegebenen Gesamtsituation erklären ließ, blieb ihr gemeinsames Kennzeichen doch das Aussetzen der Akkumulation und der damit zusammenhängenden Überproduktion, aus der sich das Massenelend ergab. Und obwohl die Periodizität der Krise kein sich regelmäßig wiederholender Prozeß war, blieb sie als unregelmäßiger Prozeß doch bestehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts schienen sich jedoch, wie Friedrich Engels feststellte, die Krisen abzuschwächen, die Konjunkturperioden länger zu werden, womit sich auch die wirtschaftliche Lage der Arbeiter verbesserte. Die Produktivität der Arbeit hatte sich genügend angehoben, um die Profitabilität des akkumulierenden Kapitals über längere Zeitabschnitte zu erhalten. Aus dieser Situation ergab sich dann der sozialdemokratische Reformismus und die Abkehr von der Marxschen Akkumulations- als Krisen- und Zusammenbruchstheorie.
Während Engels in der Abschwächung der Krise den Keim weit gewaltigerer kommender Krisen sah, stellte Eduard Bernstein 1899 fest:
„Weder lassen sich Zeichen eines ökonomischen Weltkrachs von unerhörter Vehemenz feststellen, noch kann man die inzwischen eingesetzte Geschäftsverbesserung als besonders kurzlebig bezeichnen. Es erhebt sich die Frage [...], ob nicht die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarkts im Verein mit der außerordentlichen Verkürzung der für Nachrichten und Transportverkehr erforderten Zeit die Möglichkeiten des Ausgleichs von Störungen so vermehrt, der enorm gestiegene Reichtum der europäischen Industriestaaten im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der industriellen Kartelle die Rückwirkungskraft örtlicher oder partikularer Störungen auf die allgemeine Geschäftslage so verringert haben, daß wenigstens für eine längere Zeit allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren überhaupt als unwahrscheinlich zu betrachten sind.“[78]
Für sich selbst beantwortete Bernstein die Frage mit der Behauptung, „daß das Krisenschema bei oder für Marx kein Zukunftsbild, sondern ein Gegenwartsbild war“[79], so daß heute, „wenn nicht unvorhergesehene äußere Ereignisse eine Krise herbeiführen, kein zwingender Grund vorhanden ist, auf ein baldiges Eintreten einer solchen aus rein wirtschaftlichen Gründen zu folgern“[80]. Damit war für Bernstein und den Reformismus im allgemeinen eine auf die Krisengesetzlichkeit aufbauende Klassenkampftheorie überholt, da auf eine durch den kapitalistischen Zusammenbruch gegebene revolutionäre Situation nicht mehr zu rechnen war.
In seiner Antwort auf Bernsteins Revisionismus erklärte Karl Kautsky, daß bei Marx eine Zusammenbruchstheorie nicht zu finden, sondern diese eine polemische Erfindung Bernsteins sei. „Die Krisen“, führte Kautsky aus, „wirken in der Richtung auf den Sozialismus durch die Beschleunigung der Konzentration der Kapitalien und durch Vermehrung der Unsicherheit der Lebenslage der Proletarier, also durch Verschärfung der Antriebe, welche diese dem Sozialismus in die Arme drängen[...] Die stete Notwendigkeit der Erweiterung des Marktes enthält dagegen noch ein weiteres Moment; es ist klar, die kapitalistische Produktionsweise wird von dem historischen Moment an zur Unmöglichkeit, in dem es sich herausstellt, daß der Markt nicht mehr in demselben Tempo sich ausdehnen kann, wie die Produktion, das heißt, sobald eine Überproduktion chronisch wird. Bernstein versteht unter historischer Notwendigkeit eine Zwangslage. Hier haben wir eine solche, die, wenn sie eintritt, unvermeidlich den Sozialismus erzeugt.“[81] So endete die Marxsche Theorie, nach Kautsky, doch in den Zusammenbruch des Kapitals, obwohl es keine Marxsche Zusammenbruchstheorie gab. Diesen Widerspruch versuchte man mit der Analyse zu überwinden, die chronische Überproduktion konnte ein sich lange hinschleppender Prozeß sein, so daß man sogar bezweifeln könnte, ob er überhaupt eintreten würde. Der Klassenkampf könnte dem Kapitalismus schon lange vor seiner Verwesung ein Ende machen.
Diese Theorie wurde von Heinrich Cunow in einem näheren Zusammenhang mit der Marxschen Akkumulationstheorie gebracht. In seinen Beiträgen zum Thema „Zusammenbruch“ führte Cunow aus, daß Marx und Engels ihn „einerseits aus der kapitalistischen Akkumulation, andererseits aus dem Zwiespalt zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und der bestehenden Austauschform (erklärt hätten), welche einer vollen Ausnutzung der gegebenen Produktivkräfte hindernd im Wege steht [...] Es findet sich für den entstandenen Kapitalreichtum keine entsprechende Verwertung mehr im Produktions- wie Warenzirkulationsprozeß; die entstandene Ausdehnungskraft der Industrie gerät in immer schrofferen Gegensatz zu dem Mechanismus der kapitalistischen Wirtschaftsform, bis sie diese endlich sprengt.“[82] Allerdings war dieser Zusammenbruchsprozeß noch der weiteren Zukunft überlassen, da es das Kapital verstanden hätte, seine aus der Warenzirkulation erwachsenden Widersprüche durch Ausdehnung der Kapital- und Industriemärkte im Weltmaßstab zu überwinden. Zuletzt bleibe jedoch der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und ihrer Verteilung ausschlaggebend und werde der Kapitalproduktion ein Ende setzen. So blieb das Hauptaugenmerk doch auf die widersprüchliche Entwicklung der Produktion und Verteilung gerichtet, auf die wachsende Schwierigkeit der Mehrwertrealisierung aufgrund der kapitalistisch beschränkten Konsumtion. Um die Lebensfähigkeit des Kapitals nachzuweisen, war es notwendig, dieser Disproportionalität eine dem Kapital gefährdende Fähigkeit abzusprechen. Dieser Aufgabe unterzog sich Tugan-Baranowsky[83]. In seinem Buch über die Handelskrisen beschreibt er den Krisenzyklus wie alle anderen, die die Krise aus einer Störung der Proportionalität von Angebot und Nachfrage ableiten. Die Unproportionalität, die auch als solche der Kapitalverteilung der verschiedenen Branchen der Produktion aufgefaßt werden kann, hielt Tugan-Baranowsky für die einzige Krisenursache. Mit einer der wirklichen Warennachfrage entsprechenden Verteilung des Kapitals wären auch die Krisen beseitigt. Sie hätten ihren Grund in der Planlosigkeit der kapitalistischen Konkurrenz und könnten damit durch eine zunehmende Kontrolle der Wirtschaft abgemildert und im Prinzip aufgehoben werden.
Ist die Krisenursache nach Tugan-Baranowsky in der unproportionalen Verteilung des Kapitals zu suchen, so doch nicht in der Verteilung des gesellschaftlichen Produkts zwischen Arbeit und Kapital. Die Konsumtionsbeschränkung bildet für ihn keine Grenze der Akkumulation oder der Mehrwertrealisierung, da die Einschränkung der Nachfrage nach Konsumtionsmitteln keineswegs mit der Einschränkung der Warennachfrage selbst identisch ist. „Die Akkumulation von gesellschaftlichem Kapital führt zu einer Einschränkung der gesellschaftlichen Nachfrage nach Konsumtionsmitteln und zugleich zu einer Erhöhung der gesamten gesellschaftlichen Nachfrage nach Waren.“[84] Damit kann die „Akkumulation des Kapitals von einem absoluten Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion begleitet werden. Ein relativer Rückgang der gesellschaftlichen Konsumtion — im Verhältnis zur allgemeinen Summe des gesellschaftlichen Produkts — ist jedenfalls unvermeidlich“[85].
Tugan-Baranowsky bezog sich auf Marx in zweierlei Hinsicht. Wie Marx sah er den fundamentalen Widerspruch „zwischen der Produktion als einem Mittel, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, und der Produktion als einem technischen Moment bei der Schaffung des Kapitals, d. h. als Selbstzweck“[86]. Er gab auch zu, daß „die Armut der Volksmassen, die Armut nicht in absoluten, sondern im relativen Sinn, im Sinne der Geringfügigkeit des Anteils der Arbeit an dem gesamtgesellschaftlichen Produkt, eine der Vorbedingungen der Handelskrisen“ ist; aber es wäre falsch anzunehmen, „daß das Elend der Arbeiter [...] eine Realisation der sich immer erweiternden kapitalistischen Produktion wegen mangelnder Nachfrage unmöglich macht, [...] da die kapitalistische Produktion für sich selbst einen Markt schafft“. Im Gegenteil, „je geringer der Anteil des Arbeiters ist, desto höher ist der Anteil des Kapitalisten - und um so rascher vollzieht sich die Akkumulation des Kapitals - notwendigerweise von Stockungen und Krisen begleitet“[87].
Zur Erbringung des Nachweises unbeschränkter Akkumulation verwies Tugan-Baranowsky auf die Marxschen Reproduktionsschemata im 2. Bande des Kapital, die seiner Ansicht nach die Möglichkeit einer fortgesetzten und krisenlosen Gesamtreproduktion des Kapitals erlauben, wenn die dazu benötigten Proportionen in den einzelnen Sphären und Branchen der Produktion eingehalten werden. Da diese Proportionen durch die Anarchie der Wirtschaft verletzt werden, ergeben sich Krisen, aber nicht die objektive Unmöglichkeit fortgesetzter Akkumulation. Damit wäre jede Zusammenbruchstheorie zu verwerfen und die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft eine Frage der sozialistischen Bewußtseinsentwicklung.
In seiner Anknüpfung an Marx vergaß Tugan-Baranowsky allerdings die der Marxschen Akkumulationstheorie zugrundeliegende Werttheorie. Oder besser, er bezog sich auf Marx, ohne dessen Theorie zu berücksichtigen, da er sich, wie Bernstein und andere Reformisten, bereits die subjektive Werttheorie der bürgerlichen Ökonomie angeeignet hatte. So gebrauchte er nicht, wie er selbst sagt, „die übliche Marxsche Terminologie (konstantes Kapital, variables Kapital, Mehrwert)“, da seiner Meinung nach „in der Schaffung des Mehrprodukts — also der Rente — gar kein Unterschied zwischen der menschlichen Arbeitskraft und den toten Arbeitsmitteln zu machen ist. Die Maschine darf man mit demselben Rechte wie die menschliche Arbeitskraft als variables Kapital bezeichnen, da beide Mehrwert ergeben.“[88] Folgerichtig eignete er sich, trotz einiger Vorbehalte, die von Say herleitende Gleichgewichtstheorie an, nämlich daß bei einer proportionalen Einteilung der gesellschaftlichen Produktion das Warenangebot mit der Nachfrage übereinstimmen muß, und in diesem Sinne interpretierte er auch die Marxschen Reproduktionschemata. So fiel aus seinen Betrachtungen der aus dem Fall der Profitrate erwachsende Widerspruch der Akkumulation fort und damit alle Grenzen der kapitalistischen Produktion. Eigenartigerweise fand dieser Tatbestand keine Beachtung in der sich gegen Tugan-Baranowsky richtenden Diskussion innerhalb der Sozialdemokratie. Kautsky, obwohl zugebend, daß „auch Mangel an Proportionalität in der Produktion eine Krise hervorrufen kann“, blieb doch darauf bestehen, daß „der letzte Grund der periodischen Krisen in der Unterkonsumtion zu finden ist“. Er wandte sich gegen die Gleichsetzung menschlicher Arbeitskraft mit den toten Produktionsmitteln, um doch nur hervorzuheben, „in letzter Linie (bleibt) stets nur die menschliche Arbeit der wertbildende Faktor und darum entscheidet auch in letzter Linie die Ausdehnung des menschlichen Konsums über die Ausdehnung der Produktion“[89]. Damit hing die Akkumulation des Kapitals vom Konsum der Arbeiter ab — da am kapitalistischen Konsum nichts zu bemängeln war —, und die Expansion des Kapitals war an die menschlichen Bedürfnisse gebunden, da „die Konsumtion der Produktionsmittel nichts anderes wäre als die Produktion von Konsumtionsmitteln“[90].
Auch für Conrad Schmidt entschied die Konsumtionsfrage den Umfang der Produktion, und die Überproduktion ergab sich aus der Konsumtionsbeschränkung der arbeitenden Bevölkerung. „Der kapitalistische Wettbewerb auf den Warenmarkt bei zunehmender Absatzschwierigkeit müßte, der Tendenz nach, in einem steigenden Preisdruck und damit in einem Sinken der Gewinnsätze oder der durchschnittlichen Profitrate zum Ausdruck kommen, einem Sinken, durch welches die kapitalistische Wirtschaftsweise sogar auch für die Mehrzahl der Privatunternehmer immer unrentabler und riskanter wird, während gleichzeitig auch der Arbeitsmarkt sich für die Arbeiter progressiv verschlechtert und die Reihen der industriellen Reservearmee immer furchtbarer anschwellen.“[91] Schmidt berief sich ebenfalls nicht auf die von ihm abgelehnte, auf der Werttheorie basierenden Marxschen Akkumulationstheorie, sondern führte, wie einst Adam Smith, den Fall der Profitrate auf die sich verschärfende Konkurrenz zurück. Ergab sich für ihn die Krise aus der mangelnden Konsumtion, so stimmte er doch mit Tugan-Baranowsky darin überein, daß sich von den Krisen nicht auf einen kapitalistischen Zusammenbruch schließen ließe, da sich durch die mittels sozialer Kämpfe erreichten Verbesserungen der Lebenslagen der Arbeiter die Ursachen der Krisen, die Konsumtionsbeschränkungen, wenn nicht gänzlich aufheben, so doch mildern ließen. I n der weitreichenden, hier aber nicht weiter zu behandelnden Diskussion über die Krise und den Zusammenbruch des Kapitals widerspiegelten sich die Zweideutigkeiten der Marxschen Krisendarstellung. Wie schon ausgeführt, ergab sich für Marx die Krise einerseits aus dem der Akkumulation eigentümlichen Fall der Profitrate, unabhängig von allen an der Oberfläche der Gesellschaft auftretenden Krisenerscheinungen, andererseits aber auch aus der Unterkonsumtion der Arbeiter. So konnten sich Kautsky wie Schmidt auf Marx berufen und Tugan-Baranowsky ebenfalls. Die Verwirrung wurde um so größer, da man auf Basis der Unterkonsumtionstheorie auf den Zusammenbruch des Kapitals schließen konnte, oder auch nicht; aber auch den Zusammenbruch bestreiten konnte, eben weil die Unterkonsumtion ihn nicht herbeizuführen vermag. Die Zweideutigkeiten der Marxschen Ausführungen sind bis auf den heutigen Tag für die um die Krise und den Zusammenbruch geführten Debatten verantwortlich geblieben, obwohl sie sehr wohl nicht mehr als Marx' eigene Unsicherheit ausdrücken mögen, da sie viele Jahre vor der Veröffentlichung des ersten Bandes des Kapitals niedergeschrieben wurden und an einem späteren Zeitpunkt höchstwahrscheinlich eine weniger widersprüchliche Formulierung gefunden hätten. Wie dem auch sei, die tatsächliche Entwicklung des Kapitals wie auch die Wert- und Mehrwertanalyse der Akkumulation ergeben eindeutig, daß die fortschreitende Akkumulation des Kapitals an eine der Kapitalverwertung entsprechende Disproportionalität zwischen Produktion und Konsumtion gebunden und nur durch die Aufrechterhaltung dieses Zustandes imstande ist, die auftretenden Krisen zu überwinden. Wenn allerdings die Krise kapitalistisch nicht mehr überwunden werden kann, dann muß sich die Permanenz der Depression als absolute Verelendung der arbeitenden und arbeitslosen Bevölkerung zeigen und der Widerspruch des Kapitals als Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise zu den gesellschaftlichen Konsumtionsbedürfnissen darstellen. Mit Tugan-Baranowskys Bezugnahme auf die Marxschen Reproduktionsschemata im zweiten Band des Kapital nahm die Krisendiskussion einen neuen Charakter an. Das Krisenproblem war nicht mehr eine Frage der Überakkumulation des Kapitals oder der Unterkonsumtion, sondern eine des gesellschaftlichen Gleichgewichts oder der Proportionalität des Reproduktionsprozesses. Es wird hier notwendig, kurz auf die Marxschen Reproduktionsschemata einzugehen. Der Produktionsprozeß ist gleichzeitig ein Reproduktionsprozeß, der sich über die Zirkulation vollzieht. Für theoretische Zwecke und zur Demonstration dieses Prozesses genügt es, die gesamtgesellschaftliche Produktion in zwei Abteilungen aufzuteilen, um die Bedingungen eines vorstellbaren reibungslosen Austauschs darzustellen. Obwohl kapitalistische Produktion die Erzeugung von Tauschwert ist, bleibt sie doch am Gebrauchswert gebunden. Während jeder Kapitalist nur sein Kapital als Kapital zu vermehren trachtet, kann er es doch nur im Rahmen der gesellschaftlichen Produktion, die zugleich ein sich auf Gebrauchsgüter beziehender gesellschaftlicher Stoffwechsel ist. Im gesellschaftlichen Rahmen setzt ein gedanklich vorstellbares Gleichgewicht des kapitalistischen Austauschs ein Gleichgewicht der zur Reproduktion notwendigen Gebrauchswerte voraus.
Wie die Konkurrenz nicht aus der Konkurrenz erklärt werden kann, so kann auch der Zirkulationsprozeß nicht aus der Zirkulation erklärt werden. Er setzt bestimmte Arbeitszeitrelationen als Wert- und Gebrauchswertrelationen und eine bestimmte Verteilung derselben voraus, um die Reproduktion möglich zu machen. Es versteht sich von selbst, daß sich die Marxschen Reproduktionsschemata nicht auf den realen Reproduktionsprozeß beziehen, sondern auf die dem realen Prozeß zugrundeliegenden Notwendigkeiten der kapitalistischen Reproduktion, die zwar im Kapitalismus unberücksichtigt bleiben, aber sich dennoch in der einen oder anderen Weise durchzusetzen haben, um die Akkumulation des Kapitals herbeizuführen. Es handelt sich hier um den einfachen Hinweis, daß auch die Akkumulation an bestimmte Proportionalitäten gebunden ist, die sich über den Markt herzustellen haben. Die Schemata sind so formuliert, daß sich bei einfacher wie erweiterter Reproduktion ein Gleichgewicht des Austauschs zwischen den zwei Sphären der Produktion ergibt. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß der aktuelle kapitalistische Reproduktionsprozeß weder in bezug auf die einfache noch auf die erweiterte Reproduktion so verläuft oder verlaufen kann, wie es im Reproduktionsschema erscheint.
Diese illustrierende und erklärende Funktion der Reproduktionsschemata wurde dann als ein sich tatsächlich in der Realität abspielender Prozeß aufgefaßt, und die sich aus ihnen ergebenden Austauschrelationen wurden als Belege benutzt, um entweder die Gleichgewichtstendenzen des Systems nachzuweisen oder abzustreiten. Für Tugan-Baranowsky erbrachten die Reproduktionsschemata den Nachweis der Möglichkeit unbegrenzter Kapitalakkumulation, solange die dafür notwendigen Proportionalitäten eingehalten werden. Diese Idee wurde von Rudolf Hilferding aufgegriffen. Er stimmte mit Tugan- Baranowsky und mit Marx darin überein, daß die kapitalistische Produktion nicht von der Konsumtion, sondern vom Verwertungsbedürfnis des Kapitals abhängig ist. Er wollte aber auch dem Unterkonsumtionsgedanken irgendwie gerecht werden und stellte so fest, daß „die Verwertungsbedingungen gegen die Konsumerweiterung rebellieren, und da sie die entscheidenden sind, steigert sich der Widerspruch bis zur Krise“[92]. Er nimmt dies allerdings sofort wieder zurück, da „der periodische Charakter der Krise [...] aus einer ständigen Erscheinung (nämlich der Unterkonsumtion) überhaupt nicht erklärt werden kann“[93]. Die Krise ist für Hilferding „ganz allgemein eine Zirkulationsstörung“, die die notwendigen Gleichgewichtsbedingungen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses verletzt. Auch für ihn zeigen die Marxschen Schemata, „daß in der kapitalistischen Produktion sowohl Reproduktion auf einfacher als auf erweiterter Stufenleiter ungestört vor sich gehen kann, wenn die (notwendigen) Proportionen erhalten bleiben. Umgekehrt kann die Krise auch bei einfacher Reproduktion eintreten bei Verletzung der Proportion, zum Beispiel zwischen abgestorbenen und neuanzulegenden Kapital. Es folgt also durchaus nicht, daß die Krise in der der kapitalistischen Produktion immanenten Unterkonsumtion der Massen ihre Ursache haben muß. Eine allzu rasche Ausdehnung der Konsumtion würde an sich ebenso wie Gleichbleiben oder Verringerung der Produktionsmittel zur Krise führen müssen. Ebensowenig folgt aus den Schematen an sich eine Möglichkeit einer allgemeinen Überproduktion von Waren, vielmehr läßt sich jede Ausdehnung der Produktion als möglich zeigen, die überhaupt bei den vorhandenen Produktivkräften stattfinden kann.“[94]
Der aus der Unproportionalität erwachsene Krisencharakter des Kapitals verändert sich für Hilferding mit der Beschränkung der Konkurrenz durch die Vertrustung und Kartellisierung des Kapitals. Obwohl die Warenüberproduktion durch bessere Anpassung an die Warennachfrage zum Teil aufgehoben werden kann, handelt es sich bei der Krise jedoch nicht um die Überproduktion von Waren, sondern um die von Kapital, was nichts anderes heißt, „als daß das Kapital in der Produktion in einem Maße angelegt ist, daß seine Verwertungsbedingungen mit seinen Realisierungsbedingungen in Widerspruch geraten sind, so daß der Absatz der Produkte nicht mehr den Profit abwirft, der eine weitere Ausdehnung, eine weitere Akkumulation möglich macht. Der Warenabsatz stockt, weil die Ausdehnung der Produktion aufhört“[95]. Da für Hilferding die Krise eine ‘Zirkulationsstörung’ ist, handelt es sich hier nicht um den aus der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals resultierenden Fall der Profitrate, sondern um Absatzmangel gegenüber der zu schnell gewachsenen Produktion, oder um einen Widerspruch zwischen den ‘Verwertungsbedingungen und den Realisierungsbedingungen’ des Kapitals, also doch um eine Divergenz zwischen Angebot und Nachfrage, wenn auch unabhängig von der Konsumbeschränkung der Arbeiter. Solche ‘Zirkulationsstörungen’ werden durch die fortschreitende Kartellisierung nicht gemildert, sondern verschärft, ohne damit zu einem Zusammenbruch zu führen, da ein ökonomischer Zusammenbruch für Hilferding „überhaupt keine rationelle Vorstellung ist“[96]. Die Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft kann sich damit nur als ein politischer Prozeß vollziehen, der allerdings durch die Kartellisierung des Kapitals und die Übernahme des industriellen durch das Bankkapital, die Herausbildung des Finanzkapitals, in immer größeren Maße vorbereitet wird. „Das Finanzkapital bedeutet seiner Tendenz nach die Herstellung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Produktion. Es ist aber Vergesellschaftung in antagonistischer Form; die Herrschaft über die gesellschaftliche Produktion bleibt in den Händen einer Oligarchie. Der Kampf um die Depossedierung dieser Oligarchie bildet die letzte Phase des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat.“[97] Dafür genügt es, „wenn die Gesellschaft durch ihr bewußtes Vollzugsorgan, den vom Proletariat eroberten Staat, sich des Finanzkapitals bemächtigt, um sofort die Verfügung über die wichtigsten Produktionszweige zu erhalten“[98].
War Hilferding zufolge der kapitalistischen Akkumulation keine ökonomische Schranke gesetzt, so blieb sie doch ein von Krisen gezeichneter Prozeß, der nur durch die Vergesellschaftung der Produktion durch den Sozialismus überwunden werden konnte. Unter kapitalistischer Direktion erzwang sie mit der sich fortwährenden Ausdehnung der Produktion den Kapitalexport und einen Kampf um Märkte und Rohstoffquellen, um den Mehrwert des nationalorganisierten Kapitals zu vergrößern. Der Imperialismus ergab sich direkt aus der Kapitalisierung der Weltwirtschaft und war sowohl ein Krisen- wie ein Krisenüberwindungsmoment. Vom Kapitalismus nicht zu trennen, nahm der Imperialismus um die Jahrhundertwende besonders bedrohliche Formen an, da sich die imperialistischen Mächte zu neuen Auseinandersetzungen anschickten. Die imperialistische Politik und die Kolonisation fand Gegner wie Verteidiger auch im sozialdemokratischen Lager und bestimmte die Arbeit Rosa Luxemburgs über die Akkumulation des Kapitals.[99]
Anknüpfend an Heinrich Cunows Krisentheorie, aber die Theorie Hilferdings vollends übersehend, sah Rosa Luxemburg den Imperialismus als eine direkte Konsequenz der Kapitalproduktion, die es wissenschaftlich nachzuweisen galt. „Die strenge ökonomische Beweisführung“ der Notwendigkeit des Imperialismus führte sie, in ihren eigenen Worten, „zu den Marxschen Formeln am Schluß des 2. Bandes des Kapital, die mir längst unheimlich waren und wo ich jetzt eine Windbeutelei nach der anderen finde“[100]. Die ‘Windbeuteleien’ bestehen in der angeblichen Gleichgewichtsbetrachtung der kapitalistischen Reproduktion. Rosa Luxemburgs Analyse des Marxschen Schemas der erweiterten Reproduktion ergab das Gegenteil der Marxschen Resultate, nämlich die Unmöglichkeit des Gleichgewichts. „Nimmt man das Schema wörtlich“, schreibt sie, „dann erweckt es den Anschein, als ob die kapitalistische Produktion ausschließlich ihren gesamten Mehrwert realisierte und den kapitalistischen Mehrwert für die eigenen Bedürfnisse verwendet“[101]. Das würde aber nach Rosa Luxemburg bedeuten, daß „die Kapitalisten Fanatiker der Produktionserweiterung um der Produktionserweiterung willen“ sind, die „immer neue Maschinen bauen lassen, um damit neue Maschinen zu bauen“, d. h. ihren Mehrwert nicht als Kapital akkumulieren, sondern in Form einer zwecklosen Produktion von Produktionsmitteln. Hier käme der Mehrwert „von vornherein in einer ausschließlich für die Bedürfnisse der Akkumulation berechneten Naturalgestalt zur Welt“[102], was jedoch in Wirklichkeit nicht der Fall ist, da das Kapital erst verkaufen muß, um akkumulieren zu können. Wo aber sind die den Mehrwert realisierenden Käufer zu finden? Kapitalistische Akkumulation ist nach Rosa Luxemburg „Anhäufung von Geldkapital“, was die Realisierung des produzierten Mehrwerts voraussetzt. Wie kann sich dieser Prozeß vollziehen, „wenn die Kapitalisten als Klasse immer nur selbst Abnehmer ihrer gesamten Warenmasse sind — abgesehen von dem Teil, den sie jeweilig der Arbeiterklasse zu deren Erhaltung zuweisen müssen — wenn sie sich selbst mit eigenem Gelde stets die Waren abkaufen und den darin enthaltenen Mehrwert ‘vergolden’ müssen —, dann kann Anhäufung des Profits, Akkumulation bei der Klasse der Kapitalisten im ganzen unmöglich stattfinden.“[103]
Rosa Luxemburg fand die Antwort auf ihre Fragen „in dem dialektischen Widerspruch, daß die kapitalistische Akkumulation zu ihrer Bewegung nichtkapitalistischer sozialer Formationen als ihrer Umgebung bedarf, in ständigem Stoffwechsel mit ihnen vorwärts schreitet und nur so lange existieren kann, als sie dieses Milieu vorfindet“[104]. Im inneren kapitalistischen Verkehr könnten ihrer Ansicht nach „im besten Fall nur bestimmte Wertteile des gesellschaftlichen Gesamtprodukts realisiert werden: das verbrauchte konstante Kapital, das variable Kapital und der konsumierende Teil des Mehrwerts; hingegen muß der zur Kapitalisierung bestimmte Teil des Mehrwerts ‘auswärts’ realisiert werden“[105]. So breitet sich der Kapitalismus „dank der Wechselwirkung mit nichtkapitalistischen Gesellschaftskreisen und Ländern immer mehr aus, indem er auf ihre Kosten akkumuliert, aber sie zugleich Schritt für Schritt zernagt und verdrängt, um an ihre Stelle selbst zu treten. Je mehr kapitalistische Länder aber an dieser Jagd nach Akkumulationsgebieten teilnehmen und je spärlicher die nichtkapitalistischen Gebiete werden, die der Weltexpansion des Kapitals noch offen stehen, um so erbitterter wird der Konkurrenzkampf des Kapitals um jene Akkumulationsgebiete, um so mehr verwandeln sich seine Streifzüge auf der Weltbühne in eine Kette ökonomischer und politischer Katastrophen: Weltkrisen, Kriege, Revolutionen“[106]. Die Erklärung des Imperialismus war nicht an Rosa Luxemburgs ‘streng ökonomische Beweisführung’ gebunden. Auch ohne Bezugnahme auf die Notwendigkeit nicht-kapitalistischer Absatzgebiete zu Zwecken der Mehrwertrealisierung ergab sich aus der Akkumulation der Imperialismus, wie z. B. in Hilferdings Theorie. Worauf es Rosa Luxemburg jedoch ankam, war nicht so sehr die Erklärung des Imperialismus selbst, als die Erbringung des Nachweises, daß dem Kapitalismus absolute unüberschreitbare Grenzen gesetzt sind, womit die fortschreitende Annäherung an diese Grenzen zu immer größeren sozialen Erschütterungen führen mußte. Es war die von Tugan-Baranowsky und Hilferding auf die Reproduktionsschemata aufbauende Theorie, daß der Akkumulation objektiv nichts im Wege stände, die Rosa Luxemburg veranlaßte, den Gleichgewichtsbedingungen der Schemata nachzugehen und dabei zu entdecken, daß sich aus der Unmöglichkeit der Mehrwertrealisierung innerhalb des Kapital-Arbeit-Verhältnisses ein dauerndes Ungleichgewicht, nämlich ein unverkäuflicher Warenrest ergibt, der erst außerhalb des Systems realisiert und damit akkumuliert werden kann. So war es nicht das Problem der Mehrwertproduktion und ihrer Schwierigkeiten im Verlaufe der Akkumulation, sondern die Frage der Mehrwertrealisierung, die für Rosa Luxemburg für die Zukunft des Kapitals entscheidend war. Die periodischen Krisen waren damit Überproduktionskrisen, die sich als unverkäufliche Warenmengen darstellten und sich innerhalb des Systems nicht aufheben ließen. Dieser Gedanke hatte eine gewisse Plausibilität, da sich der Kapitalismus tatsächlich geographisch ausbreitete und immer neue Länder in die Weltwirtschaft einbezog. Aber er hatte nichts mit der Marxschen Akkumulationstheorie zu tun. So stieß auch Rosa Luxemburgs Theorie auf weitgehende Ablehnung, nicht nur im rechten, sondern auch im linken Lager der sozialdemokratischen Bewegung. Aus der Diskussion um die Marxsche Akkumulations- und Krisentheorie ergaben sich zwei entgegengesetzte Ansichten und innerhalb dieser verschiedene Modifikationen jeder einzelnen Richtung. Die eine bestand darauf, daß der Kapitalakkumulation absolute Schranken gesetzt sind und daß damit auf einen ökonomischen Zusammenbruch des Systems gerechnet werden kann, während die andere dies für unsinnig hielt und darauf bestand, daß das System nicht aus ökonomischen Gründen verschwinden würde. Es versteht sich von selbst, daß der Reformismus, schon um sich selbst zu rechtfertigen, die letztere Auffassung zu seiner eigenen machte. Aber auch von einem linksradikalen Standpunkt aus, wie z. B. dem Anton Pannekoeks, war der Zusammenbruch als ‘rein ökonomischen Prozeß eine Verfälschung der Lehre des historischen Materialismus. Pannekoek hielt die Fragestellung für falsch, ob sie nun zu Tugan-Baranowskys Antwort der unbeschränkten Akkumulation führte oder zu Rosa Luxemburgs Zusammenbruchstheorie. Er hielt die von Marx dargelegten Unzulänglichkeiten des kapitalistischen Systems und die konkreten Krisenerscheinungen, die sich aus der Anarchie der Wirtschaft ergaben, für ausreichend, um zu einer revolutionären Bewußtseinsentwicklung des Proletariats zu führen und damit zur proletarischen Revolution.
Obwohl sich Pannekoek gegen Tugan-Baranowskys harmonische Auslegung der Marxschen Reproduktionsschemata wandte[107], da der Kreislauf des Kapitals in Wirklichkeit ein von Krisen durchsetzter Vorgang sei, und die Marxsche Formulierung zu Zwecken der theoretischen Analyse nur als vorläufige und vereinfachte Darstellung gelten könne, hielt er auch Rosa Luxemburgs Kritik für ein Mißverständnis[108], da seiner Ansicht nach das Kapital seinen Mehrwert auch ohne Hilfe nicht-kapitalistischer Märkte zu realisieren vermag. Auch der Imperialismus, obwohl eine offensichtliche Tatsache, war nicht eine notwendige Voraussetzung kapitalistischer Produktion. Die ganze Annahme eines endlichen und automatischen Zusammenbruchs des Kapitals widerspreche den Marxschen Vorstellungen, in denen die objektiven mit den subjektiven Bedingungen der Revolution zusammenfielen. Die Revolution hängt vom Willen der Arbeiterklasse ab, auch wenn dieser Wille aus den ökonomischen Umständen erwächst. So ginge das Proletariat nicht einer Endkrise entgegen, sondern durch viele Krisen hindurch, bis sich das entscheidende Element, das revolutionäre Bewußtsein, genügend herausgebildet hat, um dem kapitalistischen System ein Ende zu machen. Bei den Theoretikern der Sozialdemokratie stieß Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals auf fast allgemeine Ablehnung; nicht so sehr, weil sie es wagte, Marx zu kritisieren oder die imperialistische Realität aus den Realisierungsschwierigkeiten der Akkumulation abzuleiten, sondern weil sie auf das unabwendbare Ende des Kapitalismus hinwies und damit auf eine proletarische Klassenkampfpolitik, die der dominierenden reformistischen Haltung diametral entgegen stand. Andererseits war es eben dieses Beharren auf dem unausbleiblichen Ende des Kapitals, das ihr, mit oder ohne Akzeptierung der von ihr gegebenen spezifischen Begründung, die Gefolgschaft der linksoppositionellen Arbeiter sicherte, da diese nicht so sehr daran interessiert waren, ob und wie das Kapital aus diesen oder jenen Gründen zusammenbrechen würde, so lange es nur dem Zusammenbruch selbst geweiht war. Unter den vielen Theoretikern, die sich mit Rosa Luxemburg auseinandersetzten, beanspruchen Otto Bauer und Nikolai Bucharin besondere Beachtung. Bucharins verspätete Kritik[109]entstammte nicht nur einem theoretischen Interesse, sondern auch dem seinerzeitigen bolschewistischen Kampf gegen den 'Luxemburgismus’, um innerhalb der kommunistischen Parteien mit den an ihn geknüpften Traditionen aufzuräumen. Bucharin hatte an den Marxschen Reproduktionsschemata nichts auszusetzen und wies die diesbezügliche Kritik Rosa Luxemburgs zurück. Allerdings bedürfe der auf sehr hohe Abstraktionsebene dargestellte Kreislauf des Kapitals späterer, auf niedrigerer und mehr konkreter Abstraktionsstufe dargestellter Ergänzungen. Jedenfalls ließen die Reproduktionsschemata weder Tugan-Baranowskys noch Rosa Luxemburgs Auslegungen zu. Nach Marx und Lenin ständen der Akkumulation und der Realisierung des Mehrwerts auch in einem 'reinen’ kapitalistischen System nichts im Wege.
Bucharin sah in Rosa Luxemburgs Identifizierung der Akkumulation des Kapitals mit der des Geld-Kapitals die Ursache ihrer falschen Theorie. Sie habe sich vorgestellt, daß der Teil des Mehrwerts, der als zusätzliches Kapital akkumuliert werden muß, erst in Geld umgesetzt werden muß, um das innerhalb des Systems bereits vorhandene Geld dementsprechend zu vermehren. Erst dann wären der Mehrwert realisiert und die erweiterte Reproduktion die der kapitalistischen Akkumulation. Ohne diese Verwandlung des Mehrwerts aus der Warenform in die Geldform ließe sich die Akkumulation nicht vollziehen. Bucharin wies jedoch darauf hin, daß, wie das Kapital selbst, so auch der Mehrwert in verschiedenen Formen erscheint: als Ware, als Geld, als Produktionsmittel und als Arbeitskraft. Für jede ist die Geldform nur eine Phase im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß. Deshalb lasse sich der Mehrwert in seiner Geldform nicht mit dem gesamten Mehrwert in seinen verschiedenen Formen identifizieren. Der Mehrwert muß die Geldphase durchlaufen, aber nicht der ganze Mehrwert zur selben Zeit, sondern nur nach und nach, durch unzählige geschäftliche Vorgänge, bei denen eine gegebene Geldsumme die Verwandlung der Ware in Geld und Geld in Ware mehrmals vollziehen kann. Der Gesamtmehrwert muß nicht einer ihr adäquaten Geldsumme gegenüberstehen, obwohl jede Ware, um realisiert zu werden, in Geld verwandelt werden muß. Die Tatsache, daß das wachsende Kapital vor einer zunehmenden Geldmasse begleitet ist, bedeutet nicht, daß die Akkumulation des Kapitals mit der von Geld-Kapita Schritt zu halten hätte. Das Kapital vergegenständlicht sich vielen Formen, wovon die des Geldes eine vermittelnde, aber nicht die ausschließliche Form des realisierten Mehrwerts ist. Der Kritik der Luxemburgischen Theorie schließt sich Bucharins eigene, sich auf Lenin berufende Krisentheorie an, die sich allerdings nicht von den Disproportionalitätstheorien Tugan-Baranowskys und Hilferdings wesentlich unterscheidet, obwohl sich Bucharin im Gegensatz zu Tugan-Baranowsky zu stellen versuchte. Dieser angebliche Gegensatz besteht in der Einbeziehung der Unterkonsumtion in die Disproportionalität zwischen der Produktionsmittelproduktion und der von Konsumtionsmitteln. Man sollte nun annehmen, daß es sich hier um eine Tautologie handelt, aber für Bucharin ist sie das ausschlaggebende Moment, das die Marxsche Theorie von der Tugan-Baranowskys trennt. Wir stoßen hier wieder auf die schon erörterte Frage, ob Marx zwei Krisentheorien entwickelte, nämlich die, welche sich aus der Werttheorie als fallende Profitrate ergibt, und die, welche sich auf den mangelnden Konsum der Arbeiter bezieht. Weder Lenin noch Bucharin sehen hier einen Widerspruch. Einerseits behaupten sie, daß die Produktion von Produktionsmitteln sich in völliger Unabhängigkeit von der von Konsumtionsmitteln vollzieht, andererseits ist es doch die mangelnde Konsumtion der Arbeiter, die dem Akkumulationsprozeß Grenzen setzt, da Marx ja betont habe, daß letzten Endes die Produktion von Produktionsmitteln immer nur der Konsumtion zu dienen hat. Folglich halten sie die Annahme Tugan-Baranowskys, daß sich das Kapital bei einer ausgeglichenen Proportionalität der Produktionssphären auch unter diesen Umständen grenzlos entfalten könne, für falsch.
Es war also nicht die sich aus der Akkumulation ergebende fallende Profitrate, die Lenin und Buchann der Tugan-Baranowskyschen Phantasie einer unbeschränkten Kapitalexpansion entgegensetzten, sondern die Unterkonsumtion der Arbeiter, die innerhalb aller anderen Disproportionalitäten eine besondere, die Akkumulation hemmende Wirkung ausübte. Und damit wäre es die zunehmende Konsumtion der Arbeiter, welche die Realisierung des Mehrwerts zu Zwecken der Akkumulation ermöglichen hilft. So wies Bucharin darauf hin, daß mit dem Wachsen des konstanten Kapitals auch das variable zunimmt, wodurch ein Teil des Mehrwerts realisiert werden kann. Praktisch kann das allerdings nur bedeuten, daß die Kapitalisten einen Teil des den Arbeitern entzogenen Mehrwerts an diese wieder zurückgeben; sie hätten sich die Mühe ersparen können, wenn sie den Arbeitern gleich weniger Mehrwert entzogen hätten. Obwohl es zutrifft, aber nicht immer zuzutreffen braucht, daß zusätzliche Produktionsmittel zusätzliche Arbeitskräfte benötigen, so ändert dies doch nichts daran, daß das Verhältnis des konstanten zum variablen Kapital sich im Laufe der Akkumulation zugunsten des konstanten verschiebt. Trotz der absoluten Zunahme der Zahl der Arbeiter wird sie dem schneller wachsenden konstanten Kapital gegenüber geringer, womit sich auch der den Arbeitern entzogene Mehrwert vergrößert und das Problem seiner Realisierung — sollte so ein Problem existieren — nicht nur bestellen bleibt, sondern akuter wird.
Nun ist die ganze Marxsche Akkumulationstheorie auf der Annahme aufgebaut, daß die Arbeiter stets ihrem Wert nach bezahlt werden, ihren Produktions- und Reproduktionskosten entsprechend. Damit kann der Mehrwert nur den Kapitalisten zufallen und muß von diesen durch die eigene Konsumtion und ihrer Akkumulation realisiert werden. Marx nahm vorläufig an, daß dieser Realisierung nichts im Wege stünde und wies nach, daß selbst unter diesen gesegneten Umständen die Akkumulation die Profitrate drückt, bis schließlich die Akkumulation an ihrer Profillosigkeit scheitert. Damit war nicht gesagt, daß dieser Realisierungsprozeß so reibungslos verläuft, wie er in der allgemeinen Theorie der Kapitalakkumulation impliziert ist; aber es ist damit gesagt, daß schon, ganz unabhängig von allen Realisierungsschwierigkeiten, das Kapital in der Mehrwertproduktion selbst eine Schranke findet. Läßt sich der Akkumulationsprozeß ohne Bezugnahme auf den Zirkulationsprozeß darstellen, so läßt sich auch der Reproduktionsprozeß ohne die ihm in der Wirklichkeit begegnenden Realisierungsschwierigkeiten wiedergeben, um aufzuzeigen, was mit dem Kreislauf des Kapitals gemeint ist. Man mag dies für angebracht halten oder auch nicht; Marx war jedenfalls der Überzeugung, daß die abstrakte Verbildlichung des kapitalistischen Kreislaufprozesses, obwohl nicht der Wirklichkeit entsprechend, doch zum besseren Verständnis der Wirklichkeit beitragen könnte. Aber so wenig wie sich aus den Reproduktionsschemata die Tugan-Baranowskyschen Schlußfolgerungen ziehen lassen, so wenig kann man diesen mit der sinnlosen Behauptung widersprechen, daß die Arbeiter einen Teil des kapitalistischen Mehrwerts realisieren und eine Krise einsetzen muß, wenn dies nicht mehr in genügendem Umfang geschieht.
Für Bucharin resultierte die Krise aus einem Konflikt zwischen Produktion und Konsumtion, oder, was dasselbe ist, aus der Überproduktion. Die Anarchie der kapitalistischen Produktion schließt in ihren verschiedenen Disproportionalitäten die zwischen Produktion und Konsumtion in sich ein. Daraus würde folgen, daß ohne diese Disproportionalitäten der kapitalistische Reproduktionsprozeß reibungslos verlaufen könnte. Und da die Krise nur periodisch auftritt, daß die Konjunktur sich aus einer angemessenen Proportionalität des Systems ergibt. So ergibt sich doch, daß bei einer richtigen Proportionalität der Reproduktionsprozeß so verlaufen würde, wie er in den Marxschen Reproduktionsschemata dargestellt wurde. Damit wird begreiflich, warum in der Debatte zwischen Rosa Luxemburg und Otto Bauer, auf die wir jetzt zu sprechen kommen, Lenin sich auf die Seite Otto Bauers schlug[110]. Daß es weder Lenin noch Bucharin in den Sinn kam, das Problem der Krise vom Standpunkt der Werttheorie anzugehen, ist schon daraus ersichtlich, daß Bucharin Rosa Luxemburg zustimmte, daß, wolle man den Zusammenbruch des Kapitals der fallenden Profitrate zuschreiben, es damit „noch gute Wege hätte, so etwa bis zum Erlöschen der Sonne“[111], wenn er diese Bemerkung auch zugleich gegen Rosa Luxemburg selbst kehrte, da in ihrer Theorie durch die abnehmenden nicht-kapitalistischen Märkte die Profitrate ebenfalls dauernd fallen müßte. Da die ganze Diskussion um die Marxschen Reproduktionsschemata in den Originalarbeiten der Beteiligten verfolgt werden kann und uns nichts an den bestimmten, willkürlich gewählten Größenanordnungen der diesbezüglichen Marxschen Diagramme liegt, genügt es hier zu wiederholen: Marx versuchte zu zeigen, daß bei Beibehaltung bestimmter Austauschproportionen zwischen den Sphären der Produktion, die Produktions- oder Konsumtionsmittel herstellen, nicht nur deren konstantes und variables Kapital erneuert werden kann, sondern beide sich durch die Kapitalisierung des Mehrwerts zu vergrößern vermögen. Marx stellte diesen Prozeß zuerst als stationären Kreislauf dar, als einfache Reproduktion gegebener Zustände, und dann als Prozeß der Akkumulation, als erweiterte Reproduktion, in der die einfache Reproduktion als Teil des Gesamtprozesses eingebettet ist. Der stationäre Zustand schien allen an der Debatte Beteiligten gleichmäßig einleuchtend; erst bei der Betrachtung der erweiterten Reproduktion trennten sich die Geister. Denn mit der Einbeziehung der Akkumulation wird der Kreislauf zur „Spirale, die sich immer höher windet, wie unter dem Zwang eines mathematisch meßbaren Naturgesetzes“[112].
Nach Marx, führte Rosa Luxemburg aus, „vollzieht sich die Eweiterung der Reproduktion unter strenger Einhaltung der Zirkulationsgesetze: die gegenseitige Versorgung der beiden Abteilungen der Produktion mit zuschüssigen Produktionsmitteln und Lebensmitteln vollzieht sich als Austausch von Äquivalenten, als Warenaustausch, wobei die Akkumulation in der einen Abteilung gerade die Akkumulation der anderen ermöglicht und bedingt. Das komplizierte Problem der Akkumulation ist so in eine schematische Progression von erstaunlicher Einfachheit verwandelt“[113]. Eben deshalb wäre es notwendig, „aufzupassen, ob wir nicht deshalb zu so erstaunlich glatten Resultaten gelangen, weil wir immer bloß gewisse mathematische Übungen mit Addition und Subtraktion machen, die keine Überraschungen bieten können, und ob die Akkumulation nicht deshalb so ins unendliche störungslos verläuft, weil das Papier sich geduldig mit mathematischen Gleichungen beschreiben läßt“[114].
Vorerst beschäftigte sich Rosa Luxemburg jedoch sehr intensiv mit diesen Gleichungen, um festzustellen, daß Marx' Berechnungen nicht aufgingen, daß der Mehrwert innerhalb seines Modells nicht zu realisieren sei und damit den dargestellten Reproduktionsprozeß auf erweiterter Basis ausschließe. Otto Bauer machte sich dann an die Aufgabe, diesen Angriff auf Marx zurückzuweisen. Er stellte zuerst fest, daß jede Gesellschaft mit zunehmender Bevölkerung ihren Produktionsapparat zu erweitern habe, die Akkumulation also unumgänglich sei. „Von dem Mehrwert wird ein Teil in Kapital verwandelt, und zwar ein Teil des akkumulierten Mehrwerts zu variablen, ein anderer zum konstanten Kapital geschlagen. Die Kapitalisten vollziehen diese Akkumulation, um ihre Profit zu vermehren; aber die gesellschaftliche Wirkung diese Akkumulation ist, daß für den Bevölkerungszuwachs die notwendigen Konsumgüter und die notwendigen Produktions mittel bereitgestellt werden.“[115]
Während so die Kapitalisten, nach Bauer, trotz ihrer Eigennützigkeit ihr Kapital den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend vermehren, besteht durch den anarchischen Charakter der Produktion doch immer die Gefahr, daß die Akkumulation hinter dem Bevölkerungszuwachs zurückbleibt oder ihm voraneilt. So muß zuerst untersucht werden, „wie sich die Akkumulation des Kapitals vollziehen müßte, um im Gleichgewicht mit dem Bevölkerungswachstum zu bleiben“[116]. Unter verschiedenen Annahmen, wie der eines fünfprozentigen jährlichen Wachstums der Bevölkerung und damit des variablen Kapitals, einer zehnprozentigen Zunahme des konstanten Kapitals und der vorläufigen Annahme einer unveränderten Mehrwertrate stellt Bauer eine Reihe von Tabellen auf, die darauf hinweisen, daß bei fortschreitender organischer Zusammensetzung des Kapitals die Akkumulationsrate von Jahr zu Jahr steigen muß, um das Gleichgewicht zwischen Akkumulation und Bevölkerung einzuhalten.
Soweit bezog sich Bauer auf das Gesamtkapital, um dann auf die beiden Abteilungen der Produktion einzugehen. Die höhere organische Zusammensetzung des Kapitals impliziert die Übertragung eines Teils des in der Konsumtionsmittelproduktion akkumulierten Mehrwerts in die Abteilung der Produktionsmittelerzeugung. Dem steht Bauers Meinung nach nichts im Wege, da es sich aus den Produktionsnotwendigkeiten und den Austauschverhältnissen von selbst ergibt. Die Willkürlichkeiten, die Rosa Luxemburg an den Marxschen Schemata bemängelte, werden von Bauer nicht verneint; aber da der Marxsche Gedankengang trotzdem richtig war, mit einem besseren Schema zu beantworten versucht. Willkürlich bleiben in seinem eigenen Schema nur die Voraussetzungen, die den Ausgangspunkt der Akkumulation bilden; nimmt man diese an, dann folgen aus ihnen alle in ihnen dargestellten Größen mit mathematischer Notwendigkeit. Das uns hier allein interessierende Ergebnis erschließt, daß sich die gesamte Warenmasse beider Abteilungen absetzen und realisieren lassen. Bauer fragt sich nun, wie Rosa Luxemburg zu einer gegenteiligen Meinung kommen konnte, und glaubt sie auf ein Mißverständnis zurückführen zu können. Sie habe angenommen, daß, wie im Schema vorgesehen, der akkumulierte Mehrwert Jahr für Jahr realisiert werden müsse. Das war jedoch nur eine methodisch bestimmte vereinfachende Annahme, während in der Wirklichkeit der in einem Jahr erzeugte Mehrwert sich über eine vieljährige Periode realisieren könne. Die Unrealisierbarkeit eines Teils des Mehrwerts sei „nur eine vorübergehende Phase in dem gesamten sich über viele Jahre erstreckenden Kreislauf“[117]. Hat man dies eingesehen und hält sich an sein Schema, dann ergibt sich ein harmonischer Akkumulationsprozeß. „Die Konsumtionskraft der Arbeiter wächst eben so schnell wie ihre Zahl. Die Konsumtionskraft der Kapitalisten wächst ebenso schnell, da mit der Zahl der Arbeiter auch die Mehrwertmasse wächst. Die Konsumtionskraft der ganzen Gesellschaft wächst also so schnell wie das Wertprodukt. Die Akkumulation ändert daran nichts; sie bedeutet nur, daß weniger Konsumtionsgüter, mehr Produktionsmittel erheischt werden, als bei einfacher Reproduktion. Die Erweiterung des Produktionsfeldes, die eine Voraussetzung der Akkumulation bildet, ist hier durch das Wachstum der Bevölkerung gegeben.“[118]
Wie kann es unter diesen harmonischen Umständen zur Krise kommen? Der Gleichgewichtszustand zwischen Akkumulation und Bevölkerungszuwachs kann, nach Bauer, nur dann erhalten werden, „wenn die Akkumulationsrate so schnell steigt, daß trotz der steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals das variable Kapital ebenso schnell wächst wie die Bevölkerung“[119]. Anderenfalls tritt ein Zustand der Unterakkumulation ein. Aus ihm ergeben sich die Arbeitslosigkeit, der Druck auf die Löhne, aber auch ein Anziehen der Mehrwertrate. Steigt die Mehrwertrate, so wird — bei unveränderter Akkumulationsrate — auch der zu akkumulierende Mehrwertteil vergrößert. „Es wächst also auch die Mehrwertmasse, die zur Vergrößerung des variablen Kapitals verwendet wird. Ihre Vergrößerung auf diesem Wege muß sich so lange vollziehen, bis das Gleichgewicht zwischen dem Wachstum des variablen Kapitals und dem Wachstum der Bevölkerung wiederhergestellt ist.“[120] Damit wird die Unterakkumulation immer wieder aufgehoben, und die periodische Krise bildet eine vorübergehende Phase im industriellen Zyklus. Die Unterakkumulation ist die Kehrseite der von Marx beschriebenen Überakkumulation. „Prosperität ist Überakkumulation. Sie hebt sich selbst auf in der Krise. Die nun folgende Depression ist eine Zeit der Unterakkumulation. Sie hebt sich selbst auf, in dem die Depression aus sich heraus die Bedingungen der Wiederkehr der Prosperität erzeugt. Die periodische Wiederkehr der Prosperität, der Krise, der Depression, ist der empirische Ausdruck der Tatsache, daß der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise selbsttätig Überakkumulation und Unterakkumulation aufhebt, die Akkumulation des Kapitals immer wieder dem Wachstum der Bevölkerung anpaßt.“[121]
Rosa Luxemburg hatte noch Gelegenheit, ihren Kritikern zu antworten. Den Harmonietheoretikern hielt sie entgegen, daß bei Annahme schrankenloser kapitalistischer Akkumulation „dem Sozialismus der granitene Boden der objektiven historischen Notwendigkeit unter den Füßen schwindet. Wir verflüchten uns alsdann in den Nebel der vormarxistischen Systeme und Schulen, die den Sozialismus aus bloßer Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit der heutigen Welt und aus der bloßen revolutionären Entschlossenheit der arbeitenden Klasse ableiten wollten“[122]. Daß die objektive Notwendigkeit auch eine andere Begründung finden könnte, kam ihr nicht in den Sinn. So fand sie nichts an ihrer Theorie, das zu revidieren wäre. Trotz ihrer Einsicht, „daß mathematische Schemata in der Frage der Akkumulation überhaupt nichts beweisen“[123], hatte sie sich doch zu sehr in ihrer Interpretation der Marxschen Reproduktionsschemata verbissen, als daß sie ihrer Imperialismustheorie eine andere Basis hätte geben können. Ihr Hauptaugenmerk auf Bauers Kritik richtend, aber ohne sich auf seine tabellarischen Berechnungen einzulassen, wandte sich Rosa Luxemburg gegen dessen Bevölkerungstheorie, um sie als unsinnig zurückzuweisen. Sie steht hier völlig auf Marxschen Boden, für den es der Mechanismus der Produktion und Akkumulation ist, der die Zahl der beschäftigten Arbeiter den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals anpaßt, und nicht die Akkumulation an den Bevölkerungszuwachs. Sie weist auch die Bauersche Spekulation zurück, sie hätte die Marxschen Schemata auf Kalenderjahre bezogen, ohne allerdings näher auf die daraus erwachsenden Implikationen einzugehen. Sie weist auf die notwendige Unterscheidung der Realisierung des Mehrwerts der Einzelkapitale und der des Gesamtkapitals hin, ohne zu bemerken, daß sich der Gesamtmehrwert nur mittels der Mehrwertrealisierung der Einzelkapitale vollziehen läßt, da es ein tatsächlich existierendes Gesamtkapital nicht gibt, obwohl ohne Zweifel alle Kapitale zusammen das Gesamtkapital ausmachen. Sind die Marxschen Voraussetzungen der Reproduktionsschemata für sie eine „wissenschaftliche Fiktion“, so kann auch das Operieren mit dem Gesamtkapital und dem Gesamtmehrwert nur eine anderen Zwecken dienende, theoretische Annahme sein: ein Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit, nicht diese selbst.
Überhaupt ist sich Rosa Luxemburg nicht über die Funktion der Reproduktionsschemata klar geworden, was sich aus ihrer Annahme ergibt, daß diese die „wirkliche Tendenz der kapitalistischen Entwicklung vorwegnehmen“[124]. Marx nimmt an, schrieb sie, „jener Zustand der allgemeinen absoluten Herrschaft des Kapitalismus auf der ganzen Erde, jene äußerste Ausbildung des Weltmarkts und der Weltwirtschaft, auf die das Kapital und die ganze heutige ökonomische und politische Entwicklung tatsächlich hinsteuert, sei bereits erreicht“[125]. Wenn dem so wäre, dann würde das nicht für, sondern gegen Rosa Luxemburg sprechen, denn ohne Zweifel zeigen die Reproduktionsschemata, daß selbst unter ihren Bedingungen der Kreislauf des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter denkbar ist. Zudem kann, Rosa Luxemburg zufolge, dieser Zustand, den sich Marx vorgestellt haben soll, überhaupt nicht eintreten, da der Kapitalismus eben nicht auf dieser Basis existieren kann und Marx sich damit einen Zustand eingebildet hätte, der nie erreicht werden kann. In Wirklichkeit wollte Marx jedoch den „Reproduktionsprozeß in seiner Fundamentalform — worin alle verdunkelnden Zwischenschieber beseitigt sind — darstellen, um die falschen Ausflüchte loszuwerden, die den Schein ‘wissenschaftlicher’ Erklärung liefern, wenn der gesellschaftliche Reproduktionsprozeß sofort in seiner verwickelten konkreten Form zum Gegenstand der Analyse gemacht wird“[126]. Es handelte sich bei ihm also nicht um einen zukünftigen Zustand des Kapitalismus, sondern um die Erforschung der inneren, nicht an der Oberfläche auftretenden, fundamentalen Zusammenhänge der kapitalistischen Reproduktion. Hatte sich Rosa Luxemburg nicht auf Otto Bauers tabellarische Berechnungen eingelassen, so schenkte ihnen Henryk Grossmann um so größere Aufmerksamkeit. Grossmann lehnte Rosa Luxemburgs Theorie vollständig ab, aber auch Bauers Kritik. Seine eigene Interpretation der Marxschen Akkumulationstheorie geht von der Marxschen Wertlehre aus und behandelt das Akkumulations- als ein Verwertungsproblem, das sich aus der kapitalistischen Produktion ergibt, obwohl es im Zirkulationsprozeß in Erscheinung tritt. Aber er konnte es sich nicht versagen, auf die gesamte sich auf die Akkumulation beziehende Diskussion einzugehen und hier insbesondere auf den Bauerschen Beitrag. Grossmann betont, daß es Bauer gelungen ist, „ein Reproduktionsschema zu konstruieren, das [...] den formellen Anforderungen, die an eine solche schematische Konstruktion überhaupt gestellt werden können, tatsächlich entspricht und keinen der Mängel aufweist, die Rosa Luxemburg dem Marxschen Reproduktionsschema vorgeworfen hatte“[127]. Zwar ist die Bauersche Bevölkerungstheorie „eine rücksichtslose und offensichtliche Preisgabe der Marxschen Bevölkerungslehre“, aber „an und für sich hat das Bauersche Reproduktionsschema mit seiner Bevölkerungstheorie nichts zu tun, es ist mit ihr nicht notwendig verbunden“[128]. Sich völlig auf den Boden der Bauerschen Voraussetzungen stellend, setzt Grossmann das sich auf eine Zeit von vier Jahren beziehende Bauersche Schema bis zum 35. Jahre fort, um damit zu einem den Bauerschen Ergebnissen völlig entgegengesetzten Resultat zu gelangen.
Bauer wußte natürlich, daß die steigende organische Zusammensetzung des Kapitals eine fallende Profitrate impliziert, ein Vorgang, dem allerdings durch ein schnelleres Wachstum der Mehrwertrate begegnet werden kann. Nun aber bleibt in seinem Schema die Mehrwertrate konstant, anstatt mit der wachsenden organischen Zusammensetzung zuzunehmen, ein Widerspruch, auf den schon Rosa Luxemburg in ihrer Anti-Kritik[129] hingewiesen hat. Nach Bauer ließe sich dieser Widerspruch durch eine nachträgliche Einbeziehung der wachsenden Mehrwertrate aus dem Wege räumen, obwohl er selbst sich dieser Aufgabe nicht unterzog. So fällt in seinem Schema, in dem das konstante Kapital doppelt so schnell wie das variable wächst, auch die Profitrate. Aber dieser Fall steht dem Anwachsen des Kapitals und dem zunehmenden kapitalistischen Konsum vorerst nicht im Wege. Bei der Fortsetzung des Bauerschen Reproduktionsschemas durch Grossmann ergab sich notwendigerweise, daß an einem bestimmten Punkt der Akkumulation der Mehrwert nicht mehr ausreicht, um die Akkumulation unter den angenommenen Voraussetzungen fortzusetzen. Damit wurde das Bauersche Schema für Grossmann selbst ein zusätzlicher Beweis, daß dem System durch die ihm immanente Tendenz der fallenden Profitrate ein objektives Ende gesetzt ist.
Das Gesetz der fallenden Profitrate bezieht sich jedoch nicht auf die Reproduktionsschemata, seien es die von Marx oder Otto Bauer, sondern auf die steigende organische Zusammensetzung des Gesamtkapitals, unabhängig von den Austauschrelationen der beiden großen Abteilungen der Produktion. Krisen können sich nach Marx auch aus Disproportionalitäten des Produktions- und Zirkulationsprozesses ergeben, wie diese Disproportionalitäten auch wieder durch dieselben Krisen aufgehoben werden können, so daß sich der Reproduktionsprozeß als ein krisenloser Vorgang darstellen läßt, genauso, wie sich ein praktisch nie existierendes Gleichgewicht von Angebot und Machfrage vorstellen läßt. Die sich aus der Kapitalproduktion ergebenden Krisen können jedoch nicht durch sich selbst überwunden werden, sondern nur durch die Anpassung der Mehrwertproduktion an die Verwertungsbedürfnisse der veränderten Kapitalstruktur, nur durch die Vermehrung der Ausbeulung. Nur soweit sich in diesen Krisen die Verwertung des Kapitals wiederherstellen läßt, sind sie Voraussetzungen weiterer Akkumulation; soweit als sie sich lediglich auf die Disproportionalitäten des Systems beziehen, sind sie nur Ausdruck der kapitalistischen Anarchie, nicht der dieser Anarchie zugrundeliegenden Produktions- als Ausbeutungsverhältnisse, und finden ihre Lösungen im Umverteilen des Mehrwerts, nicht in zusätzlicher Mehrwertproduktion. Mit der aus den Produktionsverhältnissen und der Kapitalproduktion resultierenden Krise hat sich Otto Bauer nicht beschäftigt. Die auftauchenden Krisen waren für ihn Disproportionalitätskrisen, wenn auch nicht im Sinne Tugan-Baranowskys und Hilferdings, so doch aus der Disproportionalität zwischen Akkumulation und Bevölkerungszuwachs. Er wies dabei nach, das die Marxschen Reproduktionsschemata durchaus imstande sind, die Akkumulationsmöglichkeit eines ‘reinen’ Kapitalismus nachzuweisen. Grossmann stimmte ihm zu, zeigte aber gleichzeitig, daß das Krisenproblem damit nicht aus der Welt geschafft ist, sondern sich auch weiterhin als Verwertungsproblem der Akkumulation äußert. Da sich die ganze Krisendiskussion um die Marxschen Reproduktionsschemata bewegten, war es notwendig, auf diese selbst einzugehen. Und dies um so mehr, als die Beschäftigung mit der Reproduktionschemata den Eindruck erweckte, daß es sich hier um die wirkliche Marxsche Krisentheorie handele, während die sich aus der Akkumulation ergebende Zusammenbruchstheorie, wie sie im ersten Band des Kapital zu finden ist, als eine von Marx später fallengelassene Auffassung zu gelten habe. Damit konnte die Krise auf die Disproportionalität des Systems beschränkt bleiben und die Überzeugung erweckt werden, daß jede Krise durch die Wiederherstellung einer verlorenen Proportionalität überwindbare sei und vielleicht durch eine bessere Organisation des Systems ganz beseitigt werden könnte. So waren es wohl auch diese Ansichten, die Rosa Luxemburg veranlaßten, sich gegen die harmonistischen Auslegungen der Reproduktionsschemata zu wenden, um ihnen zuletzt jeden Erkenntniswert abzusprechen.
Für Grossmann ließen sich aus der Reproduktionsschemata keine sich auf die Wirklichkeit direkt beziehende Schlüsse ziehen. In der von Marx gefaßten Form wiesen sie weder auf ein ökonomisches Gleichgewicht noch Ungleichgewicht hin. Da sie sich nur mit der Wertseite des Reproduktionsprozesses beschäftigen, waren sie außerstande, „den realen Akkumulationsprozeß dem Werte und dem Gebrauchswerte nach darzustellen“[130]. Sie müßten im Lichte der Marxschen Annäherungs- oder Isolierungsmethode verstanden werden, die nachträglicher Modifikationen und Ergänzungen bedürfen, um der Realität zu entsprechen. Mit den Reproduktionsschemata „wollte Marx den Warenaustausch als notwendige Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise [...] zum Ausdruck bringen, er mußte so notwendig nicht einen Kapitalisten, sondern zunächst zwei unabhängige Warenproduzenten oder Produktionsgruppen schildern“[131], woraus sich die Zweiteilung der Reproduktionsschemata ergab. Aber das Reproduktionsschema „beansprucht nicht, für sich allein ein Abbild der konkreten kapitalistischen Wirklichkeit zu sein, es ist null ein Glied im Marxschen Annäherungsverfahren, das, zusammen mit den vereinfachenden Annahmen, die dem Schema zugrunde liegen, und den nachträglichen Modifikationen im Sinne einer progressiven Konkretisierung ein unzertrennliches Ganzes bildet“[132].
Dieses einzelne Glied in einem Annäherungsverfahren, das sich die Erfassung des Kapitals als Gesamtprozeß zur Aufgabe gemacht hat, war für Grossmann jedoch von besonderer Wichtigkeit, da es, seiner Ansicht nach, das bestimmende Element im Aufbauplan des Kapital bildete. Grossmann wies darauf hin, daß Marx seinen Aufbauplan im Jahre 1863 einer Änderung unterwarf, und hielt es für sehr wahrscheinlich, daß dies mit der zur selben Zeit von Marx gemachten Entdeckung des Reproduktionsschemas in Verbindung stände; und dies um so mehr, weil der „tatsächlich im endgültigen Aufbau des ‘Kapital’ befolgte methodologische Gesichtspunkt — die Gliederung des empirischen Stoffes nach den Funktionen, die das Kapital in seinem Kreislauf verrichtet“[133], solch einer Interpretation entgegenkommen würde.
Nun hatte Marx in den schon 1857 verfaßten Grundrissen — was Grossmann allerdings bei Abfassung seiner eigenen Arbeiten nicht wissen konnte — ein wenn auch schlichteres Reproduktionsschema[134] entworfen, das sich mit der Zirkulation zwischen den verschiedenen Produktionsabteilungen beschäftigt. So hatte die Konzeption der Reproduktionsschemata nicht auf die Entdeckung von 1863 zu warten, wenn diese möglicherweise auch für die endgültige Form der Schemata verantwortlich sein mag. Aber sie hat den Aufbauplan des Kapital nicht bestimmt. Wie dem auch sei, was hier an dieser Konzeption interessiert, ist, daß Marx schon an dieser Stelle die Austauschprobleme dem der Verwertung des Kapitals unterordnet. In diesem als einfache Reproduktion dargestellten Prozeß „auf einem gegebenen Standpunkt der Entwicklung der Produktivkräfte — (denn diese wird bestimmen das Verhältnis der notwendigen Arbeit zur Surplusarbeit) — findet ein fixes Verhältnis statt, worin sich teilt das Produkt in einem Teil — entsprechend Rohmaterial, Maschinerie, notwendige Arbeit, Surplusarbeit —, und schließlich die Surplusarbeit selbst in einen Teil, der der Konsumtion anheimfällt, und einen anderen, der wieder zu Kapital wird. Diese innere begriffliche Teilung des Kapitals erscheint beim Austausch so, daß bestimmte und beschränkte — wenn auch im Verlauf der Produktion stets wechselnde — Proportionen stattfinden für den Austausch der Kapitalisten untereinander. [...] Der Austausch an und für sich gibt diesen begrifflich gegeneinander bestimmten Momenten ein gleichgültiges Dasein; sie existieren unabhängig voneinander; ihre innere Notwendigkeit erscheint in der Krise, die ihrem gleichgültigen Schein gegeneinander ein Ende macht“[135].
Verwertung des Kapitals ist für Marx „Produktion neuer und größerer Werte“[136], so daß die Reproduktion des Kapitals nur als Akkumulation zu verstehen ist. Jede Revolution in den Produktivkräften verändert die Austauschrelationen, „deren Grundlage — auf dem Standpunkt des Kapitals und daher auch die Verwertung durch den Austausch — immer bleibt das Verhältnis der notwendigen zur Surplusarbeit, oder [. ..] der verschiedenen Momente der vergegenständlichten zur lebendigen Arbeit“[137]. Was immer sich daraus für den Austausch ergeben mag, er muß so stattfinden, „daß das Verhältnis der Surplusarbeit gegen die notwendige dasselbe bleibt — denn dies ist gleich dem Gleichbleiben der Verwertung des Kapitals“[138]. Die Krise tritt ein, „um das richtige Verhältnis zwischen notwendiger und Surplusarbeit, worauf alles in letzter Instanz beruht, wiederherzustellen“[139]. Der Austausch, führt Marx fort, „ändert nicht die inneren Bedingungen der Verwertung; aber er wirft sie nach außen; gibt ihnen selbständige Form gegeneinander, und läßt so die Einheit nur als innere Notwendigkeit existieren, die sich daher äußerlich gewaltsam in den Krisen äußert. Beides ist daher im Wesen des Kapitals gesetzt: sowohl die Entwertung des Kapitals durch den Produktionsprozeß, als auch die Aufhebung derselben und das Herstellen der Bedingungen für die Verwertung des Kapitals“[140]. Die Krise erscheint hier nicht als Resultat einer sich auf das Verhältnis von Produktion und Konsumtion beziehenden und verloren gegangenen Proportionalität, sondern als Zwangsmittel zur Wiederherstellung der ‘Proportionalität’ zwischen der notwendigen und der Mehrarbeit, die sich durch die verselbständigte, unkoordinierte Bewegung des Austauschs und der Produktion verloren hatte. Mit anderen Worten: der Produktions- und Zirkulationsprozeß, obwohl eine notwendige Einheit, ist aktuell keine Einheit und wird erst durch die Krise vorübergehend koordiniert. Diese Regulierung impliziert wesentlich nichts anderes, als die Wiederherstellung der Verwertung, was sich allerdings auch in Verlagerungen der Verhältnisse zwischen den Produktionssphären und in denen der Zirkulation äußern muß. Die Bewegungen im Gesamtprozeß des Kapitals sind damit durch die Bewegungen des Profits und der Akkumulation bestimmt. Die konkreten Formen, in denen sich diese Vorgänge vollziehen, können nach Marx erst bei der Einbeziehung der Konkurrenz und der Betrachtung des realen Kapitals entwickelt werden.
Die Überschriften der drei Bände des Kapital — der Produktionsprozeß, der Zirkulationsprozeß, der Gesamtprozeß — illustrieren seinen Aufbau. Der Gesamtprozeß, als Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozeß, entspricht dem realen kapitalistischen Reproduktionsprozeß. Er dient den separaten Ausführungen über Produktion und Zirkulation als Voraussetzung, womit schon gesagt ist, daß die auf der Wertanalyse basierenden Bände über den Produktions- und Zirkulationsprozeß sich auf Dinge beziehen, die in der Wirklichkeit andere Formen annehmen. Damit ist nicht gesagt, daß die Wertbetrachtung der Produktion oder der Wertaustausch der Zirkulation keine reelle Wirklichkeit haben. Sie haben sie, aber in abgewandelten Formen. So wie „das Kapital im Allgemeinen im Unterschied von den besonderen Kapitalien eine reelle Existenz“[141] hat, so hat auch der Wertaustausch, wie der Arbeitszeitwert der Ware, eine reelle Existenz, wenn sich diese auch nur als äußerlich unsichtbare innere Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Wirtschaft manifestieren können. Aber die Abwandlung des Werts in Preis macht den Wert nicht zur Fiktion, auch nicht ein sich auf Wertrelationen beziehendes Reproduktionsschema, da den in der Wirklichkeit auftretenden Produktionspreisen nichts anderes als Arbeitszeitwerte zugrundeliegen.
So ist es bei einer isolierten Betrachtung der Zirkulation nicht notwendig, auf die wirklichen Austauschverhältnisse der tatsächlichen Reproduktion einzugehen. Auch auf der abstrakten Basis der Reproduktionsschemata ist der Reproduktionsprozeß ein Vorgang, der eine bestimmte Proportionalität der Austauschbeziehungen erheischt. Um diese darzustellen, entwarf Marx die Reproduktionsschemata, die keinen weiteren Anspruch auf Realität erheben, als den der Verbildlichung eines Vorganges, der sich auch in der aktuellen Reproduktion, wenn auch in anderen Formen, vollziehen muß. Da die Akkumulation nur vor sich gehen kann durch ein proportional adäquates Verhältnis der Mehrheit zur Arbeit schlechthin, muß sich dieses Verhältnis auch in den proportionalen Verhältnissen zwischen den beiden Produktionssphären und deren Austauschrelationen zeigen. Wo diese Proportionalität nicht vorhanden ist, wird die Krise eintreten, um die einer weiteren Akkumulation entsprechende Proportionalität herbeizuführen. Will man die notwendige Proportionalität zwischen Profit und Akkumulation als ‘Gleichgewicht’ bezeichnen — was es allerdings nicht ist —, dann kann man das Fehlen dieser Proportionalität als ‘Ungleichgewicht’ betrachten. In beiden Fällen handelt es sich um nichts weiter, als eine der Akkumulation gegenüber entweder zureichende oder unzureichende Ausbeutungsrate. Wenn Grossmann darauf hinwies, daß die Reproduktionsschemata nicht imstande sind, „den realen Akkumulationsprozeß dem Werte und dem Gebrauchswerte nach darzustellen“, so ist dazu zunächst zu sagen, daß sich Marx hier nicht bemühte, den „realen Akkumulationsprozeß’ aufzuzeigen, und weiterhin, daß sich seine Schemata dennoch auf Werte wie auch auf Gebrauchswerte beziehen. Es war ja gerade die Funktion der Schemata, darauf hinzuweisen, daß bei Betrachtung der Einzelkapitale „die Naturalform des Warenprodukts für die Analyse ganz gleichgültig war, (daß aber) diese nur formelle Manier nicht mehr genügt bei Betrachtung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und seines Produktenwerts. Die Rückverwandlung eines Teils des Produktwerts in Kapital, das Eingehen eines anderen Teils in die individuelle Konsumtion der Kapitalisten — wie der Arbeiterklasse — bildet eine Bewegung innerhalb des Produktenwerts selbst, worin das Gesamtkapital resultiert hat; und diese Bewegung ist nicht nur Wertersatz, sondern Stoffersatz, und ist daher ebensosehr bedingt durch das gegenseitige Verhältnis der Wertbestandteile des gesellschaftlichen Produkts wie durch ihren Gebrauchswert, ihre stoffliche Gestalt“[142].
Die Wertanalyse der Produktion war für Marx die unerläßliche Voraussetzung zum Verständnis des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze, obwohl nicht der Wert, sondern die Produktionspreise den Markt beherrschen und diese erst wieder in der vorstellbaren Betrachtung des Gesamtkapitals mit den Werten zusammenfallen. Im selben Sinn war die Wertanalyse des Zirkulationsprozesses die rationelle Voraussetzung zum Verständnis der kapitalistischen Reproduktion, obwohl sich auch hier nur Produktionspreise austauschen und sich erst diese auf den Gebrauchswert der Waren beziehen. Was Marx klarzumachen versuchte, war, daß unabhängig von den aus den Marktrelationen erwachsenden Modifikationen der Wertverhältnisse diese selbst schon den Keim der Krise in sich tragen, daß selbst bei Annahme des Wertaustauschs, der zugleich Tausch von Gebrauchswerten ist, die Reproduktion des Kapitals ein von Krisen durchsetzter Prozeß ist. „Die Tatsache, daß die Warenproduktion die allgemeine Form der kapitalistischen Produktion ist, schließt bereits die Rolle ein, die das Geld, nicht nur als Zirkulationsmittel, sondern als Geldkapital in derselben spielt, und erzeugt gewisse, dieser Produktionsweise eigentümliche Bedingungen des normalen Umsatzes, also des normalen Verlaufs der Reproduktion, sei es auf einfacher, sei es auf erweiterter Stufenleiter, die in ebenso viele Bedingungen des anormalen Verlaufs, Möglichkeiten der Krisen umschlagen, da das Gleichgewicht — bei der naturwüchsigen Gestaltung dieser Produktion — selbst ein Zufall ist.“[143]
Marx zeigte dann, wie schon das scheinbare Gleichgewicht der einfachen Reproduktion durch den Doppelcharakter der Ware als Wert und Gebrauchswert zum Ungleichgewicht wird. So ergeben sich z. B. in bezug auf den Verschleiß und Ersatz des fixen Kapitals[144] Verschiebungen in den wertmäßigen Austauschbedingungen, die die Voraussetzungen einer gleichgewichtigen Reproduktion durchbrechen. Ohne auf Marx' Beispiele der auftauchenden Disproportionalität der einfachen Reproduktion näher einzugehen, sei hier nur betont, daß sie sich ausschließlich auf die kapitalistische Reproduktion beziehen. „Ist die kapitalistische Form der Reproduktion einmal beseitigt“, faßt Marx zusammen, „so kommt die Sache darauf hinaus, daß die Größe des absterbenden und daher in natura zu ersetzenden Teils des fixen Kapitals [...] in verschiedenen sukzessiven Jahren wechselt. Ist er in einem Jahr groß [...], so im folgenden sicher um so geringer. Die zur jährlichen Produktion der Konsumtionsmittel nötige Masse von Rohstoffen, Halbfabrikaten und Hilfsstoffen [...] nimmt deswegen nicht ab; die Gesamtproduktion der Produktionsmittel müßte also in einem Fall zunehmen, im anderen abnehmen. Diesem kann nur abgeholfen werden durch fortwährende relative Überproduktion; einerseits ein gewisses Quantum fixes Kapital, das mehr produziert wird, als direkt nötig ist, andererseits und namentlich Vorrat an Rohstoff etc., der über die unmittelbaren jährlichen Bedürfnisse hinausgeht [...] Solche Art Überproduktion ist gleich mit der Kontrolle der Gesellschaft über die gegenständlichen Mittel ihrer eigenen Reproduktion. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aber ist sie ein anarchisches Element.“[145]
So handelt es sich bei den Schemata der einfachen und erweiterten Reproduktion nicht um den Nachweis eines reibungslosen Austauschs, der beide Sphären der Produktion ins Gleichgewicht bringt, sondern um die Aufstellung einer solchen Annahme und des gleichzeitigen Nachweises, daß sie sich weder im Kapitalismus noch in einer sozialistischen Gesellschaft realisieren läßt. Während in der letzteren jedoch eine notwendige Überproduktion der Sicherung gesellschaftlicher Bedürfnisse zugute kommt und dies als normaler Verlauf der Dinge anzusehen ist, stellt dieselbe Situation im Kapitalismus, wo sie sich als Überschuß oder Defizit der Reproduktion darzustellen hat, ein Problem dar, das sich in Desorganisation und Krisen äußern muß. Es ist Marx nicht eingefallen, daß sich aus seinen Reproduktionsschemata ein harmonischer Ablauf kapitalistischer Akkumulation herauslesen ließ, schon deshalb nicht, weil ihnen der erste Band des Kapital voranging, der unzweideutig auf den kapitalistischen Zusammenbruch hinwies.
Vielleicht wäre es, um allen harmonistischen Interpretationen vorzubeugen, doch besser gewesen, dem Zirkulationsprozeß nicht auf der Basis des Wertaustauschs nachzugehen, da die Rechnung mit Werten das Gesamtkapital zur Voraussetzung hat. Grossmanns Begründung der Notwendigkeit der Reproduktionsschemata durch den Umstand, daß der Warenaustausch zumindest zwei tauschende Körperschaften beansprucht, kann nicht überzeugen, da diese selbstverständliche Tatsache nicht nachgewiesen zu werden braucht und weil sich der aktuelle Tausch nie auf Werte, sondern stets auf Preise bezieht, womit sich die Zweiteilung des Systems auch ohne vorherige Wertbetrachtung auf Basis der Produktionspreise darstellen ließe. Nun bezogen sich Rosa Luxemburgs Einwendungen auf die Marxschen Reproduktionsschemata als Wertrelationen, und sie wies an diesen nach, daß das von Marx angenommene Gleichgewicht nicht eingehalten werden kann; was Marx ebenfalls, wenn auch mit anderen Argumenten, ausgeführt hatte. Grossmann belehrte dann Rosa Luxemburg, daß das fehlende Gleichgewicht der Reproduktionsschemata verschwinden würde, sobald deren Transformation von Werten in Preise vollzogen sei. Daß also der von ihr entdeckte und innerhalb des Systems nicht absetzbare Mehrwertteil (durch die sich mittels der Konkurrenz bildende Durchschnittsprofitrate und die von ihr bewerkstelligten Verteilung des Gesamtmehrwerts) völlig in das System eingehen könnte. Mit anderen Worten: daß das Ungleichgewicht in dem auf Werten beruhenden Reproduktionsschema in einem auf Produktionspreisen basierenden Reproduktionsschema zum Gleichgewicht führen würde.
Nichtsdestoweniger stellte Marx, nach Grossmann, „in seinem Reproduktionsschema die Mittellinie der Akkumulation dar, also den idealen Normalverlauf, wo die Akkumulation in beiden Produktionssphären gleichmäßig stattfindet. In Wirklichkeit finden von dieser Mittellinie Abweichungen statt — aber diese Abweichungen sind erst auf Basis jener idealen Durchschnittslinie verständlich. Der Irrtum Rosa Luxemburgs besteht eben darin, daß sie als exakte Darstellung des wirklichen Verlaufs das betrachtet, was bloß einen idealen Normalverlauf unter vielen möglichen Fällen darstellen soll“[146]. Bei dieser Erklärung sind wir jedoch wieder bei den Theorien Tugan-Baranowskys, Hilferdings und Otto Bauers angelangt, die sich ja auch nur auf einen ‘idealen Normalverlauf’ bezogen, der in Wirklichkeit von allen möglichen Disproportionalitäten oder ‘Abweichungen’ von der ‘Mittellinie’ durchbrochen wird. Auch bei ihnen handelt es sich nur um einen theoretisch denkbaren ‘Normalverlauf’ der Akkumulation, in dem die ‘Abweichungen’ von der ‘Mittellinie’ stets zu ihr zurückführen, so daß sich das Gleichgewicht als Tendenz durchsetzt und damit zur Annahme berechtigt, daß dem System keine objektiven Grenzen gesetzt sind. So führte der Versuch Grossmanns, dem Luxemburgischen Ungleichgewicht ein Marxsches Gleichgewicht entgegenzusetzen (einmal als ‘Mittellinie’ der fiktiven wertmäßigen Reproduktion und dann auch als Auflösung des Ungleichgewichts mittels der Wert-Preis-Transformation durch die Konkurrenz) zu dem völlig unnötigen Zugeständnis, daß die Reproduktionsschemata, in der einen oder anderen Form, den reibungslosen Austausch zwischen den Produktionssphären gewährleisten.
Für Marx ergaben sich die wesentlichen kapitalistischen Schwierigkeiten nicht aus den Austauschrelationen der verschiedenen Kapitale, obwohl diese auch existieren, sondern aus den als Tauschverhältnisse auftretenden Produktionsverhältnissen. Die Realisierung des Mehrwerts ist ein Problem des Kapitals, das es für sich selbst zu lösen hat, und das Ergebnis des ihm zugrundeliegenden Ausbeutungsverhältnisses in der Produktion. Könnte das Kapital den Mehrwert nicht realisieren, so könnte es auch nicht existieren, da es selbst nur Mehrwert darstellt. Die bloße Existenz des Kapitals beweist, daß es imstande ist, den Mehrwert in Kapital zu verwandeln. Die zunehmende Akkumulation erbringt den Nachweis, daß es imstande ist, eine zunehmende Mehrwertmasse zu realisieren. Die Realisierung des Mehrwerts hat mit den Arbeitern überhaupt nichts zu tun, da diese beides, ihren eigenen Wert und den Mehrwert, produzieren und ihren eigenen Wert in ihrer Konsumtion realisieren. Der Mehrwert realisiert sich in der Akkumulation und der kapitalistischen Konsumtion, zu der auch die unproduktiven Kosten der Gesellschaft zu rechnen sind.
Worauf es Rosa Luxemburg ankam, war nicht so sehr die Realisierung des Mehrwerts selbst, die nicht bezweifelt werden konnte, sondern der Mechanismus, durch den sie sich vollzog. Dieser Mechanismus war nicht aus den Reproduktionschemata ersichtlich, da er schon von der Annahme ausging, daß der Mehrwert seine Realisierung in der Zirkulation des Kapitals findet. Nun hätte Marx auch ein Reproduktionschema entwerfen können, in dem das nicht der Fall ist; was aber sinnlos gewesen wäre, da die Akkumulation des Kapitals, theoretisch wie praktisch, die Mehrwertrealisierung voraussetzt. Diese Voraussetzung innerhalb eines geschlossenen Systems hielt Rosa Luxemburg für falsch, auch ganz abgesehen von den Reproduktionsschemata, da sie sich nicht vorstellen konnte, wie sich die Verwandlung des zu akkumulierenden Mehrwerts in Geld bewerkstelligen ließe. Sie war sich darüber klar, daß der auswärtige Handel zwischen kapitalistischen Nationen hier keine Antwort gab, sondern das Problem nur auf eine weitere Ebene setzte. Es mußten Käufer vorhanden sein, die selbst nichts verkaufen, sondern den in den kapitalistischen Ländern in Warenform erzeugten Mehrwert gegen Geld eintauschen. Wo diese das dazu benötigte Geld hernehmen, wird von ihr nicht klargestellt, muß sich aber aus den nicht-kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen ergeben, die folgerichtig ergebnisreich genug sein müssen, um den ganzen in den kapitalistischen Ländern und für deren Akkumulation bestimmten Mehrwertteil aufzunehmen. So hängt die Produktion des Mehrwerts wohl von der Ausbeutung der Arbeiter in den kapitalistischen Ländern ab, ohne jedoch deren Akkumulation zu gewährleisten; womit schließlich die Akkumulation des Kapitals die Ausbeutung nichtkapitalistischer Länder zur Bedingung hat. Diese phantastische Vorstellung besagt, daß das gesamte akkumulierte Kapital der kapitalistischen Welt erst durch die Ausbeutung der nicht-kapitalistischen Welt ermöglicht wurde, daß die letztere einen der kapitalistischen Akkumulation adäquaten Warenwert aufnehmen muß, damit er als realisierter Wert, als Geld, in die kapitalistische Akkumulation eingehen kann. Wäre dies möglich, was nicht der Fall ist, dann wäre damit auch nur gesagt, was für den Außenhandel im allgemeinen gilt, nämlich, daß die Einbeziehung „des auswärtigen Handels bei Analyse des jährlich reproduzierten Produktenwerts nur verwirren (kann), ohne irgendein neues Moment, sei es als Problem, sei es seiner Lösung zu liefern“[147]. Auch das Geld ist Ware, und der Warenaustausch gegen Geld, ob nur im kapitalistischen Raum oder auf dem Weltmarkt, bleibt Warenaustausch, in dem die Geldform der Ware nur eine Phase des Zirkulationsprozesses ist.
Auch für Marx gab es ein Realisierungsproblem. Aber hier handelt es sich um ein der kapitalistischen Welt angehöriges Problem, das auch nicht durch die Existenz nicht-kapitalistischer Länder beseitigt werden kann. Die Anarchie innerhalb der kapitalistischen Produktion und Akkumulation schließt dauernd die Realisierung eines Teils des produzierten Mehrwerts aus, wodurch sich der realisierte Mehrwert stets von dem produzierten unterscheidet. Ob innerhalb der Marktverhältnisse Waren über- oder unterproduziert werden, stellt sich erst nachträglich, nach deren Produktion, heraus. Der in den unverkäuflichen Waren steckende Wert und Mehrwert geht verloren und kann nicht kapitalisiert werden. Wenn die auf Expansion gerichtete Produktion einen Punkt erreicht, der ihre Verwertung in Frage stellt, hört sie auf sich auszudehnen und ergibt damit eine unverkäufliche Warenmenge, deren Wert nicht mittels der Akkumulation und damit überhaupt nicht realisiert werden kann. So stellt sich das Aussetzen der Akkumulation als ein Realisierungsproblem dar, und darum handelt es sich tatsächlich, da Waren nicht verkauft werden können. Die Überproduktion, als Markterscheinung der Überakkumulation des Kapitals, wird erst durch die sich vermehrenden Realisierungsschwierigkeiten wahrgenommen und so auf diese zurückgeführt, obwohl sie ihren eigentlichen Grund in der nicht wahrnehmbaren zunehmenden Divergenz zwischen Produktion und Verwertung findet. So existiert für Marx das Realisierungsproblem in zweifacher Weise; einmal als allgegenwärtiger Ausdruck der kapitalistischen Anarchie, das anderemal als Krisenproblem, als die an die Oberfläche der Markterscheinung tretende Divergenz zwischen dem produzierten Profit und den Mehrwertansprüchen einer erweiterten Akkumulation.
Die Akkumulation des Kapitals hängt damit nicht von der Realisierung des Mehrwerts ab, sondern die Realisierung des Mehrwerts von der Akkumulation des Kapitals. Damit ist der Mechanismus des Realisierungsprozesses noch nicht aufgedeckt. Für jedes Einzelkapital muß die aus dem Verkauf seiner Waren resultierende Geldsumme größer sein als die Summe seines vorgeschossenen Kapitals. Auch für den in Geld ausgedrückten Gesamtmehrwert des Gesamtkapitals muß die Akkumulation einen in Geld ausdrückbaren größeren Wert ergeben. Wo kommt dieses zusätzliche Geld her? Marx sah hier kein Problem, sondern fand eine vorläufige, aber für den Zweck der abstrakten Analyse des Zirkulationsprozesses völlig ausreichende Antwort in der Goldproduktion und dem Kredit. Erst bei Behandlung der konkreten Marktverhältnisse wäre es seiner Ansicht nach nötig, näher auf die weitere Entwicklung der Geldfunktion im Zirkulationsprozeß des Mehrwerts einzugehen.[148]
In den schon angeführten Antworten Bucharins und Otto Bauers auf Rosa Luxemburgs Frage, wo das Geld für die Verwandlung der Warenwerte in zusätzliches Kapital herkäme, waren Marx' Antworten auf diese Frage schon gegeben. Darüber hinaus war dieses Problem für Marx nicht so sehr eine Frage nach der Möglichkeit einer ausreichenden und sich dauernd vermehrenden Goldproduktion als Geldvermehrung, sondern, umgekehrt, für das Kapital wäre es wichtig, die Goldproduktion als Geldproduktion so weit wie möglich einzuschränken, um die Akkumulation zu fördern. Er schrieb: „Die ganze Summe der Arbeitskraft und der gesellschaftlichem Produktionsmittel, die in der jährlichen Produktion von Gold und Silber als Instrument der Zirkulation verausgabt wird, bildet einen schweren Posten der faux frais der kapitalistischen, überhaupt der auf Warenproduktion gegründeten Produktionsweise. Sie entzieht der gesellschaftlichen Ausnutzung eine entsprechende Summe möglicher, zuschüssiger Mittel der Produktion und Konsumtion, d. h. des wirklichen Reichtums. Soweit bei gleichbleibender gegebener Stufenleiter der Produktion, oder bei gegebenen Grad ihrer Ausdehnung, die Kosten dieser teuren Zirkulationsmaschinerie vermindert wer den, so weit wird dadurch die Produktivkraft der gesellschaftliehen Arbeit gesteigert. Soweit also die mit dem Kreditwesen sich entwickelnden Aushilfemittel diese Wirkung haben, vermehren sie direkt den kapitalistischen Reichtum, sei es, daß ein großer Teil des gesellschaftlichen Produktions- und Arbeitsprozesses dadurch ohne alle Interventionen von wirklichem Geld vollzogen, sei es, daß die Funktionsfähigkeit des wirklich fungierenden Geldmasse gesteigert wird.“[149]
Als Zirkulationsmittel erschien das Warengeld in Gold und Silber eine kostspielige und unnötige Ausgabe. So hat sich das Kapital von jeher bemüht, Warengeld durch symbolische Geldmittel zu ersetzen. Das Warengeld verlor mit der Entwicklung der Banken und des Kreditwesens seine frühere Bedeutung. Da im Begriff der Ware der des Geldes schon eingeschlossen ist, war die Goldwährung eine historische, aber nicht notwendige Erscheinung der Warenzirkulation. Da alle Waren potentiell Geld darstellen und Geld über alle Waren verfügt kann im nationalen Rahmen, und jüngstens auch zunehmend im internationalen Rahmen, jede Art Zahlungsmittel als Austauschmittel dienen. Die Geldschöpfung vollzieht sich über das Banksystem. Die Kreditgewährung der Banken ist von den staatlichen Gelderzeugung — durch Notenausgabe und Schatzanweisungen — und den staatlich festgelegten, aber variierend den Reservebestimmungen in bezug auf Depositeneinlageabhängig. Findet der Kredit nur eine teilweise Deckung in den Bankreserven, so ist er doch im allgemeinen durch den Kapitalbesitz der Kreditnehmer gesichert. Wo kein Kapitaläquivalent vorhanden ist, da gibt es auch keinen Kredit, der sich damit nicht auf das vorhandene Geld, sondern auf das vorhandene Kapital bezieht.
Im Zirkulationsprozeß nimmt das akkumulierte Kapital einmal die Form der Ware und ein andermal die des Geldes an. Produktionsmittel und Waren lassen sich in Geld verwandeln, wie auch umgekehrt, so daß sich der Kapitalbesitz als Geldbesitz ausdrücken kann. Obwohl der Kapitalbegriff Geld vorstellt, schließt er doch alle Waren in sich ein, wobei eine jede die Fähigkeit hat, den Platz des Geldes einzunehmen. Obwohl die auf den Markt geworfenen Warenmengen in Geld umgesetzt werden müssen, sie aber nur einen Teil des existierenden Kapitals verkörpern, braucht auch nur ein Teil des Kapitalbesitzes die Geldform anzunehmen. Im allgemeinen werden die notwendigen Geldmittel von den in die Zirkulation eingehenden Warenpreisen und von der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes bestimmt, modifiziert durch sich gegeneinander aufhebende oder in einen späteren Zeitraum verlegte Zahlungen.
Abgesehen davon, daß sich Geld in Form von Warengeld seit Jahrhunderten aufgehäuft hat und sich durch die fortgesetzte Produktion von Edelmetallen auch weiterhin vermehrt und damit direkt gegen andere Waren ausgetauscht werden kann, hat sich die kapitalistische Akkumulation durch den auf das schon akkumulierte Kapital basierenden Kreditmechanismus von diesen Beschränkungen frei gemacht. Die Verwandlung des Mehrwerts in zusätzliches Kapital kann ohne zusätzliches Warengeld bewältigt werden und das akkumulierte Kapital in seiner Warenform als akkumuliertes Kapital erscheinen. Dem dazu benötigten Kreditgeld steht keine aktuelle Ware gegenüber; es ist die 'symbolische Form’ eines aktuell nicht existierenden zusätzlichen Geldes, die aber genügt, um die Verwandlung der Warenwerte in zusätzliches Kapital herbeizuführen: zusätzliches Kapital, das wiederum die weitere Kreditausdehnung bestimmt. So ist es die Akkumulation des Kapitals selbst, die das Problem des notwendigen zusätzliches Geldes löst und die Realisierungsschwierigkeiten mittels der Finanztechnik aus dem Wege räumt. Damit Geld als Kapital wirken kann, muß es zuerst aufhören Geld zu sein, d. h. es muß in Produktionsmitteln und Arbeitskräften angelegt werden. Die Verwandlung des Mehrwerts in Geld ist nur eine durch den Markt gegebene Stufe seiner Verwandlung in zusätzliches Kapital. Es ist völlig gleichgültig, ob dies durch Warengeld oder symbolisches Geld geschieht. Das letztere kann jedoch nach Belieben vermehrt und den Ansprüchen der Akkumulation angepaßt werden. Es dehnt sich aus, mit der Ausdehnung des akkumulierenden Kapitals, und findet in diesem seine Begrenzung. Damit sind wir wieder an den Punkt angelangt, der Rosa Luxemburg so unwahrscheinlich erschien, nämlich der Produktion um der Produktion willen, und die sie weiterhin in einem geschlossenen System für undurchführbar hielt, da sie keinen Aufschluß über das dazu benötigte zusätzliche Geld gab.
Kann das Kapital seinen Mehrwert durch die Akkumulation realisieren, dann stellen sich die größer gewordenen Kapitale als angewachsenes Geldkapital dar und werden als solches ausgedrückt. Die Akkumulation hängt aber nicht vom Geld oder Kredit ab, sondern von der Profitabilität. Senken sich die Profite und damit die Akkumulationsrate, dann fällt mit der Gesamtnachfrage auch die nach Kredit. Der Mangel an Nachfrage erscheint als Geldmangel und die Krise in der Produktion auch als finanzielle Krise. Es schien Marx deshalb wichtig, „zunächst die metallische Zirkulation in ihrer einfachsten, ursprünglichsten Form vorauszusetzen, weil sich damit Fluß und Rückfluß, Ausgleichung von Bilanzen, kurz alle Momente, die im Kreditsystem als bewußt geregelte Verläufe erscheinen, als unabhängig vom Kreditsystem vorhanden darstellen, die Sache in naturwüchsiger Form erscheint, statt in der späteren reflektierten“[150].
Zudem waren die Erweiterung der Produktion und die Bildung neuer Geldkapitale zur Zeit der Niederschrift des Kapital durch ein Kreditsystem gefördert, „dessen Basis die Metallzirkulation“[151] war, ein Zustand, der der modernen Kreditschöpfung nicht mehr entspricht. Aber die Herausbildung stets neuer Methoden zur Realisierung des Mehrwerts in zusätzliches Kapital ist nur von historischem Interesse und besagt, daß die zunehmende Wucht des akkumulierenden Kapitals zu immer neuen Mitteln der Mehrwertrealisierung führt. Das Kreditsystem auf Basis der Metallzirkulation erfüllt keine andere Funktion, als die Kreditschöpfung ohne diese Basis. In beiden Fällen ist sie von der Bewegung des Kapitals bestimmt. Sie kann sich nicht verselbständigen, da sie sich stets nur auf die ihr zugrundeliegenden aktuellen Vorgänge der gesellschaftlichen Produktion beziehen kann. Wie das Geld kann auch der Kredit nichts erzeugen, er kann nur vermitteln, daß der in der Produktion gewonnene Mehrwert seinen Weg in die Akkumulation findet. Ist der tatsächliche Mehrwert nicht ausreichend, um kapitalisiert und zugleich verwertet werden zu können, so kann auch der Kredit daran nichts ändern, und er versagt als vermittelndes Instrument der Kapitalakkumulation.
Die Akkumulation um der Akkumulation willen, d. h. ohne Rücksicht auf tatsächliche gesellschaftliche Bedürfnisse und ohne Rücksicht auf die Verwertungsnotwendigkeiten des Kapitals selbst, ist eben das Charakteristische der Mehrwertproduktion und nichts, was Verwunderung erregen sollte. Die Konkurrenz auf Basis der Wertproduktion zwingt jedes Kapital aus Selbsterhaltungsgründen zur Akkumulation. Es muß wachsen oder untergehen, und das Gesamtergebnis all dieser Bestrebungen sind das Wachstum des Gesamtkapitals und die sich daraus ergebenden Wandlungen der Wertrelationen, die den Fall der Profitrate mit sich bringen, sobald der blinde Akkumulationszwang über die aktuelle Produktivität der Arbeit hinausschießt.
Wenn der Mehrwert nicht hinreicht, um den Akkumulationsprozeß profitlich weiterzuführen, kann er auch nicht durch die Akkumulation realisiert werden; er wird zum unrealisierten Mehrwert der Überproduktion. Wo kein Mehrwert existiert, der sich in zusätzliches Kapital verwandeln läßt, da können auch kein zusätzliches Geld und kein Kredit Mehrwert in Kapital verwandeln. Um nicht in diesen Krisenzustand zu geraten, muß das Kapital ununterbrochen akkumulieren, was aber nur möglich ist bei einem gleichzeitigen der Akkumulation angepaßten dauernden Zuwachs der Arbeitsproduktivität, die die Tendenz der fallenden Profitrate latent hält. Daß diese Koordinierung der materiellen Produktion mit den wertmäßigen Ansprüchen der Kapitalakkumulation dem Kapital versagt ist, zeigt sich in den Krisen, die die äußerlich verlorengegangenen inneren Zusammenhänge der Kapitalproduktion wieder herzustellen haben, um eine weitere Expansion des Kapitals möglich zu machen.
Das für die kapitalistische Produktion entscheidende Moment ist der Mehrwert. Durch die Tendenz der fallenden Profitrate kann er zu klein, aber nicht zu groß werden. Dies gilt nicht nur für die Gesamtgesellschaft, sondern auch für jedes einzelne Kapital. Die kapitalistische Produktion dient so dauernd der Mehrwertvergrößerung und sichert sich dadurch ihre Existenz. Für das Kapital stellt sich der wachsende Mehrwert als stets unzureichend dar, ganz gleich, welche Größe er erreichen mag. Wird dem Kapital in einer Branche der Produktion vom Markt eine Grenze gesetzt, so siedelt es in andere oder sich neubildende Branchen der Produktion über, bis diese ebenfalls auf ihre Marktgrenzen stoßen. So ändert sich im Laufe der Akkumulation die materielle Seite der Marktrelationen — als Ausdruck der sich ausdehnenden Produktivkräfte der Gesellschaft und der Herausbildung neuer Bedürfnisse und deren Anwendung in größeren Ausmaß und auf weitergreifende Gebiete. Der materielle Reichtum wächst auch bei wertmäßiger Entfaltung der Akkumulation. Der Konsum der Kapitalisten kann sich enorm entfalten, die Masse der unproduktiven Schichten der Gesellschaft zunehmen, und selbst die Arbeiter können ihre Lage durch den wertmäßigen Fall der Gebrauchsgüter verbessern. Damit wächst auch die Belastung des Mehrwerts und zwingt zu immer weiteren Versuchen ihn anzuheben, um den Prozeß in Gang zu halten. Unter diesen Bedingungen kann es keine Mehrwertsättigung geben, sondern nur einen Mangel an Mehrwert, der sich zuletzt auf dem Markt als Überproduktion und mangelnde Nachfrage darstellen muß. Der Kapitalismus muß akkumulieren, da er anderweitig in der Krise steckt. Jeder Gleichgewichtszustand ist ein Krisenzustand, der in der dynamischen Wirtschaft nur zum Zusammenbruch oder zu neuem Aufstieg führen kann. Jede Gleichgewichtslage widerspricht damit der kapitalistischen Wirklichkeit und kann sich nie auf diese selbst beziehen, sondern höchstens auf eine methodische Annahme, um besondere Eigenarten des dynamischen Wirtschaftsablaufs herauszuschälen. Nichtsdestoweniger beriefen sich Marxisten, im Einklang mit der bürgerlichen Ökonomie, auf angebliche Gleichgewichtstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer Entfaltung. Um nur auf einen einzugehen, sei auf Bucharin verwiesen, demzufolge
„die ganze Konstruktion des ‘Kapital’ [...], die Analyse mit dem festen stabilen Gleichgewichtssystem anfängt. Nach und nach werden kompliziertere Momente eingefügt. Das System gerät ins Schwanken, wird beweglich. Diese Schwankungen verlieren jedoch ihren gesetzmäßigen Charakter nicht, und ungeachtet der schroffen Gleichgewichtsstörungen (Krisen) wird das System als Ganzes erhalten. Durch die Störung des Gleichgewichts tritt ein neues Gleichgewicht, sozusagen höherer Ordnung ein. Erst nachdem man die Gesetze des Gleichgewichts erkannt hat, kann man weiter gehen und die Frage nach den Schwankungen des Systems aufwerfen. Die Krisen selbst werden betrachtet nicht als Aufhebung des Gleichgewichts, sondern als seine Störung; dabei hält Marx es für notwendig, das Gesetz dieser Bewegung aufzufinden und zu begreifen, nicht nur wodurch das Gleichgewicht gestört, sondern auch wodurch es wieder hergestellt wird“[152].
Und dann faßt Bucharin die Gleichgewichtsbetrachtung folgendermaßen zusammen: „Das Wertgesetz ist das Gleichgewichtsgesetz des einfachen Warensystems der Produktion. Das Gesetz der Produktionspreise ist das Gleichgewichtsgesetz des modifizierten Warensystems, des kapitalistischen Systems. Das Gesetz der Marktpreise ist das Gesetz der Schwankungen dieses Systems. Das Gesetz der Konkurrenz ist das Gesetz der beständigen Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts. Das Gesetz der Krisen ist das Gesetz der notwendigen periodischen Gleichgewichtsstörung des Systems und seiner Wiederherstellung.“[153]Auf diesem Postulat des Gleichgewichts waren alle Theorie der Disproportionalität und der Unterkonsumtion aufgebaut und nach ihm die Krisen als Gleichgewichtsstörungen angesehen sowie deren Aufhebungen als Wiederherstellung des notwendigen Gleichgewichts. Die Gleichgewichtsbetrachtungen, deren sich Marx bediente, waren jedoch stets nur vorläufige methodische Annahmen, die sich ausschließlich auf die Ausarbeitung seiner abstrakten Theorie bezogen und keinen Zusammenhang mit den Vorgängen in der Wirklichkeit beanspruchten. Oft waren es reine Tautologien, wie z. B. die Annahme des Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage, die bei der Betrachtung des Gesamtkapitals und der des isolierten Produktionsprozesses sowieso keine Rolle spielt, und manchmal dienten sie als Ausgangspunkt der Darstellung der Entwicklung des Kapitals, der im Rahmen der Entwicklung selbst nicht mehr zu berücksichtigen ist. Für Marx waren es nicht Gleichgewichtstendenzen, die die Wirtschaft beherrschten, sondern das Wertgesetz, welches sich durchsetzt, „wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über den Kopf zusammenpurzelt“[154].
Bei den Krisen handelt es sich damit nicht um eine aufhebbare Gleichgewichtsstörung, sondern um den temporären Zusammenbruch der Kapitalverwertung, die weder vorher noch nachher durch irgendein Gleichgewicht gekennzeichnet ist. Die Tatsache der Krisenüberwindung weist nicht auf die Wiederherstellung eines verlorengegangenen Gleichgewichts hin, sondern darauf, daß es trotz der ununterbrochenen Dynamik des Systems gelang, den Mehrwert für eine weitere Phase der Expansion zu vergrößern. „Für den Umfang der Produktion gibt es keine Gleichgewichtslage, zu der er bei Abweichungen zurückgezogen wird [...]. Der industrielle Zyklus ist kein Schwanken um irgendeine Mittellage, die durch irgendein Bedürfnis gegeben ist.“[155] Selbst wenn Marx an einer Stelle schreibt: „Permanente Krisen gibt es nicht“[156], so ist damit nicht gesagt, wie Bucharin es wahrhaben will, daß „die Störung des Gleichgewichts zu einem neuen Gleichgewicht höherer Ordnung“ führt, sondern nur, daß die auf einem bestimmten Niveau kapitalistischer Produktion unterbrochene Akkumulation auf einem anderen Niveau fortgesetzt werden kann. Daß dies nicht für immer der Fall sein kann, ergibt sich aus der abstrakten Analyse der wertbestimmten Akkumulation. Aber solange das Kapital aktuell auf dem Wege der Krise den Mehrwert den Akkumulationsansprüchen anzupassen vermag, ist jede Krise temporärer Natur.
Aber auch einer von allen Gleichgewichtsbetrachtungen absehenden Krisentheorie ist die Frage vorzulegen, wie der Kapitalismus zusammenbrechen kann, wenn sich jede seiner Krisen überwinden läßt? So richtete z. B. Otto Benedikt an Henryk Grossmann, für den der Zusammenbruch eine schließlich nicht mehr zu überwindende Krise ist, die Frage, „warum sich sein ökonomischer Endpunkte von den überwindbaren Krisen unterscheidet. Warum die letzte Krise nicht mehr überwindbar ist?“[157] Lenins Disproportionalitätstheorie folgend, kommt Benedikt zu dem Schluß, daß, abgesehen von ihrer Gültigkeit oder Ungültigkeit, die Grossmannsche Krisentheorie eben nur eine Krisentheorie und keine Zusammenbruchstheorie ist. Benedikt zufolge handelt es sich bei der Krisenfrage nicht um die Möglichkeit oder Unmöglichkeit dauernder Akkumulation, „sondern um einen wachsenden zwangsläufigen dialektischen Prozeß der Störungen, Widersprüche und Krisen — nicht um eine absolute, rein ökonomische Unmöglichkeit der Akkumulation, sondern um beständige Wechselwirkung zwischen Überwindung der Krise und ihrer Reproduktion auf höherem Niveau bis zur Sprengung des Schemas durch das Proletariat“[158].
Die Antwort, die Grossmann geben konnte, war die, welche Benedikt sich selber gab und die von allen Diskutanten des Krisenproblems in entweder verschiedenen reformistischen oder unterschiedlichen revolutionären Variationen vorgetragen wurden. Letzten Endes gäbe es keinen ‘rein ökonomischen’ oder ‘automatischen’ Zusammenbruch. Wie es bei Tugan-Baranowsky, Hilferding und Otto Bauer ethische und politisch-bewußte soziale Bewegungen sind, die die schlechte in eine bessere Gesellschaftsordnung verwandeln würden, und wie es bei Rosa Luxemburg und Anton Pannekoek die klassenbewußten Arbeiter sind, die, lange vor irgend einem theoretischen Endpunkt kapitalistischer Expansion, dem Kapitalismus ein Ende machen, so bricht auch in Grossmanns Auffassung „kein Wirtschaftssystem, gleich wie angegriffen es auch sein mag, aus sich selbst heraus zusammen; es muß umgestürzt werden. [...] Die „sogenannte historische Notwendigkeit vollzieht sich nicht automatisch, sondern erfordert die bewußte Teilnahme der Arbeiterklasse“[159]. Aber das ist Sache der Klassenkämpfe, nicht der ökonomischen Theorie, die nur die objektiven Bedingungen bewußt machen kann, unter denen sich der Klassenkampf entfaltet und die seine Richtung bestimmen.
Eigenartigerweise bezogen sich die verschiedensten Krisenerklärungen auf die Unvermeidlichkeit des kapitalistischen Niedergangs und seines Zusammenbruchs durch die von ihm hervorgerufenen politischen Bewegungen. Wir haben dies schon am Beispiel Rosa Luxemburgs und Henryk Grossmanns aufgezeigt. Aber auch Disproportionalitätstheoretiker wie Bucharin stellten fest, „daß der Zerfallsprozeß (des Kapitals) mit absoluter Unvermeidlichkeit einsetzt, nachdem die erweiterte negative Reproduktion den gesellschaftlichen Mehrwert verschluckt hat. Die theoretische Untersuchung kann nicht mit absoluter Sicherheit feststellen, wann genau, bei welcher konkreten Zahl, durch die dieser Prozeß charakterisiert ist, die Zerfallsperiode beginnt. Das ist bereits ein questio facti. Die konkrete Sachlage in der Wirtschaft Europas in den Jahren 1918—1920 zeigt deutlich, daß diese Zerfallsperiode bereits eingetreten ist und daß Anzeichen für eine Auferstehung des alten Systems der Produktionsverhältnisse fehlen“[160]. Auch bei einer konsequenten Anwendung der Unterkonsumtionstheorie ließ sich auf den Untergang des Kapitals schließen. So schrieb z. B. Natalie Moszkowska: „Erreicht die Kluft zwischen Erzeugung und Verbrauch eine gewisse Tiefe, das Verbrauchsdefizit ein gewisses Ausmaß, so verwandelt sich die relative Verelendung in eine absolute. Die Produktion wird reduziert, die Arbeiter aufs Pflaster geworfen. Ist der Hochkapitalismus durch relative Verelendung, so der Spätkapitalismus durch absolute gekennzeichnet. Und diese absolute, auf die Dauer nicht tragbare Verelendung bewirkt den Niedergang des Kapitalismus.“[161]
Daß die wirtschaftlichen Zustände während und nach dem Ersten Weltkrieg den Gedanken des kapitalistischen Niedergangs nahelegten, war nicht verwunderlich. Selbst im bürgerlichen Lager erweckten sie nicht nur einen tiefen Pessimismus, sondern zersetzten auch die frühere Überzeugung, daß die Gesellschaft ihrer Krisen Herr werden kann. Zwar haben „die binnenwirtschaftlichen Krisen an Schärfe verloren“, bemerkte Adolf Löwe, „aber wenn man eine internationale Wertvernichtung wie den Weltkrieg als die moderne Krisenform des imperialistischen Zeitalters anzusehen hat, wofür manches spricht, dann dürfte zu übertriebenen Hoffnungen auf eine selbsttätige ‘Statisierung’ kein Anlaß vorliegen“[162]. In dieser Situation hatte es nicht viel Sinn zu behaupten, daß es für das Kapital ‘keine absolut ausweglosen Lagen’ gibt, noch das Gegenteil anzunehmen. Unter den gegebenen Umständen war beides vorstellbar. Da es für den Marxismus nicht die Ökonomie ist, die die gegebenen Klassenverhältnisse bedingt, sondern es die kapitalistischen Produktionsverhältnisse — als Klassenverhältnisse — sind, die unter den Bedingungen der Marktwirtschaft die fetischistische Form ökonomischer Verhältnisse annehmen, ist jede ‘rein-ökonomische’ Betrachtung des Kapitals und seiner Bewegungsgesetze von vornherein unangebracht. Nichtsdestoweniger bemühte sich Marx, obwohl für ihn „die ganze ökonomische Scheiße in den Klassenkampf endet“, in jahrzehntelanger Arbeit die Vergänglichkeit des Kapitalismus auch aufgrund der ihm eigenen ökonomischen Kategorien nachzuweisen.
Die Tendenz der kapitalistischen Akkumulation in Richtung ihrer Aufhebung kann nur an einem die wesentlichen Grundlagen des Systems berücksichtigenden Modell demonstriert werden. In der Marxschen Konstruktion muß das Kapital an seinen Widersprüchen zugrunde gehen, und da die Geschichte selbst nichts macht, sondern von Menschen gemacht wird, ergibt sich ohne weiteres, daß die historische Grenze des Kapitals bei der proletarischen Revolution liegt. Umgekehrt jedoch setzt dieser Umsturz die kapitalistische Zersetzung voraus. Schafft sich das Kapital durch seine Akkumulation seine eigenen Totengräber, so liegt schon im Prozeß der Akkumulation sein schließliches Ende, und man kann zu Recht von der Akkumulations- als Zusammenbruchstheorie sprechen, ohne sich damit einer ‘rein-ökonomischen’ oder ‘automatischen’ Zusammenbruchstheorie zu verschreiben.
Die Einschätzung der großen Krise zwischen den zwei Weltkriegen als mögliche Endkrise des Kapitals, hieß den Wunsch zum Vater des Gedankens zu machen. Aber das stellte sich erst nachträglich heraus. Im Prinzip kann im entwickelten Kapitalismus jede große Krise zur Endkrise werden. Wird sie es nicht, so bleibt sie die Voraussetzung weiterer Akkumulation. Damit ist jedoch nicht gesagt, daß es keinen ‘permanenten’ Krisenzustand geben kann, wenn der Begriff auch nicht als Ewigkeit aufgefaßt werden muß, sondern nur im Gegensatz zur temporären, schnell vorübergehenden Krise. In diesem Sinne ist die ‘permanente’ Krise genau so vorstellbar und im Marxschen System verankert, wie die überwindbare Krise. Wenn Marx auch behauptete, es gäbe keine permanenten Krisen, so bezog er sich dabei doch nur auf den Konjunkturzyklus des vergangenen Jahrhunderts und auf Adam Smiths Akkumulationstheorie, in der die Profitrate dauernd fallen muß. Daß sich unter den jetzigen Bedingungen des Weltkapitals ein andauernder ökonomisch-politischer Krisenzustand herausbilden kann, ist genau so möglich wie die Annahme, daß es dem Kapital auch weiterhin gelingen wird, auf dem Krisenwege zu neuer Expansion vorzustoßen.
[77] Eine kurze aber ausreichende empirische Darstellung der Krisen seit 1816 bieten Maurice Flamant und Jeanne Singer-Kerel, Modern Economic Crises and Recessions, Paris 1968, New York 1970.
[78] Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Reinbek 1969, S. 99
[79] Ebd., S. 104.
[80] Ebd., S. 110.
[81] Protokoll des Hannoverschen Parteitags (zitiert nach L. Woltmann, Die wirtschaftlichen und politischen Grundlagen des Klassenkampfes, in: Sozialistische Monatshefte, Februar 1901, S. 128).
[82] Die Neue Zeit, 1898-99,1. Bd., S. 358.
[83] Studien zur Theorie und Geschichte der Handelskrisen, 1901.
[84] Ebd., zitiert nach Texte-Anhang zum Kapital, Bd. II (Ullstein-Ausgabe), S. 649.
[85] Ebd., S. 651.
[86] Ebd., S. 652.
[87] Ebd., S. 657.
[88] Ebd., S. 642.
[89] Ebd., S. 669.
[90] Ebd., S. 671.
[91] C. Schmidt, ‘Zur Theorie der Handelskrisen und der Überproduktion', In: Sozialistische Monatshefte, September 1901, S. 675.
[92] R. Hilferding, Das Finanzkapital, 1909. Zitiert nach der Neuauflage, Frankfurt 1968, S. 330.
[93] Ebd.
[94] Ebd., S. 347.
[95] Ebd., S. 411.
[96] Ebd., S. 501.
[97] Ebd., S. 503
[98] Ebd.
[99] Die Akkumulation des Kapitals, 1912.
[100] Briefe an Leon Jogisches, 1967, S. 332.
[101] Die Akkumulation des Kapitals, a.a.O., S. 299.
[102] Ebd., S. 315.
[103] Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, 1921, S. 17.
[104] Die Akkumulation des Kapitals, a.a.O., S. 338.
[105] Ebd., S. 339.
[106] Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, a.a.O., S. 20.
[107] ‘Herm Tugan-Baranowskys Marx-Kritik’, in: Die Neue Zeit, Bd. 1, 1909.
[108] Bremer Bürger Zeitung, 29./30. Januar 1913.
[109] Imperialismus und die Akkumulation des Kapitals, 1924.
[110] In seinem Beitrag über Marx für die russische Enzyklopädie Granats schrieb Lenin: „Die Marxsche Theorie der Kapitalakkumulation wird in einem neuen Buch von R. Luxemburg behandelt. Analysen ihrer irrtümlichen Interpretation von Marx' Theorie finden sich in O. Bauers Artikel in der ‘Neuen Zeit’, 1913, und in den Besprechungen Ecksteins im Vorwärts“ und Pannekoeks in der ‘Bremer Bürgerzeitung’.“
[111] Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, a.a.O., S. 38.
[112] R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, a.a.O., S. 90.
[113] Ebd., S. 91 f.
[114] Ebd.
[115] O. Bauer, ‘Die Akkumulation des Kapitals' in: Die Neue Zeit, 1912 bis 1913, Bd. 1. Zitiert nach: Texte-Anhang zum Kapital, Bd. II (Ullstein-Ausgabe) S. 774.
[116] Ebd.
[117] Ebd., S. 748.
[118] Ebd., S. 786.
[119] Ebd., S. 787.
[120] Ebd.
[121] Ebd., S. 790.
[122] Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, a.a.O., S. 37
[123] Ebd., S. 26.
[124] Ebd., S. 107.
[125] Ebd.
[126] MEW 24, S. 454.
[127] H. Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, 1929, S. 101.
[128] Ebd., S. 104.
[129] Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben, a.a.O., S. 62.
[130] Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems a.a.O., S. 105.
[131] ‘Die Änderung des ursprünglichen Auftauplans des Marxschen „Kapital und ihre Ursachen’. Zitiert nach Aufsätze über die Krisentheorie, 1971, S. 32.
[132] Ebd., S. 48.
[133] Ebd., S. 17.
[134] Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, 1953, S. 345.
[135] Ebd., S. 347-8.
[136] Ebd., S. 346.
[137] Ebd., S. 348.
[138] Ebd.
[139] Ebd., S. 351.
[140] Ebd.
[141] Ebd., S. 353.
[142] Karl Marx, Das Kapital, Bd. II, MEW 24, S. 393.
[143] Ebd., S. 491.
[144] Ebd., S. 463.
[145] Ebd., S. 465.
[146] Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des Kapitalistischen Systems, a.a.O., S. 246.
[147] MEW 24, S. 466.
[148] Ebd., S. 347.
[149] Ebd.
[150] MEW 24, S. 496.
[151] Ebd.
[152] N. Bucharin, Ökonomie der Transformationsperiode, 1922, S. 158 f
[153] Ebd.
[154] MEW 23, S. 89.
[155] A. Pannekoek „Theoretisches zur Ursache der Krise“, in: Neue Zeit, 1913, Nr. 22, S. 783, 792.
[156] MEW 26. 2, S. 497.
[157] O. Benedikt, ‘Die Akkumulation des Kapitals bei wachsender organischer Zusammensetzung’ in: Unter dem Banner des Marxismus, Heft 6, Dezember 1929, S. 887.
[158] Ebd., S. 911.
[159] Grossmann, Aufsätze zur Krisentheorie, a.a.O., S. 210—211.
[160] Ökonomie der Transformationsperiode, a.a.O., S. 53.
[161] Zur Kritik moderner Krisentheorien, 1935. S. 106.
[162] Die Wirtschaftswissenschaft nach dem Kriege, Bd. II, S. 371.
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Zuletzt aktualisiert am 29.5.2009